Die „Weltpreſſe“, einſt das Blatt des liberalen Bürgertums, jetzt das Hauptorgan der chriſtlichſozialen Partei, erhielt eine Zuſchrift von dem Beſitzer des Hauſes Billrothſtraße 19, in der in ſcharfer und logiſcher Weiſe gegen den Fortbeſtand des Mieterſchutzgeſetzes Stellung genommen wurde. „Das Mieterſchutzgeſetz“, hieß es in der Zuſchrift, „hatte Zweck und Sinn, als Wohnungsnot herrſchte und die Bevölkerung davor geſchützt werden mußte, durch die Habgier einzelner Hausbeſitzer obdachlos gemacht zu werden. Heute gibt es keinen Mangel an Wohnungen mehr; dank dem ſegensreichen Antijudengeſetz unſeres hochverehrten Bundeskanzlers ſind wieder normale Verhältniſſe eingetreten, es iſt der notwendige Ueberſchuß an Wohnungen vorhanden, und ſo erübrigt ſich dieſes Mieterſchutzgeſetz, das nur mehr einen brutalen Eingriff in die Rechte der Hausbeſitzer bildet, ja ſogar einen Verfaſſungsbruch. Sicher werden nach Aufhebung des Geſetzes Steigerungen der Mietzinſe eintreten, was nur gerechtfertigt wäre und ſchließlich der Allgemeinheit zugute käme, denn von den höheren Mietzinſen ſind höhere Steuern zu zahlen und mit höheren Mietpreiſen ſteigt der Wert der Häuſer. Es iſt charakteriſtiſch, daß es ein in meinem Hauſe wohnender, vornehmer franzöſiſcher Künſtler iſt, der mir ſein Entſetzen über dieſes Mieterſchutzgeſetz ausdrückte. Er erklärte, daß man ſich in franzöſiſchen Kapitaliſtenkreiſen über dieſes Geſetz luſtig mache, das unter anderem auch verhindert, daß Ausländer ihr Geld in Wiener Häuſern anlegen. Alſo fort mit dem Mieterſchutzgeſetz! Die vornehme chriſtliche Geſinnung der Wiener Hausbeſitzer, vor allem aber das Geſetz von Angebot und Nachfrage werden automatiſch ein allzu ſtarkes Hinaufſchnellen der Mietpreiſe verhindern.“
Die Zuſchrift erſchien an auffallender Stelle in der „Weltpreſſe“ mit einem redaktionellen Zuſatz, in dem ſehr vorſichtig die Anſicht des geehrten Einſenders gebilligt, ihr aber gleichzeitig auch ſanft widerſprochen wurde. Denn man wollte weder die Hausbeſitzer noch die Mieter vor den Kopf ſtoßen.
Von da an begann ein lebhafter öffentlicher Gedankenaustauſch, es hagelte von Zuſchriften und immer ſtürmiſcher wurde der Ruf der Hausbeſitzer nach Aufhebung des Mieterſchutzgeſetzes, Einräumung des Kündigungsrechtes und der individuellen Mietſteigerung. Herr Windholz, der Beſitzer des Hauſes in der Billrothſtraße, war plötzlich eine gewichtige Perſönlichkeit geworden, der Verein der Hausbeſitzer wählte ihn zum Vorſtand und täglich kam er zu ſeinem vornehmen franzöſiſchen Mieter, Herrn Dufresne, um ſich bei ihm Rat zu holen. Herr Strakoſch, alias Dufresne, aber hetzte munter weiter und ſagte eines Tages mit Emphaſe:
„Wenn ſich die Hausbeſitzer noch weiter dieſe Versklavung gefallen laſſen, ſo halte ich ſie alle zuſammen für alberne Waſchlappen und ich werde eine Stadt verlaſſen, in der ſolche Zuſtände möglich ſind.“
„Ja, was ſollen wir nur tun,“ meinte Herr Windholz kleinmütig, „wenn die Regierung abſolut unſeren Wünſchen nicht entſprechen will?“
„Was Sie tun ſollen? Ich werde es Ihnen ſagen! Heute noch trommeln Sie Ihren Verein zuſammen und faſſen den Beſchluß, der Regierung ein dreitägiges Ultimatum zu ſtellen. Stellt ſie bis dahin die Freizügigkeit im Wohnungsverkehr nicht wieder her, ſo wird von den Hausbeſitzern geſtreikt! Sie führen keine Steuern ab, unterlaſſen die Hausbeleuchtung und Reinigung, verweigern die Bezahlung der Hypothekarzinſen, kurzum, Sie ſabotieren den Staat!“
Herr Windholz war begeiſtert, umarmte den Franzoſen und verſicherte ihm, daß er keinesfalls im Zinſe geſteigert werden würde.
Es geſchah ganz nach dem Programm des Herrn Dufresne. Der Verein der Wiener Hausbeſitzer beſchloß einſtimmig das Ultimatum und die Regierung fiel um. Vergebens verſicherte Doktor Schwertfeger, daß die Aufhebung des Mieterſchutzgeſetzes die unheilvollſten Folgen haben werde, er wurde von ſeinen Miniſterkollegen überſtimmt. Wie die „Arbeiter-Zeitung“ boshaft behauptete, in erſter Linie deshalb, weil der Finanzminiſter, der Unterrichtsminiſter und der Handelsminiſter mehrfache Hausbeſitzer waren.
Das Mieterſchutzgeſetz, das den Hausbeſitzern ſowohl die Kündigung der Mieter als die willkürliche Erhöhung der Mietpreiſe unterſagte, fiel alſo, und vierundzwanzig Stunden ſpäter fand eine ſtürmiſche Generalverſammlung der Hausbeſitzer ſtatt, in der beſchloſſen wurde, die derzeitigen Mietpreiſe der Teuerung halbwegs entſprechend auf das Tauſendfache zu erhöhen. Eine Art Rütliſchwur verpflichtete zur unbedingten Einhaltung dieſes Beſchluſſes.
Die Bevölkerung, die ja nur zum geringſten Teile aus Hausbeſitzern beſteht, geriet in Tobſucht. Arbeiterfamilien mußten nunmehr eine halbe Million im Jahr für ihre Wohnung bezahlen, eine kleine Mittelſtandswohnung koſtete nicht unter einer ganzen Million! Die Organiſation der Hausfrauen, die Gewerkſchaften, der Verband der Feſtangeſtellten, die Kriegsinvaliden und Kriegswitwen, der Bund der Gewerbetreibenden, ſie alle veranſtalteten Maſſendemonſtrationen, und durch volle acht Tage wurde in Wien und den Provinzſtädten überhaupt nicht gearbeitet, ſondern vom Morgen bis in die Nacht demonſtriert. Die Zahl der eingeſchlagenen Fenſterſcheiben wuchs erſchreckend, und zum erſtenmal ſeit einer geraumen Anzahl von Jahren hörte man auf der Straße den Ruf:
„Nieder mit der Regierung!“
Die chriſtlichen Blätter ebenſo wie die deutſchnationalen verloren maſſenhaft Leſer, während der Weizen der „Arbeiter-Zeitung“ wieder zu blühen begann.