Lotte Spineder an Leo Strakoſch, Paris, Rue Foch 22.
Mein Lieber, nun iſt genau ein Jahr vergangen, ſeitdem ich Dir auf dem Weſtbahnhofe mit meinem von Tränen ganz durchnäßten Taſchentuch nachgewinkt habe. Und das erſte Weihnachtsfeſt, das ich als Deine Braut ohne Dich verbringen mußte, liegt hinter mir. Es war wieder recht traurig, und Papa meinte ſehr beſorgt, daß ich noch ganz krank und elend werden würde, wenn ich mich meinem Schmerz ſo hingebe. Ich bin jetzt nämlich immer ſehr blaß, ſchlafe ſchlecht, habe viel Kopfſchmerz und werde gleich ſo müde. Unſer Hausarzt meint, es ſei Bleichſucht und hat mir Guberquelle verordnet, aber ich weiß, daß es nur meine Sehnſucht nach Dir iſt, die mich ſchwach und krank macht.
Unſagbare Freude hat mir Deine wundervolle Mappe bereitet, die gerade am Weihnachtsabend eingetroffen iſt. Du biſt jetzt, wie man aus dieſen herrlichen Stichen ſieht, ein ganz großer Künſtler; Papa, der doch ſo viel davon verſteht, meint, daß Du ſchon zu den erſten Meiſtern gehörſt und hat furchtbar auf unſere Regierung geſchimpft, die ſolche Männer, ſtatt ſie zu ehren, aus dem Lande jagt. Dein Brief, in dem Du von Deinen großen Erfolgen berichteſt, hat mich natürlich ſehr beglückt, und Papa hat umgerechnet, daß die dreißigtauſend Francs, die Du für dieſe Mappe bekommen haſt, viele Millionen öſterreichiſcher Kronen ſind. Die Krone iſt nämlich wieder rieſig gefallen. Nur als ich las, daß Du ſo viel in Geſellſchaft verkehrſt und dich der Einladungen in die feinſten Häuſer kaum erwehren kannſt, bekam ich ordentlich Herzklopfen. Wirſt Du bei den ſchönen Pariſerinnen nicht Deine arme, kleine Lotte ganz vergeſſen? O Leo, was ſoll nur aus uns werden, wann werde ich wieder meinen Kopf an Deine Schulter legen können? Weißt Du, Leo, neulich flog ein großer Aeroplan über den Kahlenberg weſtwärts, und da habe ich gedacht, daß ich, wenn ich die Möglichkeit dazu hätte, gleich zu Dir nach Paris fliegen würde, ob meine Eltern es nun erlauben oder nicht. Ueberhaupt, wenn ich wüßte, wie man, ohne daß es jemand erfährt, einen Paß bekommt, würde ich mir von Dir Geld ſchicken laſſen und heimlich zu Dir kommen. Ich weiß, daß ich Papa und die Mutter damit furchtbar kränken würde, aber meine Sehnſucht nach Dir iſt ſo groß, daß ich ganz ſchlecht und grauſam geworden bin.
Du bitteſt mich, ich möge Dir in großen Zügen die Entwicklung der Dinge ſchildern, ſeitdem die Israeliten fort ſind, da Du aus den farbloſen und langweiligen Wiener Zeitungen kein richtiges Bild bekommen kannſt. Nun, ich will verſuchen, Dir alles zu erzählen, was ich ſelbſt ſehe oder von den anderen weiß; aber wenn es dumm wird, ſo darfſt Du mich nicht auslachen.
Alſo, von dem großen Jubel und den Feſtzügen am Silveſtertage, als die letzten Israeliten Wien und Oeſterreich verlaſſen hatten, wirſt Du ja ohnedies alles aus den Zeitungen erſehen haben. Nun, den ganzen Januar hielt dieſe Stimmung an, die Leute machten alle fröhliche Geſichter, ein Feſtkonzert folgte dem anderen und immer wieder zogen die Maſſen vor das Rathaus oder das Kanzlerpalais, um dem Bürgermeiſter Laberl und dem Doktor Schwertfeger zu huldigen. Mir ſelbſt iſt es aufgefallen, daß die Wiener in der Elektriſchen viel freundlicher und netter waren als vorher, und der Hofrat Tumpel, der bei uns verkehrt, Du weißt, der mit dem blonden Vollbart, den Du nie leiden mochteſt, ſagte triumphierend zu uns:
„Sehen Sie, das Wiener ſonnige Gemüt, das ſo lange von all dem Fremden überſchattet worden war, bricht ſich wieder Bahn.“
„Ja, Schnecken,“ brummte der Vater, „das iſt nur, weil den Wienern das Ganze eine Rieſenhetz iſt und weil die Lebensmittel billiger und wieder Wohnungen zu haben ſind.“ Tumpel meinte aber: „Oho, lieber Freund, das iſt es nicht allein, ſondern die indogermaniſche Naivität unſeres Volkes wagt ſich wieder heraus!“
Die Lebensmittel waren wirklich viel billiger geworden, weil unſere Krone damals ſehr gut, nämlich auf 0·02 Centime ſtand. Ich erinnere mich, daß Mama im Winter einmal ganz froh nach Hauſe kam und ſagte, man könne jetzt wieder exiſtieren, das Schweineſchmalz koſtet nur mehr zehntauſend Kronen per Kilogramm. Und das mit den Wohnungen hat den Wienern wirklich ſo viel Freude gemacht. Stelle Dir nur vor: Plötzlich hingen faſt an allen Haustoren Zettel, auf denen Wohnungen und möblierte Zimmer angeboten wurden. Die Leute gingen rein zum Zeitvertreib von Haus zu Haus, um die Wohnungen zu beſichtigen. Und den ganzen Tag ſah man Möbelwagen durch die Straßen fahren.
Das dauerte ſo bis zum Faſching, aber dann war die gute Laune weg. Plötzlich begann große Arbeitsloſigkeit zu herrſchen. Die ganze Konfektionsinduſtrie ſtand ſtill, und jeden Augenblick hörte man, daß dieſes oder jenes Geſchäft abgekracht ſei. Die Blätter ſchrieben, man müſſe die ehrlichen chriſtlichen Kaufleute, die die alten jüdiſchen Geſchäfte übernommen hatten und ihrer Aufgabe noch nicht gewachſen ſeien, von Staats wegen unterſtützen. Die Arbeitsloſen machten aber großen Krawall, zogen über den Ring, demolierten ein paar Geſchäfte, ſchlugen Fenſterſcheiben ein und ſetzten es durch, daß ihnen der Staat zehntauſend Kronen täglich Arbeitsloſenunterſtützung zahlte. Da begann die Krone zu fallen, weil, wie Papa mir erklärte, der Banknotenumlauf enorm ſtieg. Auf ja und nein ſtand die Krone wieder auf 0·01 Centime und die Lebensmittel wurden wieder ſo teuer und noch teurer als früher. Heute erzählte Mama ganz aufgeregt, daß die Butter ſchon dreißigtauſend Kronen koſtet. Seit dem Frühjahr ſind die Leute wieder ſehr mürriſch und in der Elektriſchen wird viel geſchimpft. Hauptſächlich auf die Schieber, die alles verteuern, aber man ſpricht nicht von jüdiſchen Schiebern, ſondern nur ſo im allgemeinen.
Du fragſt, ob ich viel ins Theater gehe? Ach nein, lieber Leo, wenn man die Oper ausnimmt, ſo iſt in den Theatern gar nichts mehr los. In den Schauſpielhäuſern wird ununterbrochen Ganghofer und Anzengruber geſpielt, weil man von Israeliten nichts aufführen darf und die Klaſſiker ja doch nicht ziehen. Eine Zeitlang hat man auch viel von Shaw gegeben; ſeitdem er aber in einer engliſchen Zeitung erklärt hat, Wien ſei ein internationales Dummheitsmuſeum geworden, iſt er verpönt. Hauptſächlich aber deshalb, weil er auch geſagt hat, ein geſcheiter Jude ſei ihm lieber als zehn dumme Chriſten. Die Operettentheater ſind alle pleite. (Erinnerſt Du Dich, wie ich lachen mußte, als ich von Dir zum erſtenmal das Wort pleite hörte?) Es hat ſich nämlich herausgeſtellt, daß ſämtliche alte und neue Operetten von Juden entweder komponiert oder geſchrieben ſind, meiſtens beides. Auch fehlt es an Kräften, denn faſt alle Tenore mußten ja auswandern. Wohl ſind raſch ein paar ganz ariſche Operetten herausgebracht worden, aber das Publikum hat geziſcht, weil es ein furchtbarer Schmarren war. Der Hofrat Tumpel meinte, daß ſich die chriſtliche Kunſt eben nur für ſeriöſe Sachen eigne, nicht für frivoles Zeug. Worauf Papa ſchmunzelte und ſagte, man würde bald einſehen, daß ſich die Juden und Chriſten hierzulande ſehr gut ergänzt haben.
Neulich iſt mir mittags am Graben aufgefallen, daß man heuer viel weniger elegante Herren und Damen ſieht als früher. Es wird eben gar kein Modeluxus mehr getrieben. Allerdings muß ich ſagen, daß mir die widerlichen jüdiſchen Schiebergeſichter, über die Du Dich auch immer ſo geärgert haſt, gar nicht fehlen. Dafür machen ſich auf dem Korſo ſehr viele junge Lackeln, die wie Bauern ausſehen und unmöglich angezogen ſind, mit mächtigen Uhrketten und Diamantringen an den dicken Fingern, breit. Ueberhaupt ſcheint unſer ganzer Fremdenverkehr nur mehr aus Bauern zu beſtehen. Der Beſitzer vom Hotel Imperial hat neulich in einer Zeitung geklagt, daß er jetzt Gäſte habe, die ſich mit den genagelten Schuhen ins Bett legen und ihre Jägerwäſche in der Badewanne waſchen. Wenn Du durch die Kärntnerſtraße gehen würdeſt, ſo würdeſt Du ſchauen, wie wenig elegant die Geſchäfte jetzt ſind! Nun muß ich aber ſchließen, weil es ſchon ein Uhr nachts iſt und ich auch nichts Beſonderes mehr weiß. Lebe wohl, mein Geliebter, und denke was aus, damit wir bald wieder beiſammen ſind, weil ich ſonſt gar nicht mehr leben mag. Es küßt Dich vieltauſendmal Deine ganz verzagte
Lotte.“