Öſterreich, 1922.
Der Autor, welcher ſelber gebürtiger Jude war, verſuchte mit dieſer Komödie gegen den Antiſemitismus ſeiner Zeit anzugehen.
Dies iſt eine gekürzte Faſſung des Buches.
Von der Univerſität bis zur Bellaria umlagerte das ſchöne, ruhige und vornehme Parlamentsgebäude eine einzige Menſchenmauer. Ganz Wien ſchien ſich an dieſem Junitag um die zehnte Vormittagsſtunde verſammelt zu haben, um dort zu ſein, wo ſich ein hiſtoriſches Ereignis von unabſehbarer Tragweite abſpielen ſollte. Bürger und Arbeiter, Damen und Frauen aus dem Volke, halbwüchſige Burſchen und Greiſe, junge Mädchen, kleine Kinder, Kranke in Rollwagen, alles quoll durcheinander, ſchrie, politiſierte und ſchwitzte. Und immer wieder fand ſich ein Begeiſterter, der plötzlich an den Kreis um ihn herum eine Anſprache hielt und immer wieder brauſte der Ruf auf:
„Hinaus mit den Juden!“
Sonſt pflegten bei ähnlichen Demonſtrationen hier und dort Leute mit gebogener Naſe oder beſonders ſchwarzem Haar weidlich verprügelt zu werden; diesmal kam es zu keinem ſolchen Zwiſchenfall, denn Jüdiſches war weit und breit nicht zu ſehen, und zudem hatten die Kaffeehäuſer und Bankgeſchäfte am Franzens- und Schottenring, in weiſer Erkenntnis aller Möglichkeiten, ihre Pforten geſchloſſen und die Rollbalken herabgezogen.
Plötzlich zerriß ein einziges Aufbrüllen die Luft.
„Hoch Doktor Karl Schwertfeger, hoch, hoch, hoch! Hoch der Befreier Oeſterreichs!“
Ein offenes Auto fuhr langſam mitten durch die Menſchenmaſſen hindurch, die zurückdrängten und Bahn machten. Im Auto ſaß ein großer älterer Herr, deſſen mächtiger Schädel mit willkürlichen Büſcheln weißer Haare bedeckt war.
Er nahm den grauen, weichen Schlapphut ab, nickte der jubelnden Menſchenmenge zu und verzerrte das Geſicht zu einem Lächeln. Aber es war ein ſaures Lächeln, das von den zwei Falten, die von den Mundwinkeln abwärts liefen, gewiſſermaßen dementiert wurde. Und die tiefliegenden grauen Augen blickten eher finſter als vergnügt drein.
Lachende Mädchen drängten ſich vor, ſchwangen ſich auf das Trittbrett, die eine warf dem Gefeierten Blumen zu, eine andere war noch dreiſter, ſchlang ihren Arm um ſeinen Hals und küßte den Doktor Schwertfeger auf die Wange. Als ob der Chauffeur ahnte, wie ſeinem Herrn bei ſolchen Gefühlsausbrüchen zumute wurde, ließ er das Auto vorwärts ſpringen, ſo daß die Mädchen mit jähem Ruck nach rückwärts fielen. Sie taten ſich dabei nicht wehe, denn die Menſchenmauer fing ſie auf.
Im Parlamentsgebäude herrſchte nicht die laute Begeiſterung der Straße, ſondern fieberhafte Erregung, zu ſtark, um Ausdruck nach außen zu finden. Die Abgeordneten, die ſich bis zum letzten Mann eingefunden hatten, die Miniſter, die Saaldiener gingen ſchweigend und unruhig umher, ſogar die überfüllten Galerien verhielten ſich lautlos.
In der Journaliſtenloge, in der es ſonſt am ungenierteſten zuzugehen pflegte, wurde nur im Flüſterton geſprochen. Und eine bemerkenswerte räumliche Spaltung hatte ſich eingeſtellt. Die kompakte jüdiſche Majorität der Berichterſtatter drängte ihre Stühle zuſammen, die Referenten der chriſtlichſozialen und deutſchnationalen Blätter bildeten ihrerſeits eine Gruppe. Sonſt miſchten ſich die jüdiſchen und chriſtlichen Journaliſten fröhlich durcheinander, im Berufskreis war man nicht Parteigänger, ſondern nur der Herr Kollege, und da die jüdiſchen Journaliſten gewöhnlich mehr Neuigkeiten wußten und ſie beſſer verwerten konnten, ſtanden die antiſemitiſchen zu ihnen in einem ſtarken Abhängigkeitsverhältnis. Heute aber flogen hämiſche Blicke von der chriſtlichen Ecke in die jüdiſche, und als der kleine Karpeles von der „Weltpoſt“, der eben erſt eingetreten war, den Doktor Wieſel von der „Wehr“ mit „Servus Herr Kollege!“ begrüßte, wandte ihm dieſer ohne Erwiderung den Rücken.
Es drängten immer noch Journaliſten herein, darunter Vertreter ausländiſcher Zeitungen, die heute in Wien angekommen waren.
„Nicht rühren kann man ſich“, brummte der Herglotz vom chriſtlichen „Tag“, worauf ihm ein Kollege mit kleinem, bärtigem Kopf und mächtigem Bierbauch erwiderte:
„Na, ein paar Tage noch und wir werden hier Platz genug haben!“
Hüſteln, Lächeln, Lachen auf der einen Seite, gegenſeitige bedeutungsvolle Blicke auf der anderen.
Ein junger blonder Herr mit roten Backen machte nach links und rechts eine leichte Verbeugung.
„Holborn vom ‚London Telegraph‘! Bin eben vor einer Stunde angekommen und kenne mich wahrhaftig nicht aus. Vorgeſtern kam ich aus Sidney nach halbjähriger Abweſenheit in London an, eine Stunde ſpäter ſaß ich wieder im Zug, um nach Wien zu fahren. Unſer Managing-Editor, das Kamel, hat mir nichts geſagt, als: In Wien wird es jetzt luſtig, da ſchmeißen ſie die Juden hinaus! Fahren Sie hin und berichten Sie, daß das Kabel reißt! Alſo bitte, wäre ſehr nett von Ihnen, wenn Sie mich raſch inſtruieren wollten.“
Das alles war in ſo drolligem Engliſch-deutſch herausgekommen, daß ſich die Spannung ein wenig löſte. Minkus vom „Tagesboten“ bemächtigte ſich, heftig geſtikulierend, des engliſchen Kollegen und begann mit den Worten:
„Alſo, ich werde Ihnen alles genau erklären —.“ Aber Doktor Wieſel ließ ihn nicht weiterſprechen. „Sie verzeihen, aber dieſe Aufklärung wird beſſer von uns ausgehen.“
Tonfall drohend, das „uns“ bedeutungsvoll unterſtrichen.
Und ſchon befand ſich Holborn in der chriſtlichen Ecke, wo Wieſel kurz und ſachlich erklärte:
„Was geſchehen ſoll, werden Sie ſofort aus dem Munde unſeres Bundeskanzlers Dr. Karl Schwertfeger erfahren, der das Geſetz zur Ausweiſung aller Nichtarier aus Oeſterreich eingehend begründen wird. Die Vorgeſchichte iſt, kurz geſagt, folgende: Als die öſterreichiſche Krone auf den Wert eines fünfzigſtel Centimes herabgeſunken war, begann das Chaos einzutreten. Ein Miniſterium nach dem anderen mußte gehen, es entſtanden Unruhen, täglich kam es zu Plünderungen der Geſchäfte, zu Pogroms, die Wut und Verzweiflung der Bevölkerung kannte keine Grenzen mehr und ſchließlich mußte zu Neuwahlen geſchritten werden. Die Sozialdemokraten traten ohne neues Programm in den Wahlkampf, die Chriſtlichſozialen hingegen ſcharten ſich um ihren geiſtvollen Führer Dr. Karl Schwertfeger, deſſen Loſungswort lautete: Hinaus mit den Juden aus Oeſterreich! Nun, vielleicht iſt es Ihnen bekannt,“ — Holborn nickte, obwohl er keine Ahnung hatte — „daß die Wahlen den völligen Zuſammenbruch der Sozialdemokraten, Kommuniſten und Liberalen brachten. Selbſt die Arbeitermaſſen wählten unter der Parole „Hinaus mit den Juden!“, und die ſozialiſtiſche Partei, vordem relativ die ſtärkſte, konnte knapp elf Mandate retten. Die Großdeutſchen aber, die gut abſchnitten, hatten ſich ebenfalls auf das „Hinaus mit den Juden!“ eingeſtellt.
Nun, der Genialität des Doktor Schwertfeger, ſeiner unerſchrockenen Energie, ſeiner kühnen Impetuoſität und Beredſamkeit gelang es, dem Völkerbund, der vor die Alternative Anſchluß Oeſterreichs an Deutſchland oder Gewährenlaſſen geſtellt war, die Zuſtimmung zur großen Judenausweiſung abzuringen. Und jetzt wird Schwertfeger ſelbſt das Geſetz einbringen, das ſicher angenommen werden wird. Sie ſind alſo Zeuge eines hiſtoriſchen —.“
„Pſt!“-Rufe wurden laut. Wieſel konnte nicht weiterreden, denn der Präſident des Hauſes, ein Tiroler mit rötlichem Vollbart, ſchwang die Glocke und erteilte dem Bundeskanzler das Wort.
Grabesſtille, in die das Surren der Ventilatoren unheimlich klang. Das leiſeſte Räuſpern, das Raſcheln der Papiere in der Journaliſtenloge wurde gehört und empfunden.
Uebergroß, trotz des vorgebeugten Schädels und gewölbten Rückens, ſtand der Bundeskanzler auf der Rednertribüne, die Hände, zu Fäuſten geballt, ſtützten ſich auf das Pult, unter den grauen, buſchigen Brauen glitzerten die ſcharfen Augen über den Saal hinweg. So ſtand er bewegungslos, bis er plötzlich den Schädel ins Genick warf und mit ſeiner mächtigen Stimme, die ſich in den turbulenteſten Verſammlungen immer hatte Gehör erzwingen können, begann.
„Verehrte Damen und Herren! Ich lege Ihnen jenes Geſetz und jene Aenderungen unſerer Bundesverfaſſung vor, die gemeinſam nichts weniger bezwecken, als die Ausweiſung der nichtariſchen, deutlicher geſagt, der jüdiſchen Bevölkerung aus Oeſterreich. Bevor ich das tue, möchte ich aber einige rein perſönliche Bemerkungen machen.
Seit fünf Jahren bin ich der Führer der chriſtlichſozialen Partei, ſeit einem Jahr durch den Willen der überwiegenden Mehrheit dieſes Hauſes Bundeskanzler. Und durch dieſe fünf Jahre hindurch haben mich die ſogenannten liberalen Blätter wie die ſozialdemokratiſchen, mit einem Wort alle von Juden geſchriebenen Zeitungen, als eine Art Popanz dargeſtellt, als einen wütenden Judenfeind, als einen fanatiſchen Haſſer des Judentums und der Juden. Nun, gerade heute, wo die Macht dieſer Preſſe ihrem unwiderruflichen Ende entgegengeht, drängt es mich, zu erklären, daß das alles nicht ſo iſt. Ja, ich habe den Mut, heute von dieſer Tribüne aus zu ſagen, daß ich viel eher Judenfreund als Judenfeind bin!“
Ein Murmeln und Surren ging durch den Saal, als flöge eine Schar Vögel aus dem Felde auf.
„Ja, meine Damen und Herren, ich bin ein Schätzer der Juden, ich habe, als ich noch nicht den heißen Boden der Politik betreten, jüdiſche Freunde gehabt, ich ſaß einſt in den Hörſälen unſerer Alma mater zu Füßen jüdiſcher Lehrer, die ich verehrte und noch immer verehre, ich bin jederzeit bereit, die autochthonen jüdiſchen Tugenden, ihre außerordentliche Intelligenz, ihr Streben nach aufwärts, ihren vorbildlichen Familienſinn, ihre Internationalität, ihre Fähigkeit, ſich jedem Milieu anzupaſſen, anzuerkennen, ja zu bewundern!“
„Hört! Hört!“-Rufe wurden laut, ſenſationelle Spannung bemächtigte ſich der Abgeordneten und des Auditoriums, und der engliſche Journaliſt Holborn, der nicht alles verſtanden hatte, fragte intereſſiert den Doktor Wieſel, ob der Mann da unten der Vertreter der Judenſchaft ſei.
Der Kanzler fuhr fort.
„Trotzdem, ja gerade deshalb wuchs im Laufe der Jahre in mir immer mehr und ſtärker die Ueberzeugung, daß wir Nichtjuden nicht länger mit, unter und neben den Juden leben können, daß es entweder Biegen oder Brechen heißt, daß wir entweder uns, unſere chriſtliche Art, unſer Weſen und Sein oder aber die Juden aufgeben müſſen. Verehrtes Haus! Die Sache iſt einfach die, daß wir öſterreichiſche Arier den Juden nicht gewachſen ſind, daß wir von einer kleinen Minderheit beherrſcht, unterdrückt, vergewaltigt werden, weil eben dieſe Minderheit Eigenſchaften beſitzt, die uns fehlen! Die Romanen, die Angelſachſen, der Yankee, ja ſogar der Norddeutſche wie der Schwabe — ſie alle können die Juden verdauen, weil ſie an Agilität, Zähigkeit, Geſchäftsſinn und Energie den Juden gleichen, oft ſie ſogar übertreffen. Wir aber können ſie nicht verdauen, uns bleiben ſie Fremdkörper, die unſern Leib überwuchern und uns ſchließlich versklaven. Unſer Volk kommt zum überwiegenden Teil aus den Bergen, unſer Volk iſt ein naives, treuherziges Volk, verträumt, verſpielt, unfruchtbaren Idealen nachhängend, der Muſik und ſtiller Naturbetrachtung ergeben, fromm und bieder, gut und ſinnig! Das ſind ſchöne, wunderbare Eigenſchaften, aus denen eine herrliche Kultur, eine wunderbare Lebensform ſprießen kann, wenn man ſie gewähren und ſich entwickeln läßt. Aber die Juden unter uns duldeten dieſe ſtille Entwicklung nicht. Mit ihrer unheimlichen Verſtandesſchärfe, ihrem von Tradition losgelöſten Weltſinn, ihrer katzenartigen Geſchmeidigkeit, ihrer blitzſchnellen Auffaſſung, ihren durch jahrtauſendelange Unterdrückung geſchärften Fähigkeiten haben ſie uns überwältigt, ſind unſere Herren geworden, haben das ganze wirtſchaftliche, geiſtige und kulturelle Leben unter ihre Macht bekommen.“
Brauſende „Bravo!“-Rufe; „Sehr richtig!“ „So iſt es!“
Doktor Schwertfeger führte mit der knochigen Rechten das Glas zu den dünnen Lippen und ſein halb ſpöttiſcher, halb befriedigter Blick kreiſte im Saal.
„Sehen wir dieſes kleine Oeſterreich von heute an. Wer hat die Preſſe und damit die öffentliche Meinung in der Hand? Der Jude! Wer hat ſeit dem unheilvollen Jahre 1914 Milliarden auf Milliarden gehäuft? Der Jude! Wer kontrolliert den ungeheuren Banknotenumlauf, ſitzt an den leitenden Stellen in den Großbanken, wer ſteht an der Spitze faſt ſämtlicher Induſtrieen? Der Jude! Wer beſitzt unſere Theater? Der Jude! Wer ſchreibt die Stücke, die aufgeführt werden? Der Jude! Wer fährt im Automobil, wer praßt in den Nachtlokalen, wer füllt die Kaffeehäuſer, wer die vornehmen Reſtaurants, wer behängt ſich und ſeine Frau mit Juwelen und Perlen? Der Jude!
Verehrte Anweſende! Ich habe geſagt, daß ich den Juden, an ſich und objektiv betrachtet, für ein wertvolles Individuum halte und ich bleibe dabei. Aber iſt nicht auch der Roſenkäfer mit ſeinen ſchimmernden Flügeln ein an ſich ſchönes, wertvolles Geſchöpf und wird er von dem ſorgſamen Gärtner nicht trotzdem vertilgt, weil ihm die Roſe näher ſteht als der Käfer? Iſt nicht der Tiger ein herrliches Tier, voll von Kraft, Mut und Intelligenz? Und wird er nicht doch gejagt und verfolgt, weil es der Kampf um das eigene Leben erfordert? Von dieſem und nur von dieſem Standpunkt kann bei uns die Judenfrage betrachtet werden. Entweder wir oder die Juden! Entweder wir, die wir neun Zehntel der Bevölkerung ausmachen, müſſen zugrunde gehen oder die Juden müſſen verſchwinden! Und da wir jetzt endlich die Macht in den Händen haben, wären wir Toren, nein, Verbrecher an uns und unſeren Kindern, wenn wir von dieſer Macht nicht Gebrauch machen und die kleine Minderheit, die uns vernichtet, nicht vertreiben wollten. Hier handelt es ſich nicht um Schlagworte und Phraſen, wie Menſchlichkeit, Gerechtigkeit, Toleranz, ſondern um unſere Exiſtenz, unſer Leben, das Leben der kommenden Generationen! Die letzten Jahre haben unſer Elend vertauſendfacht, wir ſtehen mitten im vollen Staatsbankrott, wir gehen der Auflöſung entgegen, ein paar Jahre noch und unſere Nachbarn werden unter dem Vorwand, bei uns Ordnung ſchaffen zu müſſen, über uns herfallen und unſer kleines Land auf Stücke zerreißen — unberührt von allen Geſchehniſſen aber werden die Juden blühen, gedeihen, die Situation beherrſchen und, da ſie ja nie Deutſche im Herzen und im Blut waren, unter den geänderten Verhältniſſen Herren bleiben, wenn wir Sklaven ſind!“
Das ganze Haus geriet jetzt in furchtbare Aufregung. Wilde Rufe wurden ausgeſtoßen. „Das darf nicht ſein! Retten wir uns und unſere Kinder!“ Und als Echo klang es von der Straße her aus zehntauſend Kehlen: „Hinaus mit den Juden!“
Doktor Schwertfeger ließ die Erregung auslaufen, nahm von den Miniſterkollegen Händedrücke entgegen und ſprach dann über die Durchführung des Geſetzes. Gemäß den Forderungen der Menſchlichkeit und den Bedingungen des Völkerbundes würde mit größter Milde und Gerechtigkeit vorgegangen werden. Jeder habe das Recht, ſein Vermögen mitzunehmen, ſoweit es aus Bargeld und Wertpapieren oder Juwelen beſtehe, Immobilien zu veräußern, ſein Geſchäft freihändig zu verkaufen. Unternehmungen, die nicht veräußerlich ſeien, würden vom Staat übernommen werden, und zwar derart, daß nach dem Steuerbekenntnis des letzten Jahres der Reinertrag fünfprozentig kapitaliſiert werden würde. Hätte alſo zum Beiſpiel ein Unternehmen im vergangenen Jahr eine halbe Million Reinertrag aufgewieſen, ſo würde es mit zehn Millionen abgelöſt werden. Ein boshaftes Lächeln kräuſelte die Lippen des Kanzlers.
„Natürlich ſind ſowohl bei dieſen Ablöſungen als auch bei der Erlaubnis zur Mitnahme von Bargeld lediglich die Steuerbekenntniſſe maßgebend. Hat ſich jemand als Vermögensloſer bekannt, ſo darf er kein Geld ausführen, beſitzt er trotzdem Vermögen, ſo wird dieſes natürlich konfisziert. Hat jemand den Reinertrag ſeines Geſchäftes mit einer halben Million beziffert, ſo darf er zehn Millionen mitnehmen, auch wenn ſich herausſtellen ſollte, daß ſein wirkliches Einkommen zehnmal ſo groß war. Auf dieſe Art wird ſich manche Sünde bitter rächen —“, bemerkte der Redner unter ſchallender Heiterkeit der Anweſenden. Er fuhr dann fort:
„Feſtbeſoldete und geiſtige Arbeiter, die tatſächlich vermögenslos ſind, wie zum Beiſpiel Aerzte, erhalten vom Staat den Betrag zur Fortreiſe, den ſie als Jahreseinkommen verſteuert hatten. Gab alſo ein Arzt ſein Einkommen mit dreihunderttauſend an, ſo erhält er dieſe Summe. Um jede anderweitige Steuerflucht zu verhüten, enthält das Geſetz die drakoniſche Beſtimmung, daß der Verſuch, größere als erlaubte Summen fortzuſchleppen, mit dem Tode zu beſtrafen ſei. Ebenſo iſt die Todesſtrafe über die Juden oder Judenſtämmlinge verhängt, die den Verſuch machen, ſich auch weiterhin heimlich in Oeſterreich aufzuhalten.
Das Geſetz ſoll in folgender Weiſe durchgeführt werden:
„Nichtprotokollierte Kaufleute, Händler und ſogenannte Agenten müſſen innerhalb dreier Monate nach Annahme des Geſetzes die Grenzen verlaſſen, protokollierte Firmeninhaber, Angeſtellte, Beamte und manuelle Arbeiter innerhalb von vier Monaten, Künſtler, Gelehrte, Aerzte, Rechtsanwälte und ſo weiter innerhalb von fünf Monaten. Direktoren von Aktienunternehmungen, Banken und Induſtrien, die im letzten Jahre ein Einkommen von mehr als ſechs Millionen verſteuert haben, iſt eine Friſt von einem halben Jahr gegeben.“
Und nun komme ich zu einem wichtigen Punkt, dem ich die volle Aufmerkſamkeit zu ſchenken bitte. Wie Sie wiſſen, bezieht ſich das Ausweiſungsgeſetz nicht nur auf Juden und getaufte Juden, ſondern auch auf Judenſtämmlinge. Als Judenſtämmling gelten die Kinder aus Miſchehen. Hat alſo zum Beiſpiel eine Chriſtin rein deutſchariſcher Abſtammung einen Juden geheiratet, ſo trifft die Ausweiſung ihn und die Kinder aus dieſer Ehe, während es der Frau unbenommen bleibt, in Oeſterreich zu verweilen. Nach reiflicher Ueberlegung hat die Regierung beſchloſſen, die Kindeskinder aus Miſchehen nicht mehr als Judenſtämmlinge, ſondern als Arier zu betrachten. Hat alſo ein Chriſt eine Jüdin geheiratet, ſo werden wohl die Kinder ausgewieſen, die Kindeskinder aber, vorausgeſetzt, daß die Eltern ſich nicht wieder mit Juden gemiſcht haben, können im Lande bleiben. Dies iſt aber auch die abſolut einzige Konzeſſion, die das Geſetz macht. Andere Ausnahmen ſind nicht zuläſſig. Von vielen Seiten wurde uns nahegelegt, gewiſſe Ausnahmen gelten zu laſſen. So ſollte das Geſetz Leute über ein gewiſſes Alter hinaus, Kranke, Schwächliche und ſolche Juden, die beſondere Verdienſte um den Staat haben, nicht treffen.
Meine Damen und Herren! Hätte ich dieſen Ratgebern nachgegeben, ſo würde das ganze Geſetz zur Poſſe geworden ſein. Das jüdiſche Geld, jüdiſcher Einfluß hätten Tag und Nacht gearbeitet, zehntauſende von Ausnahmsfällen würden konſtruiert werden und in fünfzig Jahren wären wir genau ſo weit wie heute. Nein, es gibt keine Ausnahme, es gibt keine Protektion, es gibt kein Mitleid und kein Augenzudrücken! Für Hinfällige und Kranke wird die Regierung prachtvolle Spitalzüge zur Verfügung ſtellen, und nur ſolche Juden, die nach gerichtsärztlichem Gutachten abſolut nicht transportfähig ſind, werden hier ihre Geneſung oder ihren Tod abwarten dürfen.“
Doktor Schwertfeger verbeugte ſich leicht und ließ ſich ſchwerfällig auf ſeinem Sitz nieder. Die Wirkung ſeiner letzten Eröffnung war aber ganz eigenartig geweſen. Nur vereinzelte Bravo-Rufe waren laut geworden, eine gewiſſe Beklommenheit machte ſich faſt körperlich fühlbar, auf vielen Geſichtern malte ſich deutlich Schrecken und Angſt, auf der Galerie entſtand Unruhe, eine Frau fiel mit dem Ruf: „Meine Kinder!“ ohnmächtig zuſammen, und als der Kanzler geendet, erdröhnte zwar ſtarker Beifall, aber die kleine Gruppe der Sozialdemokraten ſchrie uniſono „Unerhört! Pfui! Skandal!“
Und nun erteilte der Präſident mit dem roten Bart dem Finanzminiſter Profeſſor Trumm das Wort. Trumm war klein, verhuzelt wie eine halbgedörrte Pflaume, er ſprach im Diskant und mußte ſich jedesmal unterbrechen, wenn ſeine Zunge zwiſchen dem Gaumen und dem oberen Rand des falſchen Gebiſſes ſtecken blieb. Unter großer Spannung erörterte er die finanzielle Seite des Ausweiſungsgeſetzes. Natürlich würde die Ablöſung der jüdiſchen Geſchäfte und Immobilien nicht nur das chriſtliche Privatkapital, ſondern auch die Mittel des Staates ſtark in Anſpruch nehmen. Hunderte von Milliarden Kronen würden kaum ausreichen, und man dürfe ſich nicht verhehlen, daß die Ausweiſung der Juden zunächſt allerlei finanzielle Schwierigkeiten im Gefolge haben werde.
„Aber, gottlob,“ — der Finanzminiſter bekreuzigte ſich — „wir werden in den kommenden ſchweren Tagen nicht allein ſtehen! Ich kann dem hohen Hauſe die erfreuliche Mitteilung machen, daß ſich das echte wahre Chriſtentum der ganzen Welt geſammelt hat, um uns zu helfen. Nicht nur, daß die öſterreichiſche Regierung ſeit Monaten internationale Verhandlungen führt, auch der Piusverein hat in aller Stille eine mächtige Agitation entfaltet, die glänzende Früchte trägt. Der Verband des erwachten Chriſtentums der skandinaviſchen Länder, dem viele große Bankiers und Kaufleute angehören, ſtellt uns einen gewaltigen Kredit in däniſcher, ſchwediſcher und norwegiſcher Valuta zur Verfügung, der amerikaniſche Induſtriekönig Jonathan Huxtable, einer der reichſten Männer der Welt und ein begeiſterter Streiter in Chriſto, hat ſich bereit erklärt, zwanzig Millionen Dollars in Oeſterreich anzulegen, der franzöſiſche Chriſtenbund macht hundert Millionen Francs mobil — kurzum, es werden Milliarden Kronen ins Ausland wandern müſſen und dafür Milliarden in Gold einſtrömen!“
Rieſige Begeiſterung im ganzen Hauſe. Einige Dutzend Abgeordnete verließen fluchtartig den Sitzungsſaal und ſtürmten die Telephone, um ihren Banken Verkaufsorders für fremde Valuten zu geben. Die Hauszentrale konnte das ſtürmiſche Begehren nach Verbindungen mit „Karpeles & Co.“, „Veilchenfeld & Sohn“, „Roſenſtrauch & Butterfaß“, „Kohn, Cohn & Kohen“ und wie alle die großen Bankhäuſer hießen, kaum bewältigen. Während aber der Finanzminiſter, der eine volle Minute gebraucht hatte, um ſeine eingeklemmte Zunge zu befreien, fortfuhr, erzählte der Engländer Holborn in der Journaliſtenloge grinſend:
„Jonathan Huxtable iſt ein frommer Kerl! Er ſpuckt Gift und Galle gegen die Juden, ſeitdem ihm ſeine Frau mit einem jüdiſchen Preisboxer durchgegangen iſt. Er iſt ein ſtrenger Temperenzler, aber er beſauft ſich jeden Tag mit Magentropfen, die er aus der Apotheke bezieht. Einmal hat man geſehen, wie er eine ganze Flaſche Eau de Cologne auf einen Zug austrank. Und wenn er hier zwanzig Millionen inveſtieren wird, will er ſicher fünfzig daran verdienen.“
Doktor Wieſel ſchnitt ein abweiſendes Geſicht, während die jüdiſchen Journaliſten ſich raſch Notizen machten, um letzte Bosheiten zu publizieren.
Die Pro- und Kontra-Redner meldeten ſich zum Wort. Die Sozialdemokraten ſprachen gegen das Geſetz. Als aber ihr Führer Weitherz in ruhigen und ſachlichen Worten ſeiner Entrüſtung Ausdruck gab und den Geſetzentwurf als ein Dokument menſchlicher Schmach bezeichnete, entſtand ein furchtbarer Tumult, die Galerie warf mit Schlüſſeln und Papierknäueln nach den Sozialdemokraten, es kam zu einer Prügelei und die kleine Oppoſition verließ unter Proteſt den Saal. Der chriſtlichſoziale Abgeordnete Pfarrer Zweibacher pries Doktor Schwertfeger als modernen Apoſtel, der würdig ſei, dereinſt heilig geſprochen zu werden, die großdeutſchen Abgeordneten Wondratſchek und Jiratſchek aber beleuchteten das Geſetz lediglich vom Raſſenſtandpunkt, und Jiratſchek, der ſtark mit böhmiſchem Akzent ſprach, ſchluchzte vor Ergriffenheit und ſchloß mit den Worten:
„Wotan weilt unter uns!“
Als letzter Redner ergriff unter Hepp! Hepp!-Rufen und höhniſchem Aih-Wai!-Geſchrei der einzige zioniſtiſche Abgeordnete, Ingenieur Minkus Waſſertrilling, das Wort. Der ſchlanke, große und hübſche junge Mann wartete mit verſchränkten Armen ab, bis Ruhe eintrat, dann ſagte er:
„Verehrte Jünger jenes Juden, der ſich, um die Menſchheit zu erlöſen, törichterweiſe ans Kreuz hatte ſchlagen laſſen!“
Stürmiſche Unterbrechung: „Hinaus mit den Juden!“
„Jawohl, meine Herren, ich ſtimme mit Ihnen in den Ruf: „Hinaus mit den Juden!“ ein und werde mit freudigem Herzen dem Geſetz meine Stimme geben. Wir Zioniſten begrüßen dieſes Geſetz, das ganz unſeren Zielen und Tendenzen entſpricht. Von der halben Million Juden, die das Geſetz trifft, wird ſich wohl die Hälfte unter dem zioniſtiſchen Banner vereinigen, die anderen werden, wie ich weiß, in Frankreich und England, in Italien und Amerika, in Spanien und den Balkanländern willig Aufnahme finden. Mir iſt um das Schickſal meines Volkes nicht bange, zum Segen wird das werden, was hier gehäſſige Bosheit und Dummheit als Fluch gedacht hat.“
Der Tumult, der ſich erhob, verſchlang die weiteren Worte und ſchließlich wurde auch der Zioniſt aus dem Saal gedrängt.
So ergab denn die Abſtimmung, die namentlich erfolgte, die einſtimmige Annahme des Geſetzes, das noch am ſelben Tag durch den Ausſchuß und die zweite und dritte Leſung gepeitſcht wurde.
Als die Abgeordneten ſpät abends endlich das Haus verlaſſen konnten, ſahen ſie ein feſtlich beleuchtetes Wien. Von allen öffentlichen Gebäuden wehten die weiß-roten Fahnen, Feuerwerke wurden abgebrannt, bis lange nach Mitternacht dauerten die Umzüge der Menſchenmaſſen, die immer vor das Kanzlerpalais marſchierten, um Doktor Schwertfeger hoch leben zu laſſen und als Befreier Oeſterreichs zu preiſen — — —
Als der Nationalrat, Gemeinderat, Armenrat und Gewerberat Antonius Schneuzel am nächſten Vormittag — es war ein Sonntag — infolge der endloſen Siegesfeier arg verkatert am häuslichen Frühſtückstiſch erſchien, fand er eine recht unbehagliche Stimmung vor. Seine Gattin hatte eine nadelſpitze Naſe, was auf Sturm deutete, ſeine Tochter, Frau Corroni, ſaß mit verquollenen Augen da, ihr Gatte, der Prokuriſt Alois Corroni, lächelte den Schwiegervater impertinent und verächtlich an, und die beiden Enkelkinder Lintſchi und Hansl ſtießen ein furchtbares Geheul aus, als Herr Schneuzel ſeine kleinen Aeuglein verwirrt und ängſtlich um den Tiſch kreiſen ließ.
„Ja, was is denn da los?“
Frau Schneuzel ſtemmte die Arme in die Seite.
„Was los is, du Fallot, du? Gar nichts is los, als daß du alter Tepp geholfen haſt, deine Tochter und die Enkelkinder aus dem Land zu treiben!“
„Ja, wieſo denn?“ ſtammelte Herr Schneuzel, aber ſchon dämmerte ihm grauenhafte Wahrheit. Richtig, er hatte im Laufe der Jahrzehnte total vergeſſen, daß ſein Schwiegerſohn, Herr Alois Corroni, in früheſter Jugend Sami Cohn geheißen und erſt ſtehend und aufrecht die Taufe empfangen. Alſo mußte er ja hinaus und mit ihm die beiden Kinder, die Judenſtämmlinge waren!
„So eine Gemeinheit,“ ſchluchzte Frau Corroni in ihr Taſchentuch hinein, „was ſoll ich jetzt mit den Kindern anfangen? Nach Zion auswandern vielleicht, du Rabenvater, du?“
„Jawohl, es iſt ein ſtarkes Stückchen,“ erklärte nun Herr Corroni mit ſcharfer Betonung jedes Wortes, „einen Mann wie ich, der behaupten darf, mindeſtens ein ebenſo guter Chriſt zu ſein als tauſend andere, die den ganzen Tag im Wirtshaus herumſitzen, einen Mann wie ich, deſſen Kinder im chriſtlichen Glauben groß geworden ſind, aus dem Lande zu jagen wie einen tollen Hund!“
Herr Schneuzel wollte eine Erwiderung machen und murmelte etwas von großer, heiliger Sache, Prinzipien, die auf Einzelfälle keine Rückſicht nehmen können. Aber ſchon ſaß die Hand der Gattin in ſeinen ſpärlichen Haaren und ließ nicht locker, bevor ſie ſich mit einem ganzen Büſchel des immer rarer werdenden Gewächſes zurückziehen konnte.
„Viecher ſeids Ihr alle zuſammen! Geſtohlen könnts Ihr mir werden mit eurem Chriſtentum! Hat der Loisl unſer Annerl nicht immer gut behandelt? Hat ſie nicht einen Biſampelz von ihm bekommen, läßt er die Kinder nicht aufwachſen wie die Prinzen? Dem lieben Gott ſollſt du danken, daß ſie einen Juden bekommen hat und nicht einen Kerl, wie dich, einen Saufbruder und Skandalmacher!“
„I geh' net nach Zion“, heulte Lintſcherl, während Hans die Gelegenheit benützte, von Großvaters Teller weg den Sonntagsgugelhupf zu grapſen.
Im Moment höchſter Aufregung kam die Köchin Pepi herein, räumte reſolut den Tiſch ab und erklärte ſeelenruhig:
„I geh'! I heirat' mein' Iſidor, der was Kommis im Konſumverein is, und wann er auswandern muß, wander' i mit ihm aus! Von mir aus können ſich die Herrn Nationenräte mitſamt dem Kränzler alle zuſammen aufhängen.“
Nachdem ſich die Aufregung gelegt, erörterte Herr Corroni ſachlich die Situation.
„Ich denke natürlich gar nicht daran, nach Paläſtina auszuwandern, ſchon deshalb nicht, weil man mich als getauften Juden gar nicht hineinließe. Nein, ich habe einen Bruder in Hamburg, den Onkel Eduard, wie Ihr wißt, und wenn er auch eben meiner Taufe halber bös mit mir iſt, ſo wird er mich jetzt nicht im Stich laſſen — Juden haben ja, gottlob, Familienſinn“ — dieſe Worte begleitete ein ſtechender Blick gegen Schneuzel — „und ich werde eben dort für mich und meine Familie eine neue Zukunft aufbauen. Es ſei denn, daß Annerl lieber bei euch bleiben will“.
Worauf Frau Anna, müde und verblüht, wie man es nach fünfzehnjähriger Ehe zu ſein pflegt, roſige Wangen bekam, ihre Arme zärtlich um den Hals des Alois Corroni, rekte Sami Cohn, ſchlang, ihn küßte wie eine Braut ihren Bräutigam und wirklich wie ein junges Mädchen ausſah. Und ſchließlich mußte ſich Herr Schneuzel völlig verſtört und verzweifelt verpflichten, dem Schwiegerſohn ſo gewiſſermaßen als Fundament für die neue Zukunft eine Million mit nach Hamburg zu geben.
Nachmittags ging der National-, Gemeinde- und Armenrat Schneuzel allein zum Heurigen nach Sievering, fing dort mit einer Geſellſchaft, die noch immer „Hinaus mit den Juden!“ ſchrie, Streit an, zerbrach ſeine Flaſche an dem Schädel des einen Schreiers und wurde furchtbar verprügelt.
Geſpräch in einer Fenſterniſche des Kaffee Wögerer, gegenüber der Börſe, zwiſchen Herrn Strauß, Inhaber eines Bankhauſes, und ſeinem Neffen, dem Mediziner Siegfried Steiner. Solche und ähnliche Geſpräche fanden aber an allen Tiſchen ſtatt, es wurde an dieſem Tage nicht lärmend, ſondern faſt lautlos mit Zuhilfenahme der Hände geredet.
Der Neffe ſchüttelte dem Onkel die Hand.
„Lieber Onkel, ich danke dir dafür, daß du mich mit nach London nehmen wirſt. Das iſt ein großer Troſt für mich, denn unter uns geſagt — Zion — ne, iſt nichts für mich! Nur Juden, nicht auszudenken!“
Der Onkel lächelte behaglich. „Zion kann mir geſtohlen werden. In London werde ich mich mit meinem alten Freunde Moe Seegward, der dort eine Wechſelſtube in beſter Lage hat, aſſociieren.“
Siegfried Steiner beugte ſich vor und flüſterte:
„Aber ſag' mir eines, Onkel, du haſt doch ſicher nicht der Steuerbehörde dein wirkliches Vermögen und Einkommen angegeben. Wie wirſt du nun dein Geld herüberkriegen, da doch ſeit geſtern Briefzenſur eingeführt iſt?“
Der Onkel ließ die Zigarrenaſche auf ſeine Weſte fallen.
„Chammer! Wozu hat man chriſtliche Freunde? Ich war heute ſchon bei dem Fabrikanten Schuſter, habe ihm, unter uns geſagt, zwanzig Millionen in Effekten und Bargeld gebracht und dafür von ihm eine Anweiſung auf eine Londoner Bank bekommen. Natürlich tut es der Ganef nicht umſonſt, ſondern er verdient eine koſchere Million dabei.“
Der Neffe nickt befriedigt und an dreißig anderen Tiſchen endigten verſchiedene Geſpräche ebenfalls mit einem zufriedenen Nicken.
Ein alter Hebräer mit Kaftan und Lockerln kam herein und ſagte von Tiſch zu Tiſch ſein Sprüchlein auf: „Ein Almoſen für einen alten Juden, der beim Pogrom in Lemberg um Hab und Gut gekommen iſt.“
Von einem Tiſch wurde er angerufen: „Na, Alter, wohin werden Sie auswandern?“
Der Jude wackelte mit dem Kopf. „Herrleben, wenn ich aus dem brennenden Ghetto von Lemberg nach Wien gekommen bin, wer' ich auch aus Wien wieder irgendwohin kommen. Ob ich ſchnorr' in Wien oder in Berlin oder Paris, iſt gleichgültig. Nur wer' ich dann nichts erzählen mehr vom Pogrom, ſondern davon, daß man hat mich alten Juden ausgewieſen. Aber ſagen Sie, Herrleben, glauben Sie, man ſoll noch kaufen vor Torſchluß Juliſüd oder is beſſer Siemens?“
In der Villa des Schriftſtellers Herbert Villoner in Alt-Ausſee war der Freundeskreis verſammelt. Literaten von bekanntem Namen, Maler, Bildhauer, Muſiker, Verleger. Sonſt pflegten ſie erſt im Hochſommer die Sommerfriſche aufzuſuchen, diesmal hatten ſie ſchon im Juni die Stadtflucht ergriffen, um von den politiſchen Schmutzwellen wenigſtens nicht unmittelbar beſpritzt zu werden.
Es war nach dem Abendeſſen, man ſaß in Korbſtühlen auf der Terraſſe, blickte auf den lieblichen See, in dem ſich der Mond ſpiegelte, der Rauch der Zigaretten kräuſelte in der unbeweglichen Luft empor, jeder war in ſeine Gedanken verſunken. Villoner unterbrach das tiefe Schweigen.
„So iſt denn kein Zweifel mehr, daß die meiſten von uns zum letztenmal den Sommer in Ausſee verbringen werden und daß wir wie vagabundierende Strolche den Staub von unſeren Stiefeln werden ſchütteln und in die Fremde gehen müſſen. Wie ſeltſam! Mein Vater, ein berühmter Kliniker, der nicht wenig zum Ruhm der Wiener mediziniſchen Schule beitrug, mein Großvater, ſchon ein erbangeſeſſener Kaufmann vom Mariahilfer Grund und ich ſelbſt — — Nun, man behauptet, daß ich in meinen Dramen und Romanen das Wiener Weſen tief erfaßt und wie kein anderer die Wiener Jugend, das ſüße Mädel erkannt und geſchildert habe. Und nun iſt das alles nichts geweſen, ich bin einfach ein fremder Jude, der hinaus muß wie irgend ein galiziſcher Flüchtling, den eine Spekulationswelle nach Wien verſchlagen!“
„Immerhin,“ ſagte der junge Lyriker Max Seider leiſe mit zitternder Stimme, „immerhin, Sie werden auch fern von der undankbaren Heimat ſich wohl fühlen können. Berlin wird Sie mit offenen Armen aufnehmen, ſchon ſind dort unter den Intellektuellen beſondere Ehrungen für Sie geplant, und Sie ſind ſo reif und ſtark, daß Sie mächtige Zweige werden treiben können, wo immer Sie ſind. Aber was ſoll ich tun? Ich bin erſt am Anfang, und ich kann nur leben und arbeiten, wenn ich durch das grüne Gelände des Wienerwaldes ſchlendere, wenn ich als Wegweiſer die zierliche Silhouette des Kahlenberges vor mir ſehe. Aus Ihnen ſtrömt des Lebens Quelle in unerſchöpflichem Maß, ich muß um jede Zeile, um jeden Vers mit mir ringen und kämpfen und das kann ich nur in Wien.“
„Ach was,“ ſchrie der Komponiſt Wallner ergrimmt, „der Teufel ſoll dieſes Wien mit ſeiner vertrottelten Bevölkerung holen! Ich geh' nach Süddeutſchland, miete mir ein Häuschen im Schwarzwald und werde dort mit meiner Lene herrlich leben. Was, Schatz?“
Seine blonde junge Frau ließ es ruhig geſchehen, daß der Gatte ihr Madonnenköpfchen an ſeine Schulter zog, aber ein boshaftes Lächeln huſchte über den üppigen Mund und ihre Blicke kreuzten ſich verſtändnisvoll mit denen des Schriftſtellers Walter Haberer. Dieſem ſchwellte Triumph die Bruſt. Er wußte, die Frau des Komponiſten blieb hier, niemand konnte ſie zwingen, mit ihrem Gatten ins Exil zu gehen, und verabredetermaßen würde ſie endlich, wenn der Mann erſt fort, ſein werden. Sein würde aber nicht nur ſie werden, ſondern ganz Wien, ganz Oeſterreich! Denn ſie alle, hinter denen er zurückſtehen mußte, ſie alle, deren Theaterſtücke aufgeführt wurden, während die ſeinen jahrelang in den Schubladen der Dramaturgen ſchliefen, ſie alle, die geſtern noch die großen Modeſchriftſteller geweſen waren, ſie alle, der Villoner und der Seider, der Hoff und der Thal, der Meier und der Marich, ſie alle mußten fort und er blieb allein als Herrſcher im Reiche der Muſen!
Frau Lene nickte ihm lächelnd zu, während der Gatte ihr liebkoſend die Wangen ſtreichelte.
Donnernd und polternd lachte der große Schauſpieler Armin Horch auf.
„Meine Herrſchaften, nun muß es heraus! Auch ich werde Oeſterreich verlaſſen müſſen! Denn ich, den die „Wehr“ und andere Zeitungen immer als den Verkörperer des chriſtlichen Schönheitsideals geprieſen haben, ich bin ein ganz gewöhnlicher Judenſtämmling! Mein Vater ſtammte aus Brody und hieß nicht Horch, ſondern Storch!“
Schallendes Gelächter ringsumher, Galgenhumor quoll auf, Scherze, die zur Situation paßten, wurden erzählt.
„Na und Sie, Herr Pinkus, wohin werden Sie Ihren Buchverlag transferieren?“ fragte einer den dicken, kleinen Verleger mit den krummen Beinen und dem prononciert jüdiſchen Geſicht.
„Ich? Ich bleibe! Ich bin doch Urchriſt!“
Und als alles lachte, ſagte er behaglich ſchmunzelnd:
„Spaß beiſeite, ich bin ein waſchechter Goi! Mein Großvater Amſel Pinkus war ein Tuchhändler in Frankfurt am Main und ein braver, frommer Jude. Als er ſich aber in meine Großmutter, Chriſtine Haberle, eine kleine Sängerin aus Stuttgart, verliebte, ließ er ſich, da ſie anders nicht die Seine werden wollte, taufen. Nun, mein Vater heiratete wieder eine Chriſtin und ſo bin ich Chriſt in dritter Generation, alſo werde ich nicht ausgewieſen, obwohl ich in Art und Aeußerem ganz entſchieden ein Duplikat meines Großvaters bin.“
„Es lebe der Urchriſt Pinkus,“ rief der Hausherr beluſtigt und alle hoben lachend die Gläſer. Da klang vom See her ein Knall wie ein Peitſchenhieb. Und von ſeltſamer Ahnung ergriffen, rief Villoner: „Wo iſt Seider?“
Aber ſchon brachten Leute die Leiche des jungen Lyrikers. Er hatte ſich unten am See erſchoſſen, um ſeine müde, empfindſame Seele nicht in der Fremde frieren laſſen zu müſſen.
Bei der Lona in der Gumpendorferſtraße herrſchte geradezu Panikſtimmung. Acht junge Damen, eine ſchöner als die andere, waren ſchon verſammelt und immer wieder mußte die dicke Wirtſchafterin, Frau Kathi Schoberlechner, die Wohnungstür öffnen und ein Fräulein hereinlaſſen. Im Salon roch es außerordentlich kräftig nach Houbigant, Ambre, Coty, Rouge und Zigaretten, und es leuchtete und funkelte von hellblonden, rotblonden, ſchwefelgelben und ſchwarzen Haaren, Diamanten und Perlen. Alle waren in Spitzen und Seide gekleidet, nur die Lona trug einen duftigen Schlafrock, der vorn offen war, ſo daß ihr der ſchneeweiße Buſen faſt entquoll, und ihre nackten Füße ſteckten in roten Pantöffelchen.
Die ſchwarze Yvonne weinte zum Herzzerbrechen, die rote Margit aber ſchlug auf den Tiſch und ſchrie erboſt:
„Mir müſſen demonſchtrieren! Wann i' ſo an Nationalpülcher derwiſch, kratz' i eahm die ſcheangleten Augen aus!“
„A ſo a Gemeinheit! Was ſoll'n mir denn machen, wann ſ' die Juden hinausſchmeißen?“
Yvonne weinte noch heftiger. „Und grad jetzt, wo mir der Fredi Pollak a neuches Automobil beſtellt hat.“
„Mir gibt der Reizes, mit dem was ich ſeit zwei Wochen geh', fünfhundert Fetzen im Monat! Möcht' wiſſen, ob die Herren Chriſten auch ſo ſplendid ſein wer'n?“
„Ihr wißt ja eh, ich hab' den Zwitterbauch aus Mähriſch-Oſtrau, der mich ganz aushält und nur amal im Monat auf a Wochen nach Wien kummt!“
Eine üppige Juno mit gelben Haaren ſchlug die ſtarken, aber ſchönen Beine übereinander, daß man die blauſeidenen Strumpfhalter ſah, leerte ein Gläschen Cointreau und ſagte mit klingender Altſtimme:
„Kinder, am meiſten Erfahrung habe wohl ich im Leben! Und ich kann nur ſagen, wenn die Juden verſchwunden ſind, müſſen wir alle verhungern oder uns um Stellen als Kloſettfrauen in Kaffeehäuſern umſehen. Geld laſſen tun nur die Juden, die anderen wollen alle viel Liebe und wenig Speſen! Zehn Jahre bin ich mit dem Baron Stummerl vom Auswärtigen Amt gegangen, und in dieſen zehn Jahren hat er mir ein goldenes Armband, einen Pelzkragen und tauſend Gulden geſchenkt. Ein Glück, daß ich dabei noch den Herſchmann von der Anglobank gehabt habe, ſonſt hätte ich am Ende noch arbeiten müſſen. Seither flieg' ich nur auf die Israeliten!“
Claire ſpielte nervös mit dem goldenen, diamantbeſetzten Kreuz, das ſie an einer Platinkette trug. „Was wohl der Karl ſagen wird, wenn ich vom Doktor Baruch nichts mehr bekomm'!“
Neue Klagen erhoben ſich, Wehrufe wurden laut. Daran hatte man im Drange der Geſchehniſſe noch gar nicht gedacht! Was ſollte mit den Freunden werden, die man liebte und aushielt, wenn die Freunde, die zahlten, nicht mehr waren?
Da führte die Frau Kathi einen dieſer Freunde herein. Pepi war das Ideal eines feſchen Kerls. Tiptop vom ſtaubgrauen Samthut über die geſtrickte Krawatte hinweg bis zu den gelben Halbſchuhen, über denen man ſanft getönte, blaue Seidenſtrümpfe ſah.
Schluchzend warf ſich die reizende ſchwarze Yvonne in die Arme ihres Herzensfreundes. Alle begrüßten ihn ſtürmiſch, ein Hagel von Rufen und Fragen ergoß ſich über ihn. Pepi ließ ſich ruhig in einen Fauteuil fallen, zog Yvonne auf ſeine Knie, zwickte die neben ihm ſitzende Lona in die nackten Waden und ſagte, nachdem er ſich eine Zigarette hatte in den Mund ſtecken laſſen:
„Kinder, da kann man halt nichts machen, als auch auswandern!“
„Ja, woher wirſt an' Auslandspaß kriegen und wer laßt dich denn hinein?“, entgegnete die kluge goldblonde Carola.
„Sehr einfach“, lachte Pepi. „Morgen geh' ich aufs Rathaus, werde konfeſſionslos, übermorgen geh' ich zur israelitiſchen Kultusgemeinde, erkläre mich ſolidariſch mit dem mißhandelten Judentum und werde Israelit. Hoffentlich ohne Operation. Dann heiraten wir, bekommen unſer Ablöſegeld vom Staat und können nach den Beſtimmungen des Völkerbundes uns anderswo anſiedeln. Wir gehen nach Paris oder nach Brüſſel oder ſonſt wohin, wo was los iſt.“
Yvonne lachte unter Tränen. „Geh', was ſoll ich denn in Paris als verheiratete Frau machen?“
„Tſchapperl! Braucht ja niemand zu erfahren, daß wir verheiratet ſind! Nimmſt dir eine Wohnung, ſuchſt einen Freund, der dich ordentlich aushält und ich bin ſo wie jetzt fürs Herz da!“
In den nächſten Tagen wußten die liberalen Blätter zu berichten, daß hunderte von wackeren chriſtlichen Jünglingen, empört über das den Juden angetane Unrecht, demonſtrativ ihren Uebertritt zum Judentum beſchloſſen hätten, um das Schickſal dieſes ſchwer geprüften Volkes zu teilen.
Der Bundeskanzler, der auch Miniſter für auswärtige Angelegenheiten war und ſeine Wohnung im Auswärtigen Amte hatte, ſtand an einem milden Septembertag an der offenen Balkontüre und ſah über die Straße hinweg auf das Getriebe des Volksgartens. Aber dieſes Treiben ſchien ihm weniger lebhaft zu ſein als in den vergangenen Jahren, die weißlackierten Kinderwägelchen rollten nur vereinzelt durch die Alleen, die Seſſelreihen und Bänke waren trotz des warmen Wetters nur ſpärlich beſetzt.
Es klopfte, der Kanzler rief ſcharf: „Herein!“ und ſtand nun ſeinem Präſidialchef, dem Doktor Fronz, gegenüber.
Schwertfeger war Ende Juni, kurz nach der Annahme des Ausweiſungsgeſetzes, nach Tirol gefahren, um ſeine unter der Laſt der Verantwortung und Arbeit faſt zuſammengebrochenen Nerven zu erholen. In einem Dorf am Arlberg blieb er mehr als zwei Monate inkognito, niemand außer ſeinem Präſidialchef kannte ſeinen Aufenthalt, er ließ ſich weder Briefe noch Akten nachſchicken, kümmerte ſich nicht um die Zeitereigniſſe, und nur von ganz eminent wichtigen Vorfällen durfte ihm Fronz ſchriftlich Mitteilung machen. Tatſächlich war ja für alles vorgeſorgt, der Wiener Polizeipräſident wie die Bezirkshauptleute hatten ihre genauen Inſtruktionen, das Parlament war bis zum Herbſt vertagt, alſo fühlte ſich Doktor Schwertfeger entbehrlich, ja er hielt es für ſeine Pflicht, neue Kräfte zu ſammeln, um der kommenden Arbeit friſch und ſtark gegenübertreten zu können. Heute vormittag war er nach Wien zurückgekehrt und nun mußte ihm Fronz gründlich referieren. Nachdem verſchiedene Perſonalangelegenheiten erledigt waren, ließ ſich Schwertfeger ſchwer und wuchtig vor ſeinem Schreibtiſch nieder, nahm Papier und Feder, um ſich ſtenographiſche Notizen zu machen und ſagte äußerlich ruhig und kalt, während vor Spannung jeder Nerv in ihm vibrierte:
„Nun, lieber Freund, berichten Sie mir über den bisherigen Vollzug des neuen Geſetzes und ſeine ſichtbaren Folgen. Wie iſt unſere Finanzlage? Sie wiſſen, ich bin völlig unorientiert.“
Doktor Fronz räuſperte ſich und begann:
„Finanztechniſch verläuft nicht alles ſo glatt, wie wir hofften. Zuerſt ſtieg unſere Krone in Zürich ſprunghaft bis auf ein Zwanzigſtel Centime, dann traten leiſe, wenn auch unbedeutende Schwankungen ein, ſeit Ende Juli rührt ſich trotz des ſtarken Goldzuſtromes aus den Treſors der großen chriſtlichen Vereine und des Bankiers Huxtable unſere Krone nicht, ſie beharrt auf dem Kurs von 0.02. Merkwürdigerweiſe erfüllen ſich vorläufig unſere Hoffnungen auf enorme Geldabgaben ſeitens der Ausgewieſenen nicht. Es fließen den Steuerämtern weder große Beträge in Kronen noch in fremden Währungen zu. Es ſcheint, daß ſich unter unſeren chriſtlichen Mitbürgern tauſende von Paraſiten befinden, die in gewiſſenloſer Weiſe die überſchüſſigen, der Beſteuerung hinterzogenen Vermögen der Juden an ſich nehmen und den Juden dafür Abſtandſummen in Geſtalt von Anweiſungen an ausländiſche Banken geben.“
„Das war nicht anders zu erwarten“, ſagte der Kanzler, während ein verächtliches Lächeln um ſeine zuſammengekniffenen Lippen ſpielte. „Ob Jud' oder Chriſt — habgierig und ſelbſtſüchtig ſind ſie alle!“
Das dürften die Judenblätter nicht erfahren, dachte Fronz und fuhr fort:
„Wie ich aus dem ſehr peſſimiſtiſchen Referat des Finanzminiſters Profeſſor Trumm folgern darf, wird uns die Ausweiſung der Juden mit ungeheuren Schulden, in Gold rückzahlbar, belaſten, unſeren Banknotenumlauf aber in keiner nennenswerten Weiſe vermindern.“
„Geht die Liquidierung und Uebergabe der Finanzinſtitute, Banken und Aktiengeſellſchaften glatt vor ſich?“
„In dieſer Beziehung iſt alles in vollem Gange, aber leider zeigt es ſich, daß unſere einheimiſchen Kapitaliſten entweder nicht willens oder nicht in der Lage ſind, die großen Unternehmungen an ſich zu reißen, ſo daß überwiegend Ausländer als Uebernehmer in Betracht kommen. Die Länderbank, die Kreditanſtalt, die Anglobank, die Escompte-Geſellſchaft und andere Großbanken gehören bereits Italienern, Engländern, Franzoſen, Tſchechoslowaken und ſo weiter, desgleichen unſere großen Induſtrieunternehmungen. Eben hat ein holländiſches Konſortium die Simmeringer Lokomotivfabrik übernommen. Wir paſſen natürlich hölliſch auf, daß ſich auf ſolchem Umweg nicht ausländiſche Juden hier einniſten, und jeder Kaufvertrag weiſt nachdrücklich auf die Klauſel hin, wonach auch ausländiſche Juden keinerlei Aufenthaltsrecht in Oeſterreich genießen, weder dauerndes noch vorübergehendes. Daß die Aktionäre und Direktoren der fremden Geſellſchaften, die hier aufkaufen, zum Teile Juden ſind, läßt ſich aber nicht vermeiden.“
Der Kanzler ſtützte die mächtige, gewölbte Stirne in die knochige Hand, wiſchte dann peinliche Gedanken mit einer Handbewegung fort und ſagte gleichmütig:
„Uebergangserſcheinungen, denen ſpäterhin abzuhelfen ſein wird! Wie vollzieht ſich die Ausweiſung?“
„Genau nach den Durchführungsbeſtimmungen des Geſetzes! Sowohl die Polizei als auch das Verkehrsamt arbeiten vortrefflich, täglich verlaſſen ungefähr zehn Züge mit Ausgewieſenen Oeſterreich nach allen Richtungen und bis heute haben etwa vierhunderttauſend Juden das Land verlaſſen.“
Schwertfeger blickte überraſcht auf. „Wie iſt das möglich? Wir haben an ungefähr eine halbe Million Auszuweiſender gedacht! Alſo waren jetzt, nach einem Drittel der präliminierten Zeit, vier Fünftel erledigt?“
Doktor Fronz lächelte dünn. „Wir haben eben die große Zahl der Konvertiten und Judenſtämmlinge unterſchätzt! Heute hat die Staatspolizei mehr Ueberblick und ſie rechnet nun nicht mehr mit einer halben Million, ſondern mit achthunderttauſend, vielleicht ſogar mit einer Million Menſchen, die unter das Geſetz fallen! Bei dieſer Gelegenheit möchte ich bemerken, daß ſich gewiſſe devaſtierende, oft ſehr peinliche oder auch nur groteske Folgen der Ausweiſung zeigen. Zehn chriſtlichſoziale Nationalräte müſſen als Judenſtämmlinge landesverwieſen werden, beinahe ein Drittel der chriſtlichen Journaliſten wird entweder direkt oder in ſeinen Familienmitgliedern betroffen, es ſtellt ſich heraus, daß unſere beſten chriſtlichen Bürger vom Judentum durchtränkt ſind, uralte Familien werden auseinandergeriſſen, ja es hat ſich etwas ereignet, was ſchallendes Gelächter nicht nur in den Judenblättern, die ja noch bis zum letzten Augenblick hetzen werden, erregt, ſondern auch in der Preſſe des Auslandes. Eine Schweſter des Fürſterzbiſchofs von Oeſterreich, Kardinal Rößl, iſt mit einem Juden verheiratet, ſein Bruder aber mit einer Jüdin, ſo daß ſeine Eminenz durch das Geſetz ſämtlicher Neffen, Nichten und Geſchwiſter beraubt wird. Vielleicht wird es ſich doch empfehlen, unter ſolchen Umſtänden der Nationalverſammlung ein Amendement zu dem Geſetz zu unterbreiten, durch das die Ausweiſung von Judenſtämmlingen unter gewiſſen Umſtänden unterbleiben darf — —.“
Der Bundeskanzler ſprang in die Höhe und ſchlug mit der geballten Fauſt auf den Schreibtiſch, daß die Tinte hochſpritzte.
„Nie und nimmer, wenigſtens nicht, ſolang ich im Amte bin! Eine ſolche Ausnahmebeſtimmung würde das ganze Geſetz zum Weltwitz machen, wir wären bis auf die Knochen blamiert, das internationale Judentum würde triumphieren wie noch nie in ſeiner Geſchichte, der Korruption, der Beſtechlichkeit wäre Tür und Tor geöffnet! Sie kennen ja die gewiſſen Herren Hof- und Sektions- und Regierungsräte mit den offenen Händen und leeren Taſchen! Nein, es darf keine Ausnahmen geben, das Leid und der Kummer einzelner Familien darf an den Grundmauern des Geſetzes nicht rütteln! Im Namen der Habsburger wurde ein Krieg geführt, der einer Million Männer das Leben gekoſtet hat und man hat nicht zu muckſen gewagt! Was iſt im Vergleich dazu die Tatſache, daß ein paar tauſend oder vielleicht hunderttauſend Menſchen Unbequemlichkeit und Aerger verurſacht wird? Ich bitte Sie, in dieſem Sinne die chriſtlichen Blätter zu inſtruieren. Beſſer noch, wenn die politiſche Korrespondenz ſofort eine diesbezügliche Enunziation der Regierung den Blättern zugehen läßt. Und Sie bitte ich dringend, ſich nicht mehr zum Sprachrohr ſolcher Einflüſterungen machen zu laſſen!“
Doktor Fronz verbeugte ſich erblaſſend.
„Dann iſt es ja auch überflüſſig, wenn ich Eurer Exzellenz von furchtbaren Jammerszenen berichte, die ſich täglich bei der Abfahrt der Evakuierungszüge beobachten laſſen und die oft ſolche Dimenſionen annehmen, daß ſelbſt der Straßenpöbel, der ſich zur Abfahrt der Züge mit der Abſicht einzufinden pflegt, die Ausgewieſenen zu beſchimpfen, ergriffen ſchweigt und Tränen vergießt — —.“
„Solche Szenen waren vorhergeſehen und ſind unvermeidlich! Inſtruieren Sie ſofort die Polizei dahin, daß die Bahnhöfe abgeſperrt werden, die Abfahrt der Züge tunlichſt nur zur Nachtzeit erfolgt und nicht von den Hauptbahnhöfen, ſondern von den außerhalb der Stadt gelegenen Rangierbahnhöfen. Und nun nur noch eine Frage: Wie nimmt die Bevölkerung im allgemeinen die Durchführung des Geſetzes auf?“
„Mit größter Begeiſterung natürlich! Die Polizei läßt hundert geſchickte Agenten ſich anonym in die Volksmengen miſchen und Beobachtungen ſammeln. Nun, die Berichte gehen übereinſtimmend dahin, daß die chriſtliche Bevölkerung ſich geradezu in einem Freudentaumel befindet, eine baldige Sanierung der Verhältniſſe, Verbilligung der Lebensmittel und gleichmäßigere Verbreitung des Wohlſtandes erwartet. Auch innerhalb der noch ſozialdemokratiſch organiſierten Arbeiterſchaft iſt die Befriedigung über den Fortzug der Juden groß. Aber anderſeits läßt ſich nicht verhehlen, daß die Bevölkerung erregt und unſicher iſt. Niemand weiß, was die Zukunft bringen wird, die Maſſen leben in den Tag hinein, eine ganz ſtaunenswerte Verſchwendungsſucht in den unteren Klaſſen macht ſich bemerkbar und die Zahl der Trunkenheitsexzeſſe mehrt ſich von Tag zu Tag.
Zur Gehobenheit der Stimmung trägt aber ſehr weſentlich der Umſtand bei, daß die Wohnungsnot mit einem Schlage aufgehört hat. Allein in Wien ſind ſeit Beginn des Monates Juli vierzigtauſend Wohnungen, die bisher Juden inne hatten, frei geworden. Eine direkte Folge davon iſt, daß eine wahre Hochflut von Trauungen eingeſetzt hat und die Prieſter zehn und zwanzig Paare gleichzeitig einſegnen müſſen.“
Schwertfeger, der Junggeſelle geblieben war, nickte befriedigt lächelnd. „Damit wären wir alſo für heute fertig. Ich bin nun halbwegs im Bilde und werde jetzt die Referate der einzelnen Bundesminiſterien durchſtudieren.“
Ein Kopfnicken und der Präſidialchef war entlaſſen. Fronz blieb aber noch ſtehen und lenkte die Aufmerkſamkeit des Kanzlers, der ſchon ein Aktenfaszikel aufgeſchlagen hatte, durch diskretes Räuſpern auf ſich.
„Ich möchte Exzellenz noch darauf aufmerkſam machen, daß der Wiener Gemeinderat mit großer Stimmenmehrheit beſchloſſen hat, den Schottenring in Dr. Karl Schwertfeger-Ring umzutaufen und daß ſeitens dreihundert öſterreichiſcher Gemeinden ähnliche Umtaufungen von Plätzen und Straßen beſchloſſen wurden. In Innsbruck hat ſich ſogar ein Denkmalkomitee gebildet, das Eurer Exzellenz im nächſten Jahr ſchon ein Denkmal aus Laaſer Marmor errichten will.“
Der Kanzler ſtand auf, ging zum Balkon, ſah wieder auf den Volksgarten hinab, ſchritt mit wuchtigen Tritten ſchwer und plump zweimal durch den großen Raum und ſagte dann:
„Inhibieren Sie alle ſolchen Ehrungen! Sie ſollen verſchoben werden bis zum zehnjährigen Jubiläum der Befreiung Wiens von den Juden!“
Weihnachtsabend im Hauſe des Hofrates Franz Spineder. Weit draußen in Grinzing, außerhalb der Endſtation der Straßenbahn, lag das kleine, gelbe Backſteinhäuschen, das der Hofrat noch von ſeinem Großvater ererbt hatte. Von außen ſah das einſtöckige Haus mit dem großen grün geſtrichenen Holztor und den grünen Jalouſien faſt primitiv aus, aber wenn man das Tor öffnete und in den Hof mit dem altertümlichen Ziehbrunnen trat, blieb man überraſcht und entzückt ſtehen. Der Hof ging in einen ſanft anſteigenden Garten über, der ſchier endlos war. Im Sommer leuchteten die Levkojen, Tulpen, Roſen und Nelken in ſüdlicher Pracht, hinter dem Ziergarten kamen Hunderte von Bäumen, die unter der Laſt der Aepfel, Birnen, Aprikoſen, Pflaumen und Kirſchen ſich tief zur Erde beugten, und wenn man auch die Obſtbäume hinter ſich hatte, ſo war man noch immer nicht am Ende des Gartens, ſondern ging ſteil durch einen Weinberg, um endlich ganz oben auf ein altwieneriſches Luſthäuschen mit bunten Scheiben zu ſtoßen.
Köſtlich wie der unvermutete Garten war auch die Einrichtung der Wohnzimmer. Uralte, behagliche, ſteife und graziöſe Möbel aus der Barock-, Kongreß- und Biedermeierzeit, koſtbare Stiche und Bilder an den Wänden, zwei echte Waldmüller, ein Schwind im Salon, bunte, ſchöne Gläſer, Altwiener Porzellan, funkelndes Silbergerät in den Vitrinen und Kredenzen, und man brauchte nur die Augen zu ſchließen, um die Männer und Frauen im Koſtüm der Maria Thereſianiſchen Zeit und Biedermeierrock vor ſich zu ſehen.
Franz Spineder war Beamter, wie es ſein Vater und ſein Großvater geweſen, aber er war auf den Gehalt eines Hofrates im Unterrichtsminiſterium nicht angewieſen, ſondern recht vermögend, und ſchon das Haus mit dem rieſigen Garten und der koſtbaren Einrichtung repräſentierte heute einen nach vielen Millionen zählenden Wert. Außerdem aber war ſeine Frau eine geborene Halbhuber, deren Urgroßväter ſchon als Gerber und Lederfabrikanten ſoliden Reichtum erworben hatten. Und da das Ehepaar Spineder nur mehr ein Kind, die jetzt knapp achtzehnjährige Lotte, beſaß, ſo konnte es inmitten der Wirrniſſe einer zerriſſenen Zeit und aller Teuerung zum Trotz ſein behagliches Leben führen.
Schweigend ſchmückten Lotte und Frau Spineder den Weihnachtsbaum, befeſtigten an den duftenden Zweigen die Schokoladekringel, Bonbons, Glaskugeln und Kerzen. Frau Spineder, noch immer eine hübſche, runde Frau, ſah die blonde, ſchlanke, auffallend ſchöne und liebreizende Tochter von der Seite an.
„Lotte, nun haſt du ſchon wieder Tränen in den Augen! Bedenk' doch, daß Papa heute wenigſtens fröhliche Geſichter ſehen will und mach' dem armen Leo das Herz nicht noch ſchwerer.“
Lotte ließ einen kleinen Rauchfangkehrer aus Schokolade fallen, daß ſein Kopf fortrollte, ſchlug die Hände vor das Geſicht, lehnte ſich an die Schulter der Mutter und begann bitterlich zu ſchluchzen.
„Mutter, mir bricht das Herz! Du wirſt ſehen, ich werde es nicht überleben, daß Leo in die Fremde fort muß! Mutter, laßt mich doch mit ihm ziehen!“
Frau Spineder, der ſelbſt das Waſſer in den Augen ſtand, ſtreichelte zärtlich das weiche, wie Gold leuchtende Haar der Tochter.
„Lotte, es geht nicht! Bedenk' doch, Papa iſt ſechzig und er hat, ſeit uns der unſelige Krieg den Sohn genommen, niemanden als dich. Du kannſt es ihm nicht zumuten, daß er dich in die ungewiſſe Zukunft ziehen läßt, ſo gern er ja auch den Leo hat. Schau nur, Leo wird nach Paris ziehen; bei der Entwertung der Krone könnten wir euch unmöglich mit Francs unterſtützen und ihr würdet vielleicht ins Elend kommen, ohne daß Papa helfen kann. Leo wird ſich allein ſchon durchſchlagen und ihr ſeid ja noch beide ſo jung, daß ihr auf andere, beſſere Zeiten warten könnt'. Still jetzt, der Vater kommt! Und es klingelt, der Leo wird auch ſchon da ſein.“
Herr Spineder, der jetzt eintrat, um die Kerzen anzuzünden, war der Typus des alten öſterreichiſchen Hofrates in ſeiner beſten Art. Muſik liebend und ausübend, voll innerlicher Kultur, gepflegt von außen und innen, ein Schönheitsſucher, Lebensfreund und Lebensbejaher, rechtlich, gewiſſenhaft, tolerant und dabei doch ein wenig beſchränkt, bedächtig und zögernd. Er trug auch jetzt noch den veralteten Kaiſerbart, weil er es unter ſeiner Würde hielt, dem Umſchwung der Verhältniſſe an ſeiner Perſon Konzeſſionen zu machen, er war Demokrat durch und durch, ein treuer Diener der Republik, aber das ſchöne Kaiſerbild von Angeli hing noch immer über ſeinem Schreibtiſch. Wie er jetzt eintrat, war der alte Herr mit den ſchlohweißen Haaren und den milden, graublauen Augen der echte Altöſterreicher, den man bald nur mehr aus Büchern kennen wird.
„Leo iſt draußen und kratzt ſich den Schnee von den Sohlen ab“, ſagte Hofrat Spineder, während er die Kerzen bedächtig anzündete. „Geht hinauf zu ihm, ich werde die Beſcherung machen und klingeln, wenn es ſo weit iſt.“
Frau Spineder ſah noch raſch in die Küche nach dem Karpfen, der Sachertorte und den Krapfen; Lotte hing aber ſchon am Halſe Leos und ſchluchzte wortlos an ſeiner Bruſt.
Leo Strakoſch, ſchlank, dunkelhaarig, glattraſiert, mit lebhaften braunen Augen, aus denen Klugheit und Humor blitzten, war um zehn Jahre älter als Lotte. Im letzten Kriegsjahre war er als Einjähriger eingerückt und im Felde hatte er den gleichaltrigen Rudolf Spineder, den Sohn des Hofrates, kennen und als Freund lieben und ſchätzen gelernt. In der letzten Piaveſchlacht hatte Rudolf einen Kopfſchuß bekommen und in den Armen des Freundes ſeine junge Seele ausgehaucht, nachdem er ihn gebeten, die Eltern und das Schweſterchen zu grüßen. So war Leo in das Haus des Hofrates gekommen, der arme Sohn eines kleinen Agenten, fühlte ſich in dem vornehm-bürgerlichen Milieu unendlich wohl, und als Lotte aus einem Kinde ein blühendes, ſchönes Mädchen wurde, ſtand es in ihm feſt: Dieſe oder keine! Lotte erwiderte die Liebe des lebhaften, geiſtvollen, begabten jungen Mannes von ganzem Herzen.
Hofrat Spineder ſah die Entwicklung dieſer Liebe und hatte nichts einzuwenden. Leo Strakoſch war Radierer, in jungen Jahren ſchon ganz außerordentlich erfolgreich, man begann ſich um ſeine Zeichnungen zu reißen, eine vor einem Jahr erſchienene Leo Strakoſch-Mappe erregte Aufſehen auch im Ausland, und der Hofrat wie ſeine Frau ſagten ſich mit Recht, daß ſie ihr Kind in keine beſſeren Hände würden geben können, als in die Leos, den ſie nach und nach liebten wie ihren eigenen Sohn. Daß Leo Jude war, focht den Hofrat nicht im mindeſten an. In ſeinem Hauſe verkehrten viele Muſiker, Literaten, Maler, die Mehrzahl von ihnen waren Juden, und der verſtorbene Rechtsanwalt Viktor Roſen war ſogar der intimſte Freund Spineders geweſen.
Als vor Jahresfriſt zuerſt in politiſchen Kreiſen von dem Plan des Führers der Chriſtlichſozialen, ein Antijudengeſetz durchzubringen, geraunt wurde, hatte Hofrat Spineder daran nicht glauben wollen und können. Und als er daran glauben mußte, war ſeine Empörung maßlos geweſen. Und noch größer ſein Schmerz über den Schickſalsſchlag, den die bevorſtehende Ausweiſung Leos für ſeine Tochter bedeutete. Den Gedanken aber, ſeine Lotte mit Leo ins Exil ziehen zu laſſen, wies er weit von ſich, die Liebe zu ſeinem einzigen Kind und der Egoismus des Alternden vereinigten ſich hier und machten ihn abſolut unerbittlich.
Die Beſcherung war ſehr reichlich ausgefallen, Lotte von den Eltern freigebig bedacht worden, aber ſie ſchenkte dem Pelzkragen, den Seidenſtrümpfen, den Büchern und Noten kaum einen Blick, ſondern preßte immer wieder das kleine Bild Leos, das er ihr in einem goldenen Medaillon geſchenkt, an die zuckenden Lippen. Man ſaß nun beim feſtlich geſchmückten Tiſch, aber es herrſchte eher Trauer als Feſtſtimmung und vergeblich verſuchte der Hofrat ein leichtes Geſpräch zu entwickeln. Als dann der ſelbſtgekelterte goldgelbe Wein kredenzt wurde, erhob Hofrat Spineder ſein Glas und ſagte mit bewegter Stimme:
„Dein Wohl, Leo! Möge das Glück dich auch in der Fremde begleiten, möge das Schickſal in abſehbarer Zeit uns alle wieder vereinigen! Kinder, ich weiß, daß ihr mir grollt und ich kann doch nichts tun, als mit euch leiden. Seht, Mutter und ich haben den beſten Teil des Lebens hinter uns, ich ſtehe an der Schwelle des Greiſenalters, und ſo iſt es doch nur natürlich, wenn wir uns mit allen Faſern dagegen ſträuben, den letzten Sonnenſtrahl, der uns noch leuchtet, fortziehen zu laſſen. Aber ſelbſt wenn wir ſolcher ſchier übermenſchlicher Selbſtloſigkeit fähig wären, würde mich das Pflichtgefühl davon abhalten. Lebten wir in normalen Zeiten, ſo ließ ich euch ziehen und würde ſagen, daß wir ja ſchließlich alljährlich ein paar Monate bei euch in Paris zubringen können. Aber das iſt heute unmöglich, da die Krone faſt wertlos iſt. Nur Spekulanten können ſich noch ſolchen Luxus leiſten, und ihr wißt, daß wir in guten, geordneten Verhältniſſen leben, aber doch mit jedem Tauſendkronenſchein rechnen müſſen. Würde Lotte jetzt mit dir in die Fremde gehen, ſo müßte ſie das Elternhaus für immer verlieren. Und nicht nur ſie, ſondern auch euere Kinder wären entwurzelt, vaterlandslos, würden nicht wiſſen, wo ihre Großeltern in der Erde ruhen. Und wer weiß, es würde der Tag vielleicht kommen, wo du, Lotte, von ſolcher Heimatsſehnſucht erfüllt wäreſt, daß ſie deine Liebe zum Gatten verdrängen und dein ganzes Weſen ſich in einen bitteren Vorwurf gegen den, dem du in die Verbannung gefolgt, wandeln würde. Ihr ſeid beide jung, du, Lotte, biſt faſt noch ein Kind, du Leo, ein Jüngling und das ganze Leben liegt vor euch. Laſſet ein paar Jahre vergehen, vielleicht ſeid ihr dann voneinander losgekommen oder aber es traten Entwicklungen ein, die euch doch noch vereinigen.“
Während Lotte faſſungslos weinte und mit ihr ihre Mutter, hob nun auch Leo ſein Glas.
„Vater, ſo darf ich dich ja doch wohl noch nennen, ich muß die Gründe deiner Weigerung, Lotte mit mir ziehen zu laſſen, würdigen, wahrſcheinlich würde ich an deiner Stelle nicht anders handeln. Aber eines ſage ich dir, ſage ich Lotte, die ich nie aufhören werde zu lieben: Mein Leben wird von nun an ein einziger Kampf werden! Man ſagt meinem Volke Zähigkeit nach — nun ſo will ich die ganze Fähigkeit meines Volkes in mir vereinigen. Mit Kopf und Herz, mit meinem ganzen Können und Wollen werde ich darauf hinarbeiten, Lotte zu gewinnen, ſo oder ſo! Man kann mich vertreiben wie einen räudigen Hund, man kann aber den Willen in mir nicht töten! Und ich leere mein Glas auf euer Wohl und auf unſere Vereinigung, die früher kommen wird als wir alle heute zu hoffen wagen!“
Am nächſten Tage fuhr Leo Strakoſch mit einem Zuge fort, der ſich zum großen Teil aus geiſtigen Arbeitern und Künſtlern zuſammenſetzte. Hofrat Spineder, Frau Spineder und Lotte gaben ihm das Geleite. Außer ihnen ließ Leo nichts zurück, was ihm wert war, da ſeine Eltern längſt nicht mehr lebten.
Der letzte Jahrestag wurde für Wien zu einem Feſttag, wie ihn die luſtige und leichtſinnige Stadt noch nie erlebt hatte. Unter Aufbietung aller Verkehrsmittel, mit Hilfe von Lokomotiven, die aus den Nachbarſtaaten entliehen waren, bei Einſtellung jedes ſonſtigen Perſonen- und Güterverkehrs war es gelungen, an dieſem Tag in dreißig rieſigen Trains die letzten Juden fortzubringen. Vormittags fuhren die Direktoren und leitenden Funktionäre der Großbanken, mittags die jüdiſchen Journaliſten mit ihren Familien. Sie hatten bis zum letzten Augenblicke ausgeharrt, noch die Abendblätter waren von ihnen geſchrieben und redigiert worden, und erſt als die feuchten Blätter aus den Rotationsmaſchinen flogen, rückten die neuen Herren in die Redaktionsſtuben ein. Die Mehrzahl der Wiener Journaliſten hatte Engagements bei reichsdeutſchen und deutſchböhmiſchen Blättern gefunden, viele wanderten nach Amerika aus, einige wenige beſchloſſen, ſich anderen Berufen zuzuwenden. Der Herausgeber der großen „Weltpreſſe“ aber überſiedelte mit einem kleinen Stabe von Mitarbeitern nach London, um dort unter dem Titel „Im Exil“ eine deutſche Wochenſchrift, die ſich in erſter Linie mit Oeſterreich befaſſen ſollte, erſcheinen zu laſſen.
Um ein Uhr mittags verkündeten Sirenentöne, daß der letzte Zug mit Juden Wien verlaſſen, um ſechs Uhr abends läuteten ſämtliche Kirchenglocken zum Zeichen, daß in ganz Oeſterreich kein Jude mehr weilte.
In dieſem Augenblicke begann Wien ſein großes Befreiungsfeſt zu feiern. Von hunderttauſend Häuſergiebeln wurden die rot-weiß-roten Fahnen gehißt, Tücher in dieſen Farben ſchmückten alle Geſchäfte, Lampions vor allen Fenſtern wurden entzündet, und bei ſternenheller Froſtnacht zog eine Million Menſchen über den kniſternden Schnee, um ſich zu Zügen zu vereinigen. Männer, Frauen und Kinder trugen Lampions, Muſikkapellen marſchierten den einzelnen Bezirksgruppen voran, ein Jauchzen und Jubeln ertönte, und immer wieder zerriß der Ruf: „Es lebe das chriſtliche Wien“, die Luft!
Treffpunkt aller Züge war das Rathaus. In feenhafter Pracht lag der ſchöne, gotiſche Bau Meiſter Schmidts da. Millionen elektriſcher Lichter ließen ihn wie eine einzige Flamme leuchten. Auf einer Tribüne ſpielten die unvergleichlichen Wiener Philharmoniker, von Juden geſäubert und daher ein wenig reduziert, volkstümliche Weiſen, und der Wiener Männergeſangverein bot ſeine beſten Lieder dar. Die Volkshalle, der große Platz vor dem Rathaus, der Ring vom Schottentor bis zur Bellaria bildeten eine einzige Menſchenmauer, und um acht Uhr war es kein Rufen mehr, ſondern ein Heulen aus einer Million Kehlen, das immer wieder erdröhnte.
Endlich kam der große Moment. Bürgermeiſter Karl Maria Laberl erſchien mit dem Bundeskanzler Doktor Schwertfeger auf dem Balkon. Der Bundeskanzler ergriff zuerſt mit machtvoller Stimme, die ſich bis jenſeits des Ringes Gehör verſchaffte, das Wort. Er ſprach kurz, trocken, aber um ſo wirkungsvoller:
„Mitbürger, ein ungeheures Werk iſt vollendet! Alles das, was in ſeinem innerſten Weſen nicht öſterreichiſch iſt, hat die Grenzen unſeres kleinen, aber ſchönen Vaterlandes verlaſſen! Wir ſind nun allein unter uns, eine einzige Familie, wir ſind fürderhin auf uns und unſere Eigenart geſtellt, mit eigener Kraft werden wir unſer geſäubertes Haus friſch beſtellen, morſche Mauern ſtützen, geborſtene Pfeiler aufbauen. Wiener und Brüder aus dem ganzen Bundesſtaat! Wir feiern heute ein Feſt, wie es noch nie gefeiert wurde. Morgen beginnt ein neues Jahr und für uns alle ein neues Leben. Morgen dürfen wir noch ruhen und uns beſchaulich beſinnen. Dann aber müſſen wir arbeiten, wie wir noch nie gearbeitet haben. Unſer ganzes Können müſſen wir unſerem Vaterlande widmen, jede Stunde muß genützt werden. Wir werden der ganzen Welt zeigen müſſen, daß Oeſterreich auch ohne Juden leben kann, ja daß wir eben deshalb geſunden, weil wir das Fremde aus unſerem Blutkreislauf entfernt haben. Mitbürger, ſchwört es mir in dieſer feierlichen Stunde in die Hand, daß wir alle nicht mehr ſchwelgend in den Tag hineinleben wollen, ſondern arbeiten, arbeiten und nichts als arbeiten, bis uns die Früchte unſerer Arbeit erblüht ſind.“
Und der Ruf: „Wir ſchwören es!“ brauſte auf, fremde Menſchen ſchüttelten einander die Hände, Männer und Frauen ſanken einander weinend und lachend in die Arme, die neue Volkshymne wurde intoniert und mitgeſungen und dann erklang ohne Verabredung und doch wie aus einem Munde das „Hoch unſer Doktor Schwertfeger, der Befreier Oeſterreichs!“
Als ſich der Jubel und Tumult ein wenig gelegt hatte, kam endlich auch Bürgermeiſter Herr Karl Maria Laberl zum Wort. Er begann ſeine Anſprache mit den Worten:
„Meine lieben Chriſten! — —“
Aber viel mehr vernahm die Menge nicht, denn dem warmen Föhn, der ſeit Minuten durch die vorher noch ſo kalte Nacht fegte, folgte in dieſem Augenblick ein Regenguß, und ſchreiend, kreiſchend zerſtreute ſich die Menſchenmaſſe, um durch ein Meer von Kot und zerfloſſenem Schnee zu den Straßenbahnen zu eilen.
Lotte Spineder an Leo Strakoſch, Paris, Rue Foch 22.
Mein Lieber, nun iſt genau ein Jahr vergangen, ſeitdem ich Dir auf dem Weſtbahnhofe mit meinem von Tränen ganz durchnäßten Taſchentuch nachgewinkt habe. Und das erſte Weihnachtsfeſt, das ich als Deine Braut ohne Dich verbringen mußte, liegt hinter mir. Es war wieder recht traurig, und Papa meinte ſehr beſorgt, daß ich noch ganz krank und elend werden würde, wenn ich mich meinem Schmerz ſo hingebe. Ich bin jetzt nämlich immer ſehr blaß, ſchlafe ſchlecht, habe viel Kopfſchmerz und werde gleich ſo müde. Unſer Hausarzt meint, es ſei Bleichſucht und hat mir Guberquelle verordnet, aber ich weiß, daß es nur meine Sehnſucht nach Dir iſt, die mich ſchwach und krank macht.
Unſagbare Freude hat mir Deine wundervolle Mappe bereitet, die gerade am Weihnachtsabend eingetroffen iſt. Du biſt jetzt, wie man aus dieſen herrlichen Stichen ſieht, ein ganz großer Künſtler; Papa, der doch ſo viel davon verſteht, meint, daß Du ſchon zu den erſten Meiſtern gehörſt und hat furchtbar auf unſere Regierung geſchimpft, die ſolche Männer, ſtatt ſie zu ehren, aus dem Lande jagt. Dein Brief, in dem Du von Deinen großen Erfolgen berichteſt, hat mich natürlich ſehr beglückt, und Papa hat umgerechnet, daß die dreißigtauſend Francs, die Du für dieſe Mappe bekommen haſt, viele Millionen öſterreichiſcher Kronen ſind. Die Krone iſt nämlich wieder rieſig gefallen. Nur als ich las, daß Du ſo viel in Geſellſchaft verkehrſt und dich der Einladungen in die feinſten Häuſer kaum erwehren kannſt, bekam ich ordentlich Herzklopfen. Wirſt Du bei den ſchönen Pariſerinnen nicht Deine arme, kleine Lotte ganz vergeſſen? O Leo, was ſoll nur aus uns werden, wann werde ich wieder meinen Kopf an Deine Schulter legen können? Weißt Du, Leo, neulich flog ein großer Aeroplan über den Kahlenberg weſtwärts, und da habe ich gedacht, daß ich, wenn ich die Möglichkeit dazu hätte, gleich zu Dir nach Paris fliegen würde, ob meine Eltern es nun erlauben oder nicht. Ueberhaupt, wenn ich wüßte, wie man, ohne daß es jemand erfährt, einen Paß bekommt, würde ich mir von Dir Geld ſchicken laſſen und heimlich zu Dir kommen. Ich weiß, daß ich Papa und die Mutter damit furchtbar kränken würde, aber meine Sehnſucht nach Dir iſt ſo groß, daß ich ganz ſchlecht und grauſam geworden bin.
Du bitteſt mich, ich möge Dir in großen Zügen die Entwicklung der Dinge ſchildern, ſeitdem die Israeliten fort ſind, da Du aus den farbloſen und langweiligen Wiener Zeitungen kein richtiges Bild bekommen kannſt. Nun, ich will verſuchen, Dir alles zu erzählen, was ich ſelbſt ſehe oder von den anderen weiß; aber wenn es dumm wird, ſo darfſt Du mich nicht auslachen.
Alſo, von dem großen Jubel und den Feſtzügen am Silveſtertage, als die letzten Israeliten Wien und Oeſterreich verlaſſen hatten, wirſt Du ja ohnedies alles aus den Zeitungen erſehen haben. Nun, den ganzen Januar hielt dieſe Stimmung an, die Leute machten alle fröhliche Geſichter, ein Feſtkonzert folgte dem anderen und immer wieder zogen die Maſſen vor das Rathaus oder das Kanzlerpalais, um dem Bürgermeiſter Laberl und dem Doktor Schwertfeger zu huldigen. Mir ſelbſt iſt es aufgefallen, daß die Wiener in der Elektriſchen viel freundlicher und netter waren als vorher, und der Hofrat Tumpel, der bei uns verkehrt, Du weißt, der mit dem blonden Vollbart, den Du nie leiden mochteſt, ſagte triumphierend zu uns:
„Sehen Sie, das Wiener ſonnige Gemüt, das ſo lange von all dem Fremden überſchattet worden war, bricht ſich wieder Bahn.“
„Ja, Schnecken,“ brummte der Vater, „das iſt nur, weil den Wienern das Ganze eine Rieſenhetz iſt und weil die Lebensmittel billiger und wieder Wohnungen zu haben ſind.“ Tumpel meinte aber: „Oho, lieber Freund, das iſt es nicht allein, ſondern die indogermaniſche Naivität unſeres Volkes wagt ſich wieder heraus!“
Die Lebensmittel waren wirklich viel billiger geworden, weil unſere Krone damals ſehr gut, nämlich auf 0·02 Centime ſtand. Ich erinnere mich, daß Mama im Winter einmal ganz froh nach Hauſe kam und ſagte, man könne jetzt wieder exiſtieren, das Schweineſchmalz koſtet nur mehr zehntauſend Kronen per Kilogramm. Und das mit den Wohnungen hat den Wienern wirklich ſo viel Freude gemacht. Stelle Dir nur vor: Plötzlich hingen faſt an allen Haustoren Zettel, auf denen Wohnungen und möblierte Zimmer angeboten wurden. Die Leute gingen rein zum Zeitvertreib von Haus zu Haus, um die Wohnungen zu beſichtigen. Und den ganzen Tag ſah man Möbelwagen durch die Straßen fahren.
Das dauerte ſo bis zum Faſching, aber dann war die gute Laune weg. Plötzlich begann große Arbeitsloſigkeit zu herrſchen. Die ganze Konfektionsinduſtrie ſtand ſtill, und jeden Augenblick hörte man, daß dieſes oder jenes Geſchäft abgekracht ſei. Die Blätter ſchrieben, man müſſe die ehrlichen chriſtlichen Kaufleute, die die alten jüdiſchen Geſchäfte übernommen hatten und ihrer Aufgabe noch nicht gewachſen ſeien, von Staats wegen unterſtützen. Die Arbeitsloſen machten aber großen Krawall, zogen über den Ring, demolierten ein paar Geſchäfte, ſchlugen Fenſterſcheiben ein und ſetzten es durch, daß ihnen der Staat zehntauſend Kronen täglich Arbeitsloſenunterſtützung zahlte. Da begann die Krone zu fallen, weil, wie Papa mir erklärte, der Banknotenumlauf enorm ſtieg. Auf ja und nein ſtand die Krone wieder auf 0·01 Centime und die Lebensmittel wurden wieder ſo teuer und noch teurer als früher. Heute erzählte Mama ganz aufgeregt, daß die Butter ſchon dreißigtauſend Kronen koſtet. Seit dem Frühjahr ſind die Leute wieder ſehr mürriſch und in der Elektriſchen wird viel geſchimpft. Hauptſächlich auf die Schieber, die alles verteuern, aber man ſpricht nicht von jüdiſchen Schiebern, ſondern nur ſo im allgemeinen.
Du fragſt, ob ich viel ins Theater gehe? Ach nein, lieber Leo, wenn man die Oper ausnimmt, ſo iſt in den Theatern gar nichts mehr los. In den Schauſpielhäuſern wird ununterbrochen Ganghofer und Anzengruber geſpielt, weil man von Israeliten nichts aufführen darf und die Klaſſiker ja doch nicht ziehen. Eine Zeitlang hat man auch viel von Shaw gegeben; ſeitdem er aber in einer engliſchen Zeitung erklärt hat, Wien ſei ein internationales Dummheitsmuſeum geworden, iſt er verpönt. Hauptſächlich aber deshalb, weil er auch geſagt hat, ein geſcheiter Jude ſei ihm lieber als zehn dumme Chriſten. Die Operettentheater ſind alle pleite. (Erinnerſt Du Dich, wie ich lachen mußte, als ich von Dir zum erſtenmal das Wort pleite hörte?) Es hat ſich nämlich herausgeſtellt, daß ſämtliche alte und neue Operetten von Juden entweder komponiert oder geſchrieben ſind, meiſtens beides. Auch fehlt es an Kräften, denn faſt alle Tenore mußten ja auswandern. Wohl ſind raſch ein paar ganz ariſche Operetten herausgebracht worden, aber das Publikum hat geziſcht, weil es ein furchtbarer Schmarren war. Der Hofrat Tumpel meinte, daß ſich die chriſtliche Kunſt eben nur für ſeriöſe Sachen eigne, nicht für frivoles Zeug. Worauf Papa ſchmunzelte und ſagte, man würde bald einſehen, daß ſich die Juden und Chriſten hierzulande ſehr gut ergänzt haben.
Neulich iſt mir mittags am Graben aufgefallen, daß man heuer viel weniger elegante Herren und Damen ſieht als früher. Es wird eben gar kein Modeluxus mehr getrieben. Allerdings muß ich ſagen, daß mir die widerlichen jüdiſchen Schiebergeſichter, über die Du Dich auch immer ſo geärgert haſt, gar nicht fehlen. Dafür machen ſich auf dem Korſo ſehr viele junge Lackeln, die wie Bauern ausſehen und unmöglich angezogen ſind, mit mächtigen Uhrketten und Diamantringen an den dicken Fingern, breit. Ueberhaupt ſcheint unſer ganzer Fremdenverkehr nur mehr aus Bauern zu beſtehen. Der Beſitzer vom Hotel Imperial hat neulich in einer Zeitung geklagt, daß er jetzt Gäſte habe, die ſich mit den genagelten Schuhen ins Bett legen und ihre Jägerwäſche in der Badewanne waſchen. Wenn Du durch die Kärntnerſtraße gehen würdeſt, ſo würdeſt Du ſchauen, wie wenig elegant die Geſchäfte jetzt ſind! Nun muß ich aber ſchließen, weil es ſchon ein Uhr nachts iſt und ich auch nichts Beſonderes mehr weiß. Lebe wohl, mein Geliebter, und denke was aus, damit wir bald wieder beiſammen ſind, weil ich ſonſt gar nicht mehr leben mag. Es küßt Dich vieltauſendmal Deine ganz verzagte
Lotte.“
Herr Habietnik ging düſter, ſchweigend, mit gerunzelter Stirne durch die prunkvollen Verkaufsräume des großen Modehauſes in der Kärntnerſtraße, das einſt Zwieback geheißen und jetzt den Namen Wilhelm Habietnik trug. Herr Habietnik war der erſte Verkäufer in der Damenmaßabteilung geweſen, und mit Hilfe der Mittelbank deutſcher Sparkaſſen war es ihm gelungen, bei der großen Judenvertreibung das Haus an ſich zu bringen. Herr Habietnik ging nun, wie geſagt, von Saal zu Saal, wechſelte in jedem ein paar Worte mit dem Rayonchef, ſein Antlitz wurde immer finſterer und er ſtieß unwillige Rufe aus. Durch die ganz in Weiß und Roſa gehaltene Abteilung für Babywäſche ſchritt er, ohne ſich aufzuhalten, in den entzückenden Konditoreiſalon, der vollſtändig leer war, warf er nur einen ſchiefen Blick, dann ſtürmte er in ſein Privatkontor und ließ ſich den Prokuriſten Smetana kommen.
„Sie, Herr Smetana, ſo geht das nicht weiter, da muß etwas geſchehen! Wir ſtehen vor Oſtern, früher war das die Hochſaiſon und man konnte vor Gedränge gar nicht durch das Haus gehen, und jetzt habe ich auf meinem Rundgang drei alte Weiber gefunden, von denen zwei zuſammen eine Chenillepelerine, wie ſie gar nicht mehr exiſtieren, kaufen wollten und eine einen Barchentunterrock. Wenn wir ſo weitermachen, können wir ſperren. Sagen Sie, wie groß iſt das Betriebsdefizit, ſeitdem ich die Firma übernommen habe?“
Der Prokuriſt Smetana lächelte ſauer:
„Na, ſo an die hundert Millionen, das wird wohl reichen!“
Herr Habietnik ging aufgeregt auf und ab. „Ich verſteh' das nicht! Wir haben früher, wie die Juden noch da waren, doch auch eine Menge chriſtliche Käuferinnen gehabt! Wo ſind denn die hingekommen?“
Smetana, der früher in der Buchhaltung geſeſſen und die Rechnungen ausgeſchrieben hatte, lächelte.
„Herr Habietnik, mit den chriſtlichen Kundſchaften war es nie weit her, und wenn es ſchon Chriſtinnen waren, ſo hatte ihr Chriſtentum doch irgendwo ein Klampferl. Entweder ſie waren die Frauen oder die Maitreſſen von Juden. Bitt' Sie, da erinnere ich mich an die ſchöne Gräfin Wurmdorf, die was zuletzt noch eine Redoutentoilette für eineinhalb Millionen bei uns hat machen laſſen. Na, wer aber hat ſie gezahlt? Der Herr Gemahl vielleicht? Keine Spur! Der reiche Eisler von der Firma Eisler und Breisler! Und die Manoni von der Oper, die was die Tochter von einer waſchechten chriſtlichen Waſchfrau iſt und zehn gute Millionen im Jahr bei uns gelaſſen hat? Na, bei der hat die ganze israelitiſche Kultusgemeinde herhalten müſſen! Und die —“
Herr Habietnik winkte ab. „Trotzdem, es gab genug Damen ohne Liebhaber, die ganz ſchön eingekauft haben. Ich weiß das beſſer, weil ich doch gerade die Maßabteilung unter mir hatte.“
„Ja, ſehen Sie, Herr Habietnik, wenn es ſchon keine Jüdinnen waren, ſo war es eben die Konkurrenz der Judenfrauen, die uns geholfen hat. Wenn die Jüdinnen fein und elegant gekleidet waren, ſo wollten die chriſtlichen Damen der guten Geſellſchaft nicht zurückſtehen.“
„Da können Sie recht haben“, meinte der Chef nachdenklich. „Neulich habe ich ſelbſt gehört, wie die Frau Artander die Preiſe bekrittelte und ohne zu beſtellen mit den Worten wegging: „Ach was, heutzutage hat man es ja gottlob nicht mehr notwendig, ſich ſo aufzutackeln und jede Modedummheit mitzumachen. Ich werde eben die alten Sachen herrichten laſſen.“
Herr Habietnik bekam einen roten Kopf und ſchlug mit der Hand auf den Tiſch. „Ich habe Sie aber nicht gerufen, um mit Ihnen zu ſchmuſen, ſondern weil ich einen Rat von Ihnen will! Dazu zahl' ich Ihnen ja den hohen Gehalt!“
Smetana knickte zuſammen. „Eine Idee hätt' ich ſchon, Herr von Habietnik. Die Leut' tragen jetzt ſo viel Loden und andere ſolide Sachen. Sie haben es ja ſelbſt geſehen, ſogar nach Barchent iſt Nachfrage. Wie wäre es, wenn wir ein paar Fenſter mit Lodenſtoffen, Lodenröcken, Barchent- und Flanellwäſche füllen würden? Und dazu eine ſchöne Tafel und viel Inſerate mit der Ankündigung: Loden, Barchent, Baumwolle und Flanell — die hohe Pariſer Mode!“
Herr Habietnik bekam einen Lachkrampf und krümmte ſich ſo lange, bis ihm die Tränen über die Backen liefen. „Flanell und Loden — die große Pariſer Mode! Sie, wenn das die Frau Ella Zwieback, die jetzt in Brüſſel lebt, erfährt, ſo glaubt ſie, daß wir in Wien alle zuſammen verrückt geworden ſind! Aber meinethalben, mich ekelt die ganze Geſchichte ſchon an, ich bekomme Platzangſt, wenn ich durch das leere Haus gehe! Gut, machen Sie Lodenfenſter! Und Steirerhüteln dazu nicht vergeſſen und genagelte Schuhe! Und die Konditorei verwandeln wir langſam, aber ſicher in eine Stehbierhalle mit heißen Würſteln. Mir iſt ſchon alles egal, ſo kapores oder ſo!“
Zehn Tage ſpäter ſah man richtig hinter einem der Fenſter rote, blaue und gemuſterte Flanellröcke, Hoſen, geſtrickte Miederleibchen, hinter einem anderen Baumwollſtrümpfe und ſolides Schuhzeug und in einer der Auslagen türmten ſich Lodenſtoffe in Braun, Grau und Schwarz zu Bergen. Und die Verkaufsräume füllten ſich, bis der Bedarf der weiteſten Kreiſe gedeckt war und die Verkäuferinnen wieder verſtohlen hinter ihren ſchwarzen Seidenſchürzen gähnten oder Engelhornromane laſen.
Im Kaffee Imperial ſaß der Rechtsanwalt Dr. Haberfeld und ſchob die Zeitungen, die ihm der alte Zahlmarkör Joſef gebracht hatte, unwirſch beiſeite.
„Sie, Joſef, leer iſt es jetzt bei euch, daß man neben dem Ofen friert! Früher hat man mühſam ſein Platzerl ergattern können und jetzt, jetzt könnt' man bei euch das Traberderby abhalten, weil eh' kein Menſch im Weg ſteht!“
Joſef ſtrich die ergrauten Bartkoteletten, machte tieftraurige Augen, wiſchte mit der Serviette über den Tiſch und ſagte ſorgenvoll:
„Es geht eh' ein Ringkaffee nach dem andern ein, ich glaub', lang' wer'n mir's auch net mehr machen. Wiſſen S', Herr Doktor, was die Herren Israeliten — pardon, die Juden, waren, die ſind halt alle gern in die feinen Lokale gegangen, wo was los iſt und man was ſieht. Aber die chriſtlichen Herrſchaften, die geh'n ins Vorſtadtkaffeehaus und ſpielen ihr Tarock oder machen eine Billardpartie und gehen ſonſt lieber zum Heurigen oder ins Wirtshaus. 's iſt halt eine andere Zeit jetzt!“
„Das merkt ein Blinder, der taubſtumm iſt“, brummte der Anwalt. „Sie, Joſef, wir zwei kennen einander ja ſchon lange genug und brauchen uns keine Komödie vorzuſpielen. Mir g'fallt halt die ganze G'ſchicht net! Wien verſumpert ohne Juden!“
Joſef fuhr erſchreckt zuſammen und ſah ſich ängſtlich um.
„Ah was, es hört uns eh' niemand! Wien verſumpert, ſag' ich Ihnen, und wenn ich als alter, graduierter Antiſemit das ſag', ſo iſt es wahr, ſag' ich Ihnen! Ich wer' Ihnen was ſagen, Joſef. Wenn ich gegeſſen hab', muß ich, Sie wiſſen's ja am beſten, immer mein Soda-Bikarbonat nehmen, um die elendige Magenſäure zu bekämpfen. Wenn ich aber gar keine Magenſäure hätt', ſo könnt' ich überhaupt nichts verdauen und müßt' krepieren. Und wiſſen S', der Antiſemitismus, der war das Soda zur Bekämpfung der Juden, damit ſie nicht läſtig werden! Jetzt haben wir aber keine Magenſäure, das heißt, keine Juden, ſondern nur Soda, und ich glaub', daran wer'n wir noch zugrund' geh'n!“
Joſef, der mit atemloſer und ehrfürchtiger Spannung gelauſcht hatte, ſchlug verzweifelt mit der Serviette auf einen Stuhl und flüſterte beklommen:
„Recht haben S', Herr Doktor, wenn man ſich auch net traut, es laut zu ſagen. Mit dem Zugrundegehen aber fang' ich ſchon an! Ich habe im letzten Halbjahr die Hälfte von meinem Erſparten aufgebraucht. Herr Doktor, unter uns geſagt, und weil Sie ſelbſt ein nobler Herr ſein, den was es nicht treffen tut: Die Herren Israeliten, pardon, ich mein' die Juden, waren nobel im Trinkgeldgeben!“
Joſef räumte die Zeitungen fort, die dem Doktor Haberfeld zu langweilig waren, brachte auf ſeinen Wunſch das Prager und das Berliner Tagblatt und wandte ſich anderen, eben eingetretenen Gäſten zu, die ſich je ein Viertel Wein beſtellten.
„Wie in einem Beiſel“, raunte Joſef dem Rechtsanwalt im Vorübergehen zu. Und dieſer nickte verſtändnisvoll, zündete ſich eine Zigarre an und gedachte der Zeiten, da er allabendlich im Kreiſe jüdiſcher Kollegen hier geſeſſen und trotz aller politiſchen Gegnerſchaft manch' klugen und guten Gedanken mit ihnen ausgetauſcht hatte ...
Der Frühlingsbeginn, der ſeit jeher als politiſch aufgeregte Zeit gegolten hat, brachte auch diesmal den Wienern unruhige Tage. Die Arbeitsloſigkeit griff erſchreckend um ſich, eine Fabrik nach der anderen ſtellte den Betrieb ein, aber auch die Konkurſe der Detailgeſchäfte häuften ſich und allenthalben gab es lärmende Kundgebungen, nicht nur der Arbeiter, für die der Staat halbwegs ſorgte, ſondern auch der entlaſſenen Kommis und Verkäuferinnen, Buchhalter und Tippmädels, bis in bewegter Miniſterratsſitzung beſchloſſen wurde, auch dieſen Kategorien für die Zeit ihrer Stellenloſigkeit Zuſchüſſe zu gewähren. Der Finanzminiſter hatte ſich mit Händen und Füßen dagegen geſträubt, der Kanzler, Doktor Schwertfeger, aber ſchließlich ſeinen Willen durchgeſetzt. Doktor Schwertfeger, der noch ſtarrer, knochiger, härter geworden war, erklärte, daß auch dieſe neue Belaſtung getragen werden müſſe.
„Wir dürfen es nicht dazu kommen laſſen, daß eines Tages der Ausweiſung der Juden die Schuld an Not und Elend gegeben wird. Wir haben bis heute die „Arbeiter-Zeitung“, die jetzt zwar von Chriſten, aber doch noch im jüdiſchen Geiſte geſchrieben wird, bewegen können, jede Kritik des Antijuden-Geſetzes zu unterlaſſen. Erfüllen wir die Forderungen der Stellungsloſen im kaufmänniſchen Betriebe nicht, ſo wird ihr die Geduld reißen und ſie wird, ſchon um dieſe Leute in ihr Lager zu drängen, eine Polemik eröffnen, die verderblich werden kann, weil wir die Uebergangszeit von der Judenherrſchaft zur Befreiung noch nicht hinter uns haben.“
„Und unſere Krone?“ wandte der Finanzminiſter Profeſſor Trumm höhniſch ein.
„Wir müſſen uns an unſere chriſtlichen Freunde im Auslande wenden und ihnen unſere Bedrängnis klar machen. Am beſten, Sie fahren gleich nach Paris und London.“
Trumm lachte laut auf. „Ganz vergeblich! Schon von der erſten Bittfahrt vor drei Monaten bin ich mit leeren Händen gekommen! Die Leute geben nichts mehr, haben ja ſogar ihre feſten Verſprechungen nicht ganz gehalten. Sie unterſchätzen den Einfluß unſerer früheren Konnationalen, der öſterreichiſchen Juden, die zum Teil heute in den ausländiſchen Banken ſitzen! Und abgeſehen davon, der chriſtliche Begeiſterungstaumel iſt vorbei und man ſteht wieder auf dem kalt-geſchäftlichen Standpunkt. Sogar Miſter Huxtable hat abgewinkt. Alſo meinethalben, bewilligen wir die Forderungen der ſtellenloſen kaufmänniſchen Angeſtellten! Aber ich waſche meine Hände in Unſchuld.“
Am nächſten Tag wurde der Kabinettsbeſchluß verlautbart, es trat wieder Ruhe ein, aber am zweitnächſten Tag fiel die Krone an der Züricher Börſe um dreißig Prozent. Und die „Neue Züricher Zeitung“ veröffentlichte einen Artikel, in dem ſie ziffernmäßig nachwies, daß Wien langſam aber ſicher aufhöre, irgendwelche Bedeutung für den mitteleuropäiſchen Handelsverkehr zu haben und der Rivalität Prags und Budapeſts unterliege. „In Ungarn iſt man nach dem Ende des Horthy-Regimes ebenſo ſchlau wie in Prag geweſen. Man hat gewiſſe Kategorien von anſtändigen Juden mit offenen Armen aus Wien aufgenommen und dadurch den Handel an ſich geriſſen. Die Einkäufer der ganzen Welt können, weil ſie zum großen Teil Juden ſind, ohnedies Wien nicht mehr beſuchen, ſie gehen nach Prag, Brünn und Budapeſt, in erſter Linie natürlich nach Berlin, das reißt die chriſtlichen Einkäufer mit, die öſterreichiſchen Erzeuger von Fertigfabrikaten, wie Ledergalanterie, Schuhe, Keramik und ſo weiter, müſſen, ſtatt die Einkäufer bei ſich zu empfangen, mit dem Muſterkoffer nach dem Ausland reiſen, kurzum, es werden trotz des beiſpiellos niedrigen Standes der Krone in Wien keine nennenswerten Geſchäfte gemacht. Damit hat naturgemäß in Wien auch das Schiebertum in Valuten ſein Ende erreicht, aber wie es ſcheint, auf Koſten des öſterreichiſchen Organismus. Der geniale Bundeskanzler Doktor Schwertfeger hat mit ſeinem Geſetz keine große, ſondern eine allzugroße Tat getan!“
Und wie zur Bekräftigung der Wahrheit dieſes Artikels begann ſich in Wien eine völlige Deroutierung des Bankenweſens einzuſtellen. Die ausländiſchen Konſortien, die die Wiener Großbanken übernommen hatten, ſahen ſich in ihren Hoffnungen bitter enttäuſcht. Ihr Umſatz wurde immer geringer, mit dem Fortgang der Juden hatte auch das Börſenſpiel einen beträchtlichen Rückgang aufzuweiſen, und die Banken waren genötigt, wenn ſie nicht mit Verluſt arbeiten wollten, eine der Tauſenden von Bankfilialen, mit denen Wien überfüllt war, nach der anderen aufzulaſſen. Vergebens legte die Organiſation der Bankbeamten dagegen Proteſt ein, daß ein Teil ihrer Mitglieder brotlos gemacht wurde. Die Banken ſteckten ſich hinter ihre Geſandtſchaften, es kam zu peinlichen diplomatiſchen Interventionen, die damit endeten, daß die öſterreichiſche Regierung, ſtatt ihre eigenen Beamten abzubauen, noch die ſtellenloſen Bankangeſtellten in ihren Dienſt nehmen mußte. Und die Krone fiel auf ein Tauſendſtel Centime.
An einem ſchönen, ſommerlich warmen Maimorgen kam vom Weſtbahnhof her ein Automobil vor das Hotel Briſtol gefahren, dem ein eleganter, ſchlanker, dunkelhaariger Herr entſtieg. Der Hoteldirektor muſterte mit geübtem Blick den ſchweren Lederkoffer und das Handgepäck und dann erſt den Fremden, dem ein kleines Knebelbärtchen im Verein mit dem aufgezwirbelten und in Wien ſehr unmodernen Schnurrbart einen exotiſchen Anſtrich verlieh. Südfranzoſe! taxierte der Direktor, rechnete raſch im Kopf franzöſiſche Franken in Kronen um, und beſchloß, dem erſtaunlichen Reſultat gemäß, den Zimmerpreis zu ſtellen. Auf die franzöſiſch vorgebrachte Frage, ob ein Zimmer frei ſei, erwiderte er, ein ironiſches Lächeln mühſam unterdrückend:
„Jawohl, Monſieur, ein einzelnes Zimmer gefällig oder ein Appartement mit Bad? Mit Ausſicht auf den Ring oder nach rückwärts?“
Der Paſſagier ließ vor Erſtaunen das eingeklemmte Monokel fallen.
„Ja, wie iſt denn das? Früher konnte man doch ohne vorherige Anmeldung nirgends unterkommen!“
„Mein Herr,“ ſeufzte der Direktor jetzt tief und ehrlich, „Sie waren wahrſcheinlich anderthalb Jahre oder länger nicht mehr in Wien! Seither hat ſich viel verändert!“
Der Fremde war ſofort im Bilde, nickte verſtändnisvoll, forderte ein Appartement auf die Ringſtraße hinaus und füllte dann den Meldezettel aus.
„Henry Dufresne, Kunſtmaler aus Paris, 29 Jahre alt, katholiſch, ledig.“
Monſieur Dufresne nahm ein Bad, kleidete ſich um, pfiff dabei vergnügt einen Pariſer Gaſſenhauer vor ſich hin, ließ ſich ein vorzügliches Frühſtück auf dem Zimmer ſervieren und verließ dann ſo gegen zehn Uhr vormittags erſichtlich aufgeräumt das Hotel.
Der Franzoſe mit dem Knebelbärtchen kannte ſich in Wien entſchieden gut aus, denn er ſchwang ſich ohne jemanden zu fragen, auf einen Straßenbahnwagen, und er mußte auch die deutſche Sprache vorzüglich beherrſchen, denn man ſah ihm an, daß er den Geſprächen der Umſtehenden intereſſiert lauſchte. Als eine alte Frau über die Teuerung zu jammern begann und arg auf die hohe Obrigkeit ſchimpfte, klopfte Herr Dufresne ſie auf die Schulter und meinte in tadelloſem Deutſch und wieneriſchem Akzent beſänftigend:
„Wie kann man nur ſo was ſagen, Mutterl, wir müſſen doch alle froh und glücklich ſein, weil wir die Juden losgeworden ſind.“
Aber das Mutterl begehrte jetzt erſt recht auf.
„Mir ham' die Juden nie was g'tan! Wegen meiner hätten ſ' in Wien bleiben können. A ſo a gute Bedienung hab' i bei an jüdiſchen Herrn g'habt und alleweil, wann er a Madl mit nach Haus g'bracht und an Unordnung g'macht hat, hat er mir an Hunderter extra g'ſchenkt. Leben und leben laſſen, hat er immer g'ſagt und recht hat er g'habt!“
Die Leute auf der Plattform lachten und ein biederer Mann mit einer weinſelig funkelnden Naſe meinte beſtätigend:
„Ja, das derf man ſchon ſagen, es hat auch anſtändige Leut' unter den Juden 'geben!“
Ein eigenartiges Lächeln ſpielte um den Mund des Franzoſen, der nun ausſtieg und langſam zu Fuß die Währingerſtraße entlang ſchlenderte, dann in die Nußdorferſtraße einbog, mitunter vor einer Auslage kopfſchüttelnd ſtehen blieb, die Preiſe der ausgeſtellten Waren zur Kenntnis nahm und ſo ſchließlich in die Billrothſtraße kam, die im weiteren Verlauf nach den rebenreichen Vororten Sievering und Grinzing führt.
Ein Zettel am Haustor eines modernen Zinspalaſtes in der Billrothſtraße feſſelte ſeine Aufmerkſamkeit.
„Kleine, elegant möblierte Wohnung mit Atelier ſofort zu vermieten. Auskunft erteilt der Portier.“
Kurz entſchloſſen betrat Herr Dufresne das Haus und ſuchte den Portier auf, der ihn mittelſt Lift nach dem fünften Stock führte und die Wohnung zeigte. Sie beſtand aus einem Schlafzimmer, einem als Herrenzimmer eingerichteten Salon, an den ſich ein atelierartiger, großer Raum mit Glasdach ſchloß. Auch ein Badezimmer war vorhanden.
„Wie kommt es, daß die Wohnung leer ſteht?“
„I, du meine Güte,“ rief der Portier, „in Wien ſtehen jetzt an die zwanzigtauſend Wohnungen leer! Dieſe da hat ein Architekt, ein Herr Roſenbaum, gehabt, der mit den anderen Juden fort mußte. Der Hausherr hat ihm die Möbel abgekauft, konnte aber bis heute keinen Mieter finden, weil keine Küche dabei iſt.“
Nach weiteren fünf Minuten hielt der Portier einen Zehntauſendkronenſchein als Angabe in der Hand, und Herr Dufresne war Beſitzer der Wohnung. Als er jetzt mit beſchleunigten Schritten gegen Grinzing ging, wirbelte er vergnügt ſein Spazierſtöckchen in der Luft und murmelte vor ſich hin: „Der Anfang iſt gut, beſſer hätte ich es mit der Wohnung gar nicht treffen können.“ Je näher er aber Grinzing kam, deſto erregter wurde er, ſeine Wangen färbten ſich rot und ſeine braunen luſtigen Augen leuchteten wie im Fieber. Nun hatte er die Kobenzlgaſſe erreicht und ſeine Schritte wurden langſam, faſt ſchleppend, wie die eines Mannes, der einem ſchickſalsſchweren Augenblick entgegengeht. Vor dem Hauſe des Hofrates Spineder blieb er tiefatmend ſtehen und zog ſich den grauen Kalabreſerhut in die Stirne, daß man nur mehr ſeinen Knebelbart und das Kinn ſah. Unſchlüſſig ging er auf und ab, mitunter nervös auf die Armbanduhr ſehend, die auf halb zwölf wies. Gerade als er wieder vor dem grünen Tor ſtand, ging dieſes auf und ein Dienſtmädchen verließ das Haus. Und eben in dieſem Augenblick, als das Tor offen ſtand, ſah Herr Dufresne, wie von der links im Hofe gelegenen Wohnungstür ein junges, weißgekleidetes Mädchen mit goldblonden Haaren, die kein Hut verdeckte, in der Hand ein Buch, den Hof nach rückwärts durchſchritt und den Garten aufwärts ging.
„Hurra!“ ſchrie der Mann mit dem Knebelbart in ſich hinein und ſein Kriegsplan war fertig. Rechts vom Spinederſchen Grundſtück lag, von ihm durch einen Holzzaun getrennt, ein langer, leerer Bauplatz, ſeit dem Kriege proviſoriſch in einen rieſigen Gemüſegarten verwandelt. Der Länge nach zog ſich dieſer Gemüſegarten bis hoch hinauf zum Luſthäuschen auf der höchſten Stelle des Spinedergartens. Auf der anderen Längsſeite war das Grundſtück ebenfalls durch einen Holzzaun von einer Nebengaſſe der Kobenzlgaſſe getrennt, aber dieſer Zaun war verwahrloſt und wies mehrfach Unterbrechungen auf. Durch eines der Löcher kroch nun der Franzoſe, eilte mit langen Sätzen den Gemüſegarten aufwärts, wobei er links von ſich das blonde Mädchen gehen ſah und es bald hinter ſich ließ. Nun war Herr Dufresne ganz oben, mit einem Ruck ſchwang er ſich über den Zaun in den Garten des Hofrates Spineder hinüber und verſteckte ſich hinter einem mächtigen Lindenbaum, der mitten im Weingarten ſtand. Einige Minuten ſpäter war das Mädchen beim Baum angelangt, aber es konnte den Mann hinter dem Baum nicht ſehen. Bis plötzlich Unerwartetes geſchah. Herr Dufresne rief halblaut: „Lotte!“ Und als Lotte Spineder erſchreckt und verwirrt ſtehen blieb und ſich umſah, rief er wieder: „Lotte! Ich bin es, um Himmelswillen erſchrick nicht!“
Im nächſten Augenblick hielt der Herr mit dem Knebelbart Lotte, die ſchneeweiß geworden war und zu ſchwanken begonnen hatte, in ſeinem Arm. Und immer wieder preßte er ſeinen Mund auf ihre kalten Lippen, bis ſich ihre Wangen färbten und ſie ihn, am ganzen Körper bebend, feſt umklammerte, als wollte man ihn ihr entreißen.
Und nun ſaßen ſie im Luſthäuschen, Leo Strakoſch hielt Lotte auf ſeinem Schoß und erzählte in fliegenden Worten:
„Ja, Lottchen, ich bin es, und dir zuliebe habe ich mir dieſen entſetzlichen Napoleonbart plus Schnurrbart wachſen laſſen. Ich habe es einfach vor Sehnſucht nach dir nicht mehr ausgehalten, und als mir dein Vater ſchrieb, daß er ernſtlich um deine Geſundheit beſorgt ſei und es für richtiger halte, wenn wir den Briefwechſel, der in dir alle Wunden immer wieder aufreiße, einſtellen würden, war mein Plan gefaßt. Ich vertraute mich einem lieben, guten Kameraden, Henry Dufresne, der für mich ins Feuer gehen würde, an, ließ mir den Knebelbart, wie er ihn hat, ſtehen und bekam von ihm ſämtliche Papiere, als da ſind: Taufſchein, Heimatſchein, Militärzeugnis und den ordnungsgemäß von der öſterreichiſchen Geſandtſchaft in Paris vidierten Paß. Wir ſahen durch den Bart einander ſo ziemlich ähnlich, ſo daß er es riskieren konnte, ſich ſeinen Paß mit meiner Photographie zu beſorgen. Und meine Unterſchrift hat er nachgemacht und nicht ich ſeine. Der gute Junge hat natürlich allen Freunden und Bekannten erzählt, daß er nach Wien fährt, in Wirklichkeit iſt er auf das Gut ſeines Onkels in Südfrankreich gegangen, wo er ein Jahr bleibt. Und genau ſo lange, als er dort iſt, kann ich hier in Wien als Henry Dufresne leben.“
Lotte ſchluchzte und lachte in einem Atem.
„Leo, ich bin ja ſo namenlos glücklich! Aber ich habe auch ſolche Angſt um dich! Du weißt, es ſteht die Todesſtrafe auf die verbotene Rückkehr — was, wenn ſie dich erwiſchen?!“
„Ganz ausgeſchloſſen, mein Lieb! Die wenigen Freunde, die ich hatte, ſind Juden und mußten ſo wie ich das Land verlaſſen. Außerdem bin ich tatſächlich durch den Bart unkenntlich, beſonders, wenn ich ein Monokel trage. Und ſelbſt wenn jemand käme und behaupten würde, daß ich Leo Strakoſch bin — ich würde einfach leugnen und niemand könnte mich überführen, denn mein Paß iſt echt, die Unterſchrift iſt echt, und wenn man bei der Polizei in Paris anfragen ſollte, ſo würde man die Auskunft bekommen, daß Henry Dufresne mit Reiſepaß nach Wien abgereiſt ſei.“
„Aber Papa und Mama?“ fragte Lotte nach etlichen herzhaften Küſſen, die ihr trotz Schnurrbart und Mouche wohl taten.
„Die dürfen natürlich nicht ein Sterbenswörtchen erfahren, Lotte“, meinte Leo ernſt. „Nicht, daß ſie mich anzeigen würden! Aber dein Papa iſt zu ſehr Beamter und Hofrat, um mir eine ſolche Myſtifikation nicht übel zu nehmen, und außerdem würde er unter keinen Umſtänden dulden, daß wir zuſammenkommen, ſondern mich beſchwören, wieder fortzufahren. So aber werden wir uns täglich ſehen, nicht wahr, Lotte?“
Und Leo erzählte ihr von der behaglichen, kleinen Wohnung, die er eben gemietet und ſchilderte, wie ſie dort täglich ein paar Stunden, ſo lange Lotte ſich eben würde freimachen können, zuſammen verbringen würden. Lotte war nur über und über rot geworden, aber ſie ſah in die ehrlichen und treuen Augen ihres Bräutigams und wußte, daß ſie auch ganz allein mit ihm in guter Hut ſein würde.
Lotte konnte jeden Augenblick im Garten geſucht werden und Leo mußte verſchwinden. Bevor ſie aber Abſchied nahmen, bewölkte ſich wieder die weiße Stirne des Mädchens.
„Leo, du haſt nun deine glänzende Karriere in Paris aufgegeben! Was aber willſt du hier in Wien tun, wie bei dieſer ſchrecklichen Teuerung, über die nun auch Papa zu klagen beginnt, deinen Unterhalt beſtreiten?“
Leo lachte ſo vergnügt und laut, daß ihm Lotte erſchreckt die Finger auf den Mund legte. Was er für eine Aufforderung nahm, die kleinen roſigen Finger zu küſſen. Er tat es reichlich und ſagte dann:
„Mein Liebes, was ich hier tun werde? Arbeiten, und zwar tüchtig, und ungeheuer viel Geld ſparen, weil dieſe Wiener Teuerung, in Franken umgerechnet, lächerlich billig iſt. Du mußt nämlich wiſſen, daß ich von der größten Pariſer Verlagsfirma den Auftrag bekommen habe, eine neue Geſamtausgabe der Werke Zolas zu illuſtrieren. Glänzende Bedingungen, ſage ich dir. Sechzigtauſend Francs, wovon ich die Hälfte bei Abſchluß der Vertrages bekommen habe. Die andere Hälfte erhalte ich, wenn ich die zweihundert Zeichnungen abliefere, und das muß in einem Jahr ſein. Alſo, du ſiehſt wieder einmal: Wir Juden ſind ſchlau und wiſſen, wo unſer Vorteil bleibt!“
Leo kroch über den Zaun zurück und Herr Dufresne beſorgte noch am ſelben Tag ſeinen Umzug nach der Billrothſtraße. Hofrat Spineder und ſeine Gattin ſtellten aber mit Befriedigung feſt, daß ihr Töchterchen zum erſtenmal ſeit Jahr und Tag guter Laune war und heiter vor ſich hinſang.
„Du wirſt ſehen,“ ſagte der Hofrat ſeiner Gattin, „Lotte ſchlägt ſich nach und nach die ganze traurige Geſchichte aus dem Kopf! Der arme Burſch' tut mir ja leid, aber es iſt beſſer ſo. Uebrigens hat er mir ja auch ganz vernünftig geſchrieben und verſprochen, den Briefwechſel mit Lotte aufzugeben.“
Die Frau Hofrätin ſchüttelte verwundert das Haupt und dachte: Wie doch die Mädchen von heute ganz anders ſind! Ich würde an Lottes Stelle meine Liebe nicht überwunden haben!
Die „Weltpreſſe“, einſt das Blatt des liberalen Bürgertums, jetzt das Hauptorgan der chriſtlichſozialen Partei, erhielt eine Zuſchrift von dem Beſitzer des Hauſes Billrothſtraße 19, in der in ſcharfer und logiſcher Weiſe gegen den Fortbeſtand des Mieterſchutzgeſetzes Stellung genommen wurde. „Das Mieterſchutzgeſetz“, hieß es in der Zuſchrift, „hatte Zweck und Sinn, als Wohnungsnot herrſchte und die Bevölkerung davor geſchützt werden mußte, durch die Habgier einzelner Hausbeſitzer obdachlos gemacht zu werden. Heute gibt es keinen Mangel an Wohnungen mehr; dank dem ſegensreichen Antijudengeſetz unſeres hochverehrten Bundeskanzlers ſind wieder normale Verhältniſſe eingetreten, es iſt der notwendige Ueberſchuß an Wohnungen vorhanden, und ſo erübrigt ſich dieſes Mieterſchutzgeſetz, das nur mehr einen brutalen Eingriff in die Rechte der Hausbeſitzer bildet, ja ſogar einen Verfaſſungsbruch. Sicher werden nach Aufhebung des Geſetzes Steigerungen der Mietzinſe eintreten, was nur gerechtfertigt wäre und ſchließlich der Allgemeinheit zugute käme, denn von den höheren Mietzinſen ſind höhere Steuern zu zahlen und mit höheren Mietpreiſen ſteigt der Wert der Häuſer. Es iſt charakteriſtiſch, daß es ein in meinem Hauſe wohnender, vornehmer franzöſiſcher Künſtler iſt, der mir ſein Entſetzen über dieſes Mieterſchutzgeſetz ausdrückte. Er erklärte, daß man ſich in franzöſiſchen Kapitaliſtenkreiſen über dieſes Geſetz luſtig mache, das unter anderem auch verhindert, daß Ausländer ihr Geld in Wiener Häuſern anlegen. Alſo fort mit dem Mieterſchutzgeſetz! Die vornehme chriſtliche Geſinnung der Wiener Hausbeſitzer, vor allem aber das Geſetz von Angebot und Nachfrage werden automatiſch ein allzu ſtarkes Hinaufſchnellen der Mietpreiſe verhindern.“
Die Zuſchrift erſchien an auffallender Stelle in der „Weltpreſſe“ mit einem redaktionellen Zuſatz, in dem ſehr vorſichtig die Anſicht des geehrten Einſenders gebilligt, ihr aber gleichzeitig auch ſanft widerſprochen wurde. Denn man wollte weder die Hausbeſitzer noch die Mieter vor den Kopf ſtoßen.
Von da an begann ein lebhafter öffentlicher Gedankenaustauſch, es hagelte von Zuſchriften und immer ſtürmiſcher wurde der Ruf der Hausbeſitzer nach Aufhebung des Mieterſchutzgeſetzes, Einräumung des Kündigungsrechtes und der individuellen Mietſteigerung. Herr Windholz, der Beſitzer des Hauſes in der Billrothſtraße, war plötzlich eine gewichtige Perſönlichkeit geworden, der Verein der Hausbeſitzer wählte ihn zum Vorſtand und täglich kam er zu ſeinem vornehmen franzöſiſchen Mieter, Herrn Dufresne, um ſich bei ihm Rat zu holen. Herr Strakoſch, alias Dufresne, aber hetzte munter weiter und ſagte eines Tages mit Emphaſe:
„Wenn ſich die Hausbeſitzer noch weiter dieſe Versklavung gefallen laſſen, ſo halte ich ſie alle zuſammen für alberne Waſchlappen und ich werde eine Stadt verlaſſen, in der ſolche Zuſtände möglich ſind.“
„Ja, was ſollen wir nur tun,“ meinte Herr Windholz kleinmütig, „wenn die Regierung abſolut unſeren Wünſchen nicht entſprechen will?“
„Was Sie tun ſollen? Ich werde es Ihnen ſagen! Heute noch trommeln Sie Ihren Verein zuſammen und faſſen den Beſchluß, der Regierung ein dreitägiges Ultimatum zu ſtellen. Stellt ſie bis dahin die Freizügigkeit im Wohnungsverkehr nicht wieder her, ſo wird von den Hausbeſitzern geſtreikt! Sie führen keine Steuern ab, unterlaſſen die Hausbeleuchtung und Reinigung, verweigern die Bezahlung der Hypothekarzinſen, kurzum, Sie ſabotieren den Staat!“
Herr Windholz war begeiſtert, umarmte den Franzoſen und verſicherte ihm, daß er keinesfalls im Zinſe geſteigert werden würde.
Es geſchah ganz nach dem Programm des Herrn Dufresne. Der Verein der Wiener Hausbeſitzer beſchloß einſtimmig das Ultimatum und die Regierung fiel um. Vergebens verſicherte Doktor Schwertfeger, daß die Aufhebung des Mieterſchutzgeſetzes die unheilvollſten Folgen haben werde, er wurde von ſeinen Miniſterkollegen überſtimmt. Wie die „Arbeiter-Zeitung“ boshaft behauptete, in erſter Linie deshalb, weil der Finanzminiſter, der Unterrichtsminiſter und der Handelsminiſter mehrfache Hausbeſitzer waren.
Das Mieterſchutzgeſetz, das den Hausbeſitzern ſowohl die Kündigung der Mieter als die willkürliche Erhöhung der Mietpreiſe unterſagte, fiel alſo, und vierundzwanzig Stunden ſpäter fand eine ſtürmiſche Generalverſammlung der Hausbeſitzer ſtatt, in der beſchloſſen wurde, die derzeitigen Mietpreiſe der Teuerung halbwegs entſprechend auf das Tauſendfache zu erhöhen. Eine Art Rütliſchwur verpflichtete zur unbedingten Einhaltung dieſes Beſchluſſes.
Die Bevölkerung, die ja nur zum geringſten Teile aus Hausbeſitzern beſteht, geriet in Tobſucht. Arbeiterfamilien mußten nunmehr eine halbe Million im Jahr für ihre Wohnung bezahlen, eine kleine Mittelſtandswohnung koſtete nicht unter einer ganzen Million! Die Organiſation der Hausfrauen, die Gewerkſchaften, der Verband der Feſtangeſtellten, die Kriegsinvaliden und Kriegswitwen, der Bund der Gewerbetreibenden, ſie alle veranſtalteten Maſſendemonſtrationen, und durch volle acht Tage wurde in Wien und den Provinzſtädten überhaupt nicht gearbeitet, ſondern vom Morgen bis in die Nacht demonſtriert. Die Zahl der eingeſchlagenen Fenſterſcheiben wuchs erſchreckend, und zum erſtenmal ſeit einer geraumen Anzahl von Jahren hörte man auf der Straße den Ruf:
„Nieder mit der Regierung!“
Die chriſtlichen Blätter ebenſo wie die deutſchnationalen verloren maſſenhaft Leſer, während der Weizen der „Arbeiter-Zeitung“ wieder zu blühen begann.
Herr Zwickerl war ſchlechter Laune und ſtocherte wütend in ſeinem Kirſchenſtrudel umher, der auf dem Teller vor ihm lag. Frau Zwickerl ſah Sturm kommen und beugte vor.
„Anton, was is dir denn wieder über die Leber gelaufen? Geht das Geſchäft nicht?“
Das war für Herrn Zwickerl zu viel. Er ſchob den Kirſchenſtrudel fort, wurde röter im Geſicht als die Kirſchen im Strudel und brüllte:
„Oh ja, das G'ſchäft geht! Zum Teufel nämlich geht es! Damit du nur weißt, Konkurs muß ich anſagen!“
„Jeſſasmariandjoſef!“ kreiſchte Frau Zwickerl auf. „Wie iſt denn das möglich?! Es iſt doch immer g'ſteckt voll im Laden und alle Leut' glauben, daß du eine Goldgruben von dem Juden, dem Leßner, übernommen haſt!“
„Ja,“ höhnte Zwickerl, „eine Goldgruben voll mit Dreck! Je mehr die Leut' kaufen, deſto mehr verlier' ich! Weißt was? Daran ſan die verfluchten Valuten ſchuld! Kronen, ſchäbige Kronen krieg' ich herein und Mark und tſchechiſche Kronen und Franken fliegen hinaus. Zehntauſend Meter Batiſt kauf' ich in Reichenberg und nach acht Tagen kommt der Verkäufer von der Abteilung und ſtrahlt über das ganze blöde Geſicht und ſagt: „Herr Zwickerl, die Ware fliegt einem nur ſo aus der Hand! Morgen haben wir nicht mehr einen Meter im Haus!“
„Schön, denk' ich mir und geh' in die Buchhaltung, und wie wir nachrechnen, ſehen wir, daß ich, weil die tſchechiſche Krone wieder geſtiegen iſt, bei jedem Meter tauſend Kronen verloren hab'. Und das iſt nur ein Beiſpiel von hunderten. Ich ſchlag' eh' bei jeder War' ſchon dreihundert Prozent auf und trotzdem, die Krone fällt raſcher, als ich aufſchlagen kann, Verluſte, nichts als Verluſte, und die Länderbank, die mir das Kapital zur Uebernahme gegeben hat, fordert Rückzahlung und ich kann nicht zahlen, weil ich ein rieſiges Defizit habe. Im Gegenteil, ich brauche wieder hundert Millionen, weil ich ſonſt nicht einkaufen kann!“
Herr Zwickerl hatte ſich Luft gemacht und war beſänftigt. Er zog den Kirſchenſtrudel an ſich heran und machte ein pfiffiges Geſicht:
„Weißt, Alte, wir braucheten einfach ein paar jüdiſche Banken, das iſt alles! Früher, als ich noch mein kleines Geſchäft in der Stumpergaſſen gehabt habe, da bin ich alleweil, wenn ich im Ausland kaufen mußte, zum krummen Kohn von der Hermesbank gegangen, wo mein Konto war, und der hat geſagt: Herr Zwickerl, hat er geſagt, Sie müſſen ſich jetzt mit Mark eindecken, weil die Mark ſteigen wird; oder: die Krone wird feſter kommen, hat er geſagt, kaufen Sie Kronen. Und immer iſt es richtig ſo geweſen und ich hab' nicht nur an der Ware, ſondern auch noch an der Valuta verdient! Aber jetzt — die Affen, die jetzt in der Bank beieinanderſitzen, kennen ſich ſelber net aus und i kenn' mi' auch net aus und alles geht kaput, ſag' ich dir!“
Herr Zwickerl gehörte zu den vielen kleinen Geſchäftsleuten, die durch das Antijudengeſetz mächtig in die Höhe gekommen waren. Mit Hilfe der urchriſtlich gewordenen Länderbank hatte er, der kleine Dutzendkaufmann, das große Warenhaus in der Mariahilferſtraße an ſich bringen können, und das erſte Halbjahr war alles eitel Wonne geweſen. Wenn Herr Zwickerl auf der Galerie des Kaufhauſes ſtand und auf den Menſchenſchwarm hinabſah, kam er ſich wie ein kleiner König vor und er berauſchte ſich ordentlich an dem Klingeln der Regiſtrierkaſſen, dem Kniſtern der Seide und dem Stimmengewirr. Und allabendlich leerte er beim Nachteſſen ſein Weinglas auf das Wohl des Schwertfeger, und immer wieder ſagte er zu ſeiner Frau, die jetzt nur mehr in Glacéhandſchuhen kochte:
„Alte, da ſieht man es am beſten, wie uns die Juden ausgeſaugt haben! Die Juden haben die großen Geſchäfte gehabt und wir Chriſten konnten im finſteren Laden ſchuften und darben. Gottlob, daß das aufgehört hat!“
Aber ſchon die erſte Semeſtralbilanz brachte dem Herrn Zwickerl arge Enttäuſchung. Trotz der enormen Umſätze und des gefüllten Kaufhauſes war von einem Gewinn keine Rede, immer wieder hatte man ſich beim Einkauf im Ausland ſo oder ſo verſpekuliert. Und mehr als einmal hatte Herr Zwickerl in ſich hineingeſeufzt: An ordentlichen Juden, wenn ich hätt', der was mich beraten tät'!
Herr Zwickerl mußte tatſächlich Konkurs anmelden, das Geſchäft wurde geſchloſſen und von einem Grundbeſitzer aus der Gumpoldskirchner Gegend übernommen, der aus dem großen Haus eine rieſige Stehweinhalle machte.
In den Jahren, die dem Kriegsende und dem Umſturz gefolgt waren, hatte ſich Wien immer mehr zur Zentrale des mitteleuropäiſchen Luxus entwickelt und das Leben gewiſſer Schichten eine Ueppigkeit angenommen, die in der ganzen Welt als beiſpiellos beſprochen wurde. Die breiten Maſſen der Wiener Bevölkerung aber, nicht nur die Arbeiter, ſondern auch das mittlere Bürgertum, hatten zähneknirſchend geſehen, wie ſich die fremden Elemente, vor allem die Juden aus Galizien, Rumänien und Ungarn, als Herren Wiens aufſpielten, mit dem für ſie faſt wertloſen öſterreichiſchen Geld um ſich warfen, Champagner tranken, wo der kleine Mann kaum noch das Glas Bier zahlen konnte, ihre Weiber mit Perlen und Pelzen behängten, während die wirklich gute Geſellſchaft den alten Familienſchmuck ſtückweiſe verkaufen mußte, in prachtvollen Luxusautomobilen durch die Straßen raſten, den bodenſtändigen Wienern die Wohnungen wegnahmen und mit ihrem lärmenden protzigen Gehaben die alte kultivierte Stadt erfüllten.
Als die Juden fortgetrieben waren, änderte ſich das alles von Tag zu Tag auf das gründlichſte. Der ſinnbetörende Luxus verſchwand, der Wiener Ausverkauf ſtockte, man mußte ſich nicht mehr anſtellen, um einen Platz im Opernhaus zu ergattern, das Leben wurde ſtiller, ſolider, einfacher. Bis es ſich zeigte, daß eine Stadt wie Wien ohne Luxus nicht leben kann. Zuerſt hatten die chriſtlichen Geſchäftsleute, die die Kaufläden der Juden übernahmen, ſich auch deren Automobile bemächtigt, es ſchien der Wohlſtand derſelbe geblieben zu ſein und nur eine Umgruppierung erfahren zu haben, und der Jubel, mit dem die Wiener es begrüßten, daß ſie nicht bei jedem Schritt auf jüdiſche Schieber ſtoßen mußten, war ebenſo ehrlich als begreiflich. Als dann aber bald die Krone wieder ins Uferloſe fiel und die Teuerung neue Wellen zog, als alles das, was eben auf äußerſten Luxus eingeſtellt war, wie die vornehmen Geſchäfte, die Kabaretts, die Theater, die fürſtlichen Reſtaurants und Bars, einging, als die Arbeitsloſigkeit um ſich griff und der Export nach dem Ausland immer geringer wurde, da begann auch das äußere Leben flügellahm zu werden. Die Zehntauſende von Automobilen, die aus jüdiſchen Händen in chriſtliche übergegangen waren, wurden für eine Handvoll Lire oder Franken ins Ausland verkauft, weil bei dem ſchlechten Geſchäftsgang das Benzin unerſchwinglich wurde, die Kunſthändler klagten über völlige Geſchäftsloſigkeit, das Defizit der Staatstheater wuchs rieſenhaft, chriſtliche Künſtler und Gelehrte von Ruf, vor allem aber die großen Aerzte, zogen ins Ausland, weil das Inland ihnen nicht mehr die Honorare bezahlen konnte und wollte, die ſie von den jüdiſchen Zeiten her gewohnt waren.
Und unaufhaltſam griffen Mißmut, Unzufriedenheit und die Erkenntnis, auf einer abſchüſſigen Bahn zu gehen, um ſich.
An einem herrlichen Junitag ging Leo Strakoſch als Franzoſe Dufresne nach dem Stadtpark, um wieder einmal Fühlung zum Wien von heute zu bekommen. Sonſt verließ er den neunzehnten Bezirk kaum, da er entweder in ſeinem Atelier arbeitete oder aber mit Lotte ausgedehnte Spaziergänge im Wienerwald unternahm. Als er heute nun zwiſchen den dichtbeſetzten Tiſchen um den Kurſalon herum ſpazierte, war er ſo beluſtigt, daß er laut auflachte.
„Um Himmels willen, was iſt aus meinem ſchönen eleganten Wien geworden!“
Die Mode des Alpenkleides und Touriſtenanzuges ſchien allgemein geworden zu ſein; ſo weit das Auge reichte, ſah er alte und junge Herren in Loden, Kniehoſen und mit dem grünen Steirerhütl auf dem Kopf. Und die Damen! Die Mehrzahl trug Dirndlkoſtüme, die ja im freien Gelände ſehr nett und anmutend wirken, hier aber wie Karikaturen, wie ſchlechte Witze erſchienen. Man war eben ſehr beſcheiden geworden, und vor allem bildete man ja eine einzige große Familie, war unter ſich und hatte es nicht notwendig, ſich „herzurichten“.
Hie und da ſah man auch noch elegant gekleidete Damen und Herren; ſie fielen aber auf, man konnte von den Aelpler-Tiſchen biſſige Bemerkungen über ſie hören, und Strakoſch wurde es faſt unheimlich zumute, als er ſah, wie ihn dieſes oder jenes „Dirndl“ durch ein Lorgnon anſtierte, wahrſcheinlich nur deshalb, weil ſein dunkelblauer Anzug, die Lackſtiefel und die koſtbare Seidenkrawatte auffielen.
Die elektriſche Straßenbahn, ſtädtiſche Muſik und Dirndln, die ein Lorgnon tragen — Leo ſchüttelte ſich. Er eilte aus dem Stadtpark fort über die Ringſtraße, fand auch das Bild, das die Kaffeehäuſer boten, troſtlos, grinſte, als er wahrnahm, daß die meiſten Leute einander mit „Heil“ begrüßten und mußte lange ſuchen, bis er ein Autotaxi fand. Denn auch dieſe Mietwagen waren ein Luxus geworden, der ſo wenig Benutzer hatte, daß die meiſten ihr Geſchäft aufgaben.
Spät abends, als die Sonne ſchon langſam unterging, traf er Lotte verabredetermaßen am Rande des Kobenzlwaldes. Sie ließen ſich auf einer Bank nieder, und nachdem ſie ſich ſattgeküßt, erzählte Lotte, daß ihre Eltern beſchloſſen hatten, ſchon in der nächſten Woche nach ihrer kleinen Villa am Wolfgangsee zu überſiedeln.
„Was ſoll nur aus uns werden,“ klagte Lotte, „wie ſoll ich es ertragen, dich den ganzen Sommer nicht zu ſehen?“
„Davon kann auch keine Rede ſein, Lieb. Ich werde eben auch ausſpannen, und wenn du in St. Gilgen biſt, werde ich in Wolfgang wohnen und jeden Tag wirſt du herüberkommen und wir werden wenigſtens eine Stunde beiſammen ſein.“
„Hm,“ meinte Lotte vergnügt, „das läßt ſich ja hören! Aber jetzt muß ich dir auch ſagen, daß ich geſtern eine Auseinanderſetzung mit Papa hatte. Stelle dir nur vor, plötzlich ſah mich Papa ſcharf an und ſagte ſehr ernſt: Lotte, wo treibſt du dich eigentlich neuerdings immer ſtundenlang allein herum? Du weißt, wir laſſen dir alle mögliche Freiheit, aber was zu viel iſt, iſt zu viel!
Alſo, ich fühlte, wie ich blutrot wurde und dachte, das beſte iſt, ich beichte.“
„Was,“ unterbrach ſie Leo entſetzt, „du haſt deinem Vater erzählt...?“
„Ausreden laſſen, Aff'“, lachte Lotte und zwickte ihn in das Ohr. „Ich beichtete alſo, aber natürlich nur das, was mir paßte. Ich ſagte dem Papa, daß ich bei der Erna einen ſehr feinen jungen Mann kennen gelernt habe, den ich ebenſo gut leiden mag, wie er mich und daß ich ihn oft treffe, um mit ihm ſpazieren zu gehen. Er ſei ein Franzoſe, namens Henry Dufresne, der hier große Geſchäfte mache.
Der Papa war zuerſt ganz ſprachlos, dann fragte er mich, warum ich den Franzoſen nicht zu uns einlade. Darauf erwiderte ich, daß ich meiner Gefühle noch nicht ſicher ſei und deshalb der Sache keinen offiziellen Anſtrich geben wolle. Und zum Schluſſe meinte ich ganz empört:
Papa, du weißt doch, daß du dich auf mich verlaſſen kannſt! Ich tue ſicher nichts Unrechtes, und wenn ich es für gut und notwendig halten werde, ſo wird Henry ſchon zu euch kommen! Jetzt aber laßt mich meine Wege allein gehen.
Papa war darauf ſehr lieb und nett und Mama auch, und ſpäter hörte ich, wie der Papa der Mama ſagte: „Ich hätte nicht gedacht, daß Lotte den armen Leo ſo raſch und gründlich vergeſſen würde. Aber ich bin ſehr glücklich darüber, daß ſie eine neue Neigung gefaßt hat und wir wollen ihr nichts in den Weg legen.“
Und Mama, die dich doch ſo gerne hat, meinte kopfſchüttelnd: „Ich verſteh' das Mädel gar nicht! Sie hat wirklich ſchon wieder rote Wangen bekommen und trällert den ganzen Tag umher, als wäre ihr nie ein Herzleid widerfahren.“
Weißt du, Leo, es iſt ſicher nicht ſchön von uns, daß wir meine Eltern ſo an der Naſe herumführen, aber ich bin ja ſo glücklich, daß du hier in Wien biſt!“
Leo zog Lotte an ſich, küßte ſie gründlich ab und ſagte dann mit wichtiger Miene:
„Jetzt gehen wir aufs Land, und wenn ich dann wieder hier bin, dann werde ich die ganze Stadt an der Naſe herumzerren, aber tüchtig, ſage ich dir! Mehr kann ich dir heute noch nicht verraten, aber du wirſt deine Wunder erleben!“
Dieſer Sommer tröſtete die Wiener zum zweitenmal für das viele Ungemach und die argen Enttäuſchungen, die ſie erleben mußten. Gerade die ſchönſten Plätze und Orte in dem klein gewordenen Oeſterreich waren in den früheren Jahren zum Pachtgut der Juden geworden. Das ganze herrliche Salzkammergut, das Semmeringgebiet, ſogar Tirol, ſoweit es einigen Komfort bot, waren von öſterreichiſchen, tſchechoslowakiſchen und ungariſchen Juden überflutet geweſen; in Iſchl, Gmunden, Wolfgang, Gilgen, Strobl, am Atterſee und in Ausſee erregte es direkt Aufſehen, wenn Leute auftauchten, die im Verdacht ſtanden, Arier zu ſein. Die chriſtliche Bevölkerung, zum Teil weniger im Ueberfluß ſchwelgend, zum Teil auch großen Geldausgaben konſervativer gegenüberſtehend, fühlte ſich nicht ohne Unrecht verdrängt und mußte mit den billigeren, aber auch weniger ſchönen Gegenden in Niederöſterreich, Steiermark oder in entlegenen Tiroler Dörfern vorlieb nehmen. Das war ſeit der Judenvertreibung anders geworden. Es gab in den ſchönſten Sommerfriſchen keine Ueberfüllung, die Städter bekamen auf ihre Nachfragen höfliche und eilige Antworten, und trotz der ſonſtigen Teuerung waren die Wohnungs- und Zimmerpreiſe erheblich billiger als vor zwei Jahren. Und ſo ſchwärmte denn alles, was Geld und Zeit hatte, in jene Gegenden, die dem bodenſtändigen Wiener früher verleidet worden waren.
Die Beſitzer der großen Etabliſſements, Kuranſtalten und ſogenannten Sanatorien ſchnitten allerdings ſauere Mienen. Sie hatten immer von dem internationalen Judentum gelebt, ihr ganzer Betrieb war auf jene Menſchen eingeſtellt, die nicht rechnen, wenn es ſich um ihre Behaglichkeit handelt, und nun fanden ſie, da ſie auch bei gutem Willen nicht billig ſein konnten, nicht genügend Gäſte. Die großen Semmeringhotels eröffneten ihre Betriebe überhaupt nicht mehr und viele Hotels im Salzkammergut und Tirol ſahen ſich mitten im Sommer genötigt, zu ſperren und ihr Perſonal zu entlaſſen. Das war ein Wermuttropfen im Becher der Freude und machte böſes Blut unter der Landbevölkerung, die gewohnt war, ihre Produkte zu enormen Preiſen den großen Hotels zu verkaufen und ihre Töchter und Söhne im Sommer ein ſchweres Stück Geld als Stubenmädchen und Hausdiener verdienen zu laſſen.
Der Bürgermeiſter von Semmering hatte den Mut, es in einer Gemeinderatsſitzung offen herauszuſagen:
„Mit den Juden hat man bei uns den Wohlſtand vertrieben, ein paar Jahre noch und wir werden zwar gute Chriſten, aber bettelarm ſein!“
Als der Sommer vorüber war und der Herbſt die Blätter färbte, begann in faſt ſchon gewohnter Weiſe die Krone neuerlich zu fallen und die Teuerung anzuſteigen. Die Preiſe wurden phantaſtiſch, ſelbſt reiche Leute ſcheuten die Anſchaffung eines neuen Kleidungsſtückes, die Arbeiter, die Angeſtellten, ja auch die Arbeitsloſen ſtellten neue Forderungen, eine Fahrt auf der Straßenbahn koſtete ſchon tauſend Kronen und ein Kilogramm Butter fünfzigtauſend.
Unter allgemeiner Verbitterung, Nervoſität und Unruhe trat im Oktober die Nationalverſammlung zuſammen, und das Geſicht des Kanzlers Doktor Schwertfeger ſah zerklüftet, durchfurcht, vergrämt aus. Als er ſprach, herrſchte nicht jene weihevolle Ruhe wie früher, ſondern es wurden Rufe, Zwiſchenbemerkungen laut, ſogar die Galerie machte ſich durch Oho-Rufe bemerkbar und die kleine Oppoſition der Sozialdemokraten ließ ſich nicht mehr einſchüchtern, ſondern griff immer wieder in die Debatte ein.
Schwertfeger gab einen Ueberblick über die troſtloſe finanzielle Lage des Landes und fuhr dann fort:
„Ich muß es rund herausſagen: Große und ſchwere Opfer ſtehen der chriſtlichen Bevölkerung Oeſterreichs bevor. (Zwiſchenruf von der Galerie: Natürlich nur den Chriſten, da wir ja die Juden hinausgeſchmiſſen haben!) Opfer, die mit Mannesmut und Bürgertreue geleiſtet werden müſſen! Die Regierung braucht zur Fortführung der Geſchäfte Geld, und da wir vom Auslande keine weiteren Kredite bekommen können, müſſen wir die Unſummen, die die Verwaltung, die Verzinſung der Schulden und die Unterſtützung der Arbeitsloſen verſchlingt, durch neue Steuern, direkte und indirekte, hereinbringen. (Große Unruhe im ganzen Hauſe.)
Meine Herren und Damen, ich weiß, daß die Bevölkerung ſchwer enttäuſcht iſt und ich bin es mit ihr. Wir alle haben eben die Schwierigkeit der Uebergangswirtſchaft unterſchätzt, wir alle dachten, daß die chriſtlichen Bürger ſich beſſer auf die Beherrſchung der Finanzen und des Geſchäftslebens einſtellen würden, die ganz in Händen der Juden waren. Aber was ſind ſolche Enttäuſchungen gegenüber dem ungeheuren Ziel, das wir uns geſteckt haben, dem Ziel, Oeſterreich ſeiner ariſchen Bevölkerung wiederzugeben, ein Land aufzurichten, das frei von Wuchergeiſt, frei von jüdiſchem Skeptizismus, frei von jenen zerſetzenden Eigenſchaften und Elementen iſt, die das Judentum repräſentieren!“
Zum Schluß ſtellte der Kanzler mit erhobener Stimme die Vertrauensfrage.
Im Namen der kleinen ſozialiſtiſchen Fraktion ſprach Doktor Wolters gegen die Kreditgewährung, gegen die Gutheißung der Regierungspläne, gegen das Vertrauensvotum. In kraſſen Farben ſchilderte er die zunehmende Verelendung, die Gefahr des unmittelbar bevorſtehenden Staatsbankerottes, die Verödung des wirtſchaftlichen und geiſtigen Lebens. Er ſagte unter anderem:
„Der Herr Bundeskanzler hat vor mehr als zwei Jahren, als er ſein Antijudengeſetz begründete, unſere Bevölkerung bieder, einfältig und ehrlich genannt und behauptet, daß ſie der Konkurrenz der überlegenen Juden nicht gewachſen ſei. Er hat nur eines überſehen: Daß wir biederen, ehrlichen und einfachen Oeſterreicher auch ohne Juden von Völkern umgeben ſein werden, die uns jetzt, wo wir die Juden nicht mehr haben, erſt recht überlegen ſind. Wo iſt der mitteleuropäiſche Handel hingekommen, ſeitdem die Juden weg ſind? Wir haben ihn verloren, denn die Juden haben ihn nach Prag und Budapeſt mitgenommen. Was iſt aus der blühenden Konfektions-, Galanterie- und Mode-Induſtrie geworden? Sie iſt faſt ſpurlos verſchwunden, weil ſie von der Biederkeit und Ehrlichkeit allein nicht leben kann, ſondern den jüdiſchen Konſumenten aus aller Herren Länder braucht, der das leicht verdiente Geld auch leicht wieder ausgibt. Heute zeigt es ſich, daß wir der Juden nicht entraten können — —.“
Stürmiſche Rufe unterbrachen den ſozialiſtiſchen Führer. Die Chriſtlichſozialen und Deutſchnationalen tobten, ſchrien „Hinaus mit dem gekauften Judenknecht“ und der Tumult wurde ſo groß, daß der Präſident, der Tiroler mit dem roten Bart, die Sitzung unterbrechen mußte. Als er ſie wieder eröffnete, erteilte er dem Doktor Wolters eine Rüge, weil er durch ſeine Worte das chriſtliche Gefühl der Abgeordneten ſchwer verletzt und den Verſuch gemacht habe, die Grundfeſten des neuen Staates zu erſchüttern.
Schließlich wurden alle Regierungsanträge gegen die Stimmen der Sozialiſten angenommen. Aber viele Abgeordnete hatten ſich vor der Abſtimmung entfernt und Schwertfeger ſagte ſpäter ſeinem Präſidialiſten mit grimmigem Lächeln:
„Diesmal ſind ſie davongelaufen, das nächſtemal werden ſie gegen mich ſtimmen, die Erfolghaſcher, Konjunkturiſten, die geſtern Hoſianna ſchrieen und morgen crucifige rufen werden!“
Seltſame, myſteriöſe Dinge ereigneten ſich. Eines Morgens ſtanden am Schottentor vor einer Litfaßſäule, desgleichen vor der Oper, am Stubenring und an anderen Plätzen Hunderte von Männern und Frauen vor kleinen, mit einem Reisnagel befeſtigten Plakaten im Oktavformat, die folgende Inſchriften enthielten:
„Wiener, Oeſterreicher! Rafft euch auf, bevor Ihr alle zugrunde gegangen ſeid! Mit den Juden habt Ihr den Wohlſtand, die Hoffnung, die Zukunftsmöglichkeit ausgewieſen! Fluch den Volksverführern, die euch irregeleitet haben!
Der Bund wahrhaftiger Chriſten.“
Die Menſchen laſen einander die frechen Worte vor, viele ſchimpften und behaupteten, daß Freimaurer das getan haben mußten, andere entfernten ſich wortlos, wieder andere hatten den Mut, zuſtimmende Aeußerungen zu tun und die Andersſprechenden trotzig anzuſehen.
Nach einigen Tagen erſchienen an verſchiedenen Plätzen neue Plakate mit den Worten:
„Wien verdorft! Wiener, ſeht Ihr es denn nicht? Noch ein paar Jahre und aus der alten, ehemaligen Kaiſerſtadt wird ein ſchäbiges, vergeſſenes Neſt geworden ſein!“
Das ging den Leuten, die nun den Inhalt des Plakates auch aus der „Arbeiter-Zeitung“ vernahmen, auf die Nerven, allenthalben wurde man unruhig. War nicht etwas Wahres an dieſer neuen Behauptung des myſteriöſen Bundes wahrhaftiger Chriſten? Leidenſchaftliche Diskuſſionen wurden darüber in Verſammlungen, im Wirtshaus, in der Straßenbahn geführt, aber das Wort von der Verdorfung Wiens blieb irgendwie in der Luft hängen, wurde geflügelt, man bekam es überall zu hören, ja ſogar die chriſtliche „Weltpreſſe“ ſchrieb am Schluß eines Leitartikels ganz unwillkürlich: „Wir müſſen alles tun, um der Verdorfung zu entgehen!“
Die Polizei wurde von der erboſten Regierung aufgefordert, den Uebeltäter aufzuſpüren, der die Plakate anſchlug. Vergebliche Mühe! Alle paar Tage kamen neue zum Vorſchein, immer an anderen Plätzen, an Haustoren, Kirchenportalen, ja einmal hing je eines an den Toren des Kanzlerpalais, des Polizeipräſidiums und des Parlamentes. Und immer enthielt das kleine Plakat in wenigen Worten eine wirkſame Polemik gegen die Regierung, eine ſuggeſtive Aufhetzung der Bevölkerung. Die „Arbeiter-Zeitung“ war jedesmal in der Lage, ſchon in ihrer Morgenausgabe den Inhalt des Pamphlets, das heute angeſchlagen werden würde, zu veröffentlichen, weil ihr ein Exemplar ſchon am Tage vorher mit der Poſt gebracht wurde.
Schließlich geriet ganz Wien in Aufregung, man ſprach faſt von nichts anderem, zerbrach ſich den Kopf darüber, wer hinter dieſem geheimnisvollen Bund wohl ſtecken möge, die Zahl derer, die dem Inhalte der kleinen Aufrufe zuſtimmten, wuchs von Woche zu Woche, die ſozialdemokratiſchen Verſammlungen bekamen wieder einen ungeheuren Zulauf und der Nimbus des Kanzlers ſank erſichtlich.
Lotte war eines Nachmittags früher zu Leo gekommen, als er ſie erwartet hatte. Da ſie einen eigenen Schlüſſel zu der Wohnung beſaß und Leo ſie nicht wie ſonſt im Wohnzimmer erwartete, ging ſie direkt in das Atelier. Leo warf raſch ein Tuch über einen kleinen Holztiſch und begrüßte ſie dann ein wenig verlegen.
Lotte zog ihn beim Knebelbärtchen, ſah ihm in die braunen Augen und ſagte dann:
„Du, Leo, du haſt da ſoeben etwas vor mir verbergen wollen! Was befindet ſich dort unter dem Tuch?“
Leo lachte herzlich.
„Mädel, du haſt Augen wie ein Luchs! Alſo, dann will ich dir mein Geheimnis eben ſchon heute anvertrauen.“
Er zog das Tuch fort und Lotte erblickte neben einem Typenkaſten und einer Miniatur-Handpreſſe einen Stoß friſch gedruckter Zettel. Erſtaunt las ſie:
„Wiener, geht es euch heute beſſer oder ſchlechter als zur Zeit der Juden? Ueberlegt in Ruhe und Ihr werdet euch die richtige Antwort geben! Wir alle haben einſt geſchrien: ‚Hinaus mit den Juden!‘ So ſchreien wir heute: ‚Herein mit jenen Juden, die ehrlich und treu mit uns arbeiten wollen.‘
Der Bund der wahrhaftigen Chriſten.“
Verblüfft, verwirrt, verſtändnislos ließ Lotte das Papier fallen und ergriff einen anderen Zettel, auf dem gedruckt ſtand:
„Wir ſehnen uns nicht nach den kulturfernen Oſtjuden. Aber die intelligenten, klugen, wertvollen Juden, die ſchon vor dem Jahre 1914 unſere Mitbürger waren, müſſen wir wieder mit offenen Armen aufnehmen, wenn wir nicht rettungslos verelenden wollen! Auf zur Tat, bevor es zu ſpät iſt!
Der Bund der wahrhaftigen Chriſten.“
Fragend ſah Lotte ihren Bräutigam an.
Dieſer hob ſie zu ſich empor, küßte ſie auf die Naſenſpitze und lachte wieder aus vollem Halſe.
„Na, Tſchapperl, verſtehſt du noch immer nicht? Der Bund der wahrhaftigen Chriſten, der ſeit Wochen Wien verrückt macht, bin ich! Und ich werde nicht aufhören, bevor nicht der große Wirbel eingetreten iſt. Die zwei neuen Plakate werden wirken, ſag ich dir! Das ſind meine Gas-, Stink- und Leuchtbomben, mit denen ich töte, erſticke und erleuchte.“
Lotte zitterte.
„Leo, wenn du dabei erwiſcht wirſt, ſo iſt es um dich geſchehen!“
„Wenn, wenn! Aber man wird nicht! Ich habe eine wunderbare Technik beim Befeſtigen der Zettel! Ich ſchlendere morgens an einem Tor oder einer Wand vorbei, und im Gehen, ohne auch nur eine Sekunde mich aufzuhalten, treibe ich den Nagel ein, an dem der Zettel ſchon hängt! Und ſelbſt, wenn die Polizei die Zettel wenige Minuten ſpäter wieder abreißt, ſo ſchadet das nicht, weil die „Arbeiter-Zeitung“ den Inhalt ſchon abgedruckt hat. Verlaß dich auf mich, mein Lieb, es muß das geſchehen, ich gehe einen genau vorgezeichneten Weg und nehme mich ohnedies hölliſch in acht.“
Lotte ſaß auf dem großen Zeichentiſch, baumelte mit den ſchlanken Beinen und ſagte nachdenklich:
„Weißt du, Leo, du haſt ſchon ſehr viel erreicht, glaube ich. Geſtern war bei uns größere Geſellſchaft. Zehn Herren und Damen waren da und es wurde faſt ununterbrochen von der Judenausweiſung und ihren Folgen geſprochen. Und alle, darunter auch der Hofrat Tumpel, waren darin einig, daß man ſich mit der Ausweiſung eines Teiles der Oſtjuden, und zwar jenes Teiles, der eine anſtändige Beſchäftigung nicht nachweiſt, hätte begnügen müſſen. Hofrat Tumpel, der vor einem Jahr noch wütend wurde, wenn man mit dem Bundeskanzler nicht ganz einverſtanden war, ſagte ſchließlich:
„Ja, ja, es ſcheint, als wenn man da in einen höchſt komplizierten Mechanismus allzu brutal eingegriffen hätte! Gewiſſe nicht zu unterſchätzende jüdiſche Eigenſchaften fehlen uns ganz bedenklich!“
Dazu iſt allerdings zu bemerken, daß der Bruder des Hofrates die Buchhandlung in der Seilergaſſe beſitzt, die ſich nur mit dem Vertrieb von Luxusbüchern und Kunſtdrucken befaßt. Seit die Juden weg ſind, macht er gar keine Geſchäfte mehr und ſein Bruder, der Hofrat, hat ſchon zweimal große Summen opfern müſſen, um ihn vor dem Bankerott zu bewahren. Und noch etwas, Leo: Ich halte doch immer, in der Früh', wenn ich einkaufe, und im Konzert und in der Oper und der Straßenbahn die Augen und Ohren offen. Und ich höre, wie die Leute immer mehr mit Wehmut an die Vergangenheit zurückdenken und von ihr wie von etwas ſehr Schönem ſprechen. „Damals, wie die Juden noch da waren“, das kann man täglich zehnmal in allen Tonarten nur in keiner gehäſſigen, hören. Weißt du, ich glaub', die Leute bekommen ordentlich Sehnſucht nach den Juden!“
Leo preßte das kluge Mädchen an ſich. „Und ich will das Meinige tun, um dieſe Sehnſucht unwiderſtehlich zu machen.“
„Aber ſei recht vorſichtig, Leo, bedenk', daß, wenn man dich umbringt, es auch mein Leben koſtet!“
Traurigere Weihnachten hatte Wien noch nie erlebt. Der ungeheuerlichen Teuerung ſtand der vollſtändige Stillſtand des Lebens gegenüber. Die Teuerung allein hätte die guten Phäaken nicht anfechten können. Sie waren ſie ja ſchon ſeit einem Dezennium gewöhnt, und ob das Viertel Wein nun zehntauſend oder fünftauſend Kronen koſtete, war ſchließlich egal, wenn man genug verdiente, wenn der Arbeiter hohen Lohn bekam und der Kaufmann abends die Kaſſe voll mit Zehntauſendern hatte. Jetzt war das aber nicht mehr der Fall. Die enormen Banknotenmaſſen blieben bei den Bauern liegen, in den Städten herrſchte vollſtändige Kaufunluſt, ein großer Teil der Arbeiter feierte und war auf die ſtaatliche Unterſtützung angewieſen, und in der Weihnachtsnummer veröffentlichten die Zeitungen Statiſtiken, aus denen hervorging, daß ſeit zwei Jahren allein in Wien an die fünftauſend Bankfilialen, Kaffeehäuſer, Reſtaurants und Geſchäfte geſchloſſen hatten. Neuerdings trat ein Rieſenkrach nach dem anderen in der Induſtrie ein, Aktiengeſellſchaften, die man noch vor kurzem für bombenſicher gehalten hatte, erklärten ſich inſolvent und man ſprach ſogar von dem baldigen Zuſammenbruch zweier Großbanken.
Was nutzte es den Wienern unter ſolchen Umſtänden, daß ſie überall Platz hatten, ſogar an den Weihnachtsfeiertagen die Theater nicht ausverkauft waren und man nicht mehr den aufreizenden Judennaſen begegnete? Was nutzte es, daß man zur chriſtlichen Einfachheit zurückgekehrt war und ſich den Vollbart wachſen ließ, wenn die Friſeurgehilfen maſſenhaft entlaſſen werden mußten, weil es keine Arbeit mehr für ſie gab?
Am ſchlimmſten waren die Juweliere daran. Die meiſten waren Juden geweſen und hatten auswandern müſſen, und nun führten dieſe Geſchäfte ehemalige kleine Uhrmacher und andere ſicher ſehr ehrenwerte Leute, die aber zum holländiſchen Edelſteinmarkt, der faſt ausſchließlich in jüdiſchen Händen liegt, keinerlei Beziehungen hatten und bei jedem Einkauf über die Ohren gehauen wurden. Schließlich hatte der Einkauf im Ausland ganz aufgehört, weil niemand mehr Schmuck wollte, wohl aber der Andrang derer, die verkaufen mußten, immer ſtärker wurde. Langſam aber ſicher wanderte ein großer Teil des inländiſchen Juwelenbeſitzes in die Nachbarſtaaten, nach England, Frankreich und Amerika, und auch dabei waren die Juweliere, die dieſen Export betrieben, die Leidtragenden. Wenn ein Juwelier heute eine Perlenſchnur für zehn Millionen aus privatem Beſitz kaufte und ſie bald darauf für dreißig Millionen einem Amerikaner anhängte, ſo bildete er ſich ein, ein glänzendes Geſchäft gemacht zu haben und begoß ſeine Freude mit Wein, lobte den Doktor Schwertfeger und kaufte eine Fettgans, die nun nicht mehr das Privilegium der Juden war. Bevor er aber noch die ſchwere Gansleber verdauen hatte können, waren ſeine dreißig Millionen nicht einmal die zehn wert, die er ausgegeben und er beſaß kein Geld mehr zu neuen Ankäufen.
So war es wahrhaftig kein Wunder, wenn zu Weihnachten eine Welle der Erbitterung und Unzufriedenheit durch Wien ging und die Silveſternacht nicht mit Jubel und Radau wie ſonſt, ſondern in Verdroſſenheit und Mutloſigkeit gefeiert wurde.
Und wenn der Bundeskanzler das Geſpräch mitangehört hätte, das in der Weihnachtswoche der Herr Habietnik, Beſitzer des großen Modehauſes in der Kärntnerſtraße, und der Herr Mauler, Inhaber des großen Juweliergeſchäftes am Graben, miteinander führten, ſo wäre ſein Ingrimm noch größer geweſen, als er es ohnedies war.
Herr Habietnik und Herr Mauler ſaßen im Grabenkaffee und klagten beide über das elende Weihnachtsgeſchäft, das den Ruin Tauſender von Geſchäftsleuten beſiegeln mußte. Plötzlich beugte ſich Herr Habietnik zu Herrn Mauler und erzählte ihm von einem Traum, den er in der vergangenen Nacht gehabt.
„Stellen Sie ſich vor, Herr Mauler, i hab' g'träumt, daß plötzlich zu mir ins Geſchäft lauter Juden und Jüdinnen gekommen ſan. Alle waren hochelegant und haben Banknotenbündel in den Händen gehalten und es iſt ein Rieſenwirbel entſtanden. Die Madeln konnten die Pelze und Stoffe, die Mäntel und Koſtüme gar nicht ſchnell genug herbeibringen und die ganze Modeabteilung war von Seide und Samt, von Spitzen und Stickereien gefüllt. Und nichts war den Jüdinnen gut genug und eine ſehr eine feſche jüdiſche Dame hat immer geſchrien: ‚Das iſt gar nichts! Wir kommen aus Paris und Paläſtina, wo die neueſten Moden ſind, zeigen Sie das Beſte, was Sie haben.‘ Und da hat meine erſte Verkäuferin plötzlich eine Barchenthoſe gebracht und hat geſagt: ‚Aber meine verehrte gnädige Israelitin, das iſt doch das Neueſte aus Paris!‘ Und da iſt ein furchtbares Gelächter entſtanden, ſo daß ich aufgewacht bin! Glauben S' nicht, Herr Mauler, daß der Traum was zu bedeuten hat?“
Herr Mauler aber meinte grinſend:
„Ja, er hat zu bedeuten, daß bald die ganze Welt über uns lachen wird und wir uns in Flanell und Barchent einwickeln werden, bevor wir begraben werden. Aber das eine weiß ich, Herr Habietnik, wenn ſo plötzlich vor meinem Laden ein Automobil vorfahren würde mit einem jüdiſchen Ehepaar, ſo tät ich ſie beide abküſſen und hätt' noch einmal eine Freude am Leben! Wiſſen Sie, Herr Habietnik, wie ich früher noch Kommis beim Herrn Zwirner war, der mein Geſchäft gehabt hat, da hab' ich mir oft gedacht, daß es eigentlich eine Schand' iſt, daß faſt nur die Juden Geld genug haben, um Brillanten und Perlen zu kaufen. Und einmal habe ich das auch laut geſagt. Da hat mich der Herr Zwirner angelacht und geſagt: ‚Herr Mauler, ſein Sie kein Narr, ſondern froh darüber, daß die Juden kaufen und das Geld unter die Leute bringen. Oder möchten Sie es lieber haben, daß auch die Juden ihr Geld vergraben und verſtecken wie die Bauern? Sie werden ſehen, wenn das mit dem Antiſemitismus ſo weitergeht, ſo werden die reichen Juden auswandern und dann können die Geſchäftsleute ſperren!‘
Na und jetzt ſind nicht nur die reichen, ſondern auch die armen Juden ausgewandert und wir ſind richtig alle kapores!“
Bei Spineders war der heilige Abend in der gewohnten patriarchaliſchen Weiſe gefeiert worden. Die Stimmung war aber nicht die beſte. Der Hofrat begann ernſtliche Sorgen materieller Art zu haben, die ihm die Entwertung ſeines Vermögens bereitete; Frau Spineder konnte ſich noch immer von dem Schrecken nicht erholen, den ihr die Tatſache eingejagt, daß ſie für den Weihnachtskarpfen fünfzigtauſend Kronen und für die Weihnachtsgans hunderttauſend hatte zahlen müſſen, und Lotte war unruhig, weil ſie ohne Nachricht von Leo war und doch gehofft hatte, daß er ſich irgendwie wenigſtens mit einem Glückwunſch melden würde.
Gerade als mit Andacht der koſtbare Fiſch verzehrt wurde, läutete die Haustorglocke und das Stubenmädchen meldete, ein Mann ſei da, der dem gnädigen Fräulein etwas perſönlich zu überbringen habe. Lotte ſtürzte hinaus, und der in einen Pelz gehüllte Mann, der ihr etwas zu übergeben hatte, küßte ſie im dunklen Hausflur wie verrückt ab, um ihr dann ein winziges Päckchen in die Hand zu drücken und eilends wieder zu verſchwinden.
Im Speiſezimmer wickelte Lotte das kleine Paket aus und entnahm einem Lederetui einen Ring mit einer köſtlichen, haſelnußgroßen Perle.
„Ein Weihnachtsgeſchenk von Herrn Henry Dufresne“, ſagte Lotte, die purpurrot geworden war, und ein unendliches Glücksgefühl durchſtrömte ihr junges Herz, als ſie den Ring über den Finger zog.
Der Herr Hofrat aber war betreten und erklärte kategoriſch:
„Lotte, nun aber muß dieſer Herr Dufresne ſich uns doch endlich vorſtellen und um deine Hand anhalten. Denn ein ſolcher Ring, den man einem Mädchen ſchenkt, iſt einfach ein Verlobungsring.“
Lachend küßte Lotte ihren Vater.
„Habt noch ein wenig Geduld! Leo — Henry ſagt, daß er ſehr bald zu euch kommen werde.“
Die Mama aber ſchüttelte wieder den Kopf und dachte:
„Seltſame Zeiten, ſeltſame Jugend! Liebt einen, vergißt ihn und verwechſelt dann ſeinen Namen mit dem des Nachfolgers!“
Im Januar vereinigten ſich mehrere große Konſumentenorganiſationen zu einer Maſſenverſammlung in der Volkshalle des Rathauſes unter der Deviſe: „Wir können nicht weiter!“ Zehntauſende von Menſchen waren der Einladung gefolgt und trotz der außerordentlichen Kälte ſtanden vor dem Rathaus ungeheure Menſchenmaſſen, die in der Volkshalle nicht mehr Platz gefunden hatten.
Die Verſammlung bot ein merkwürdiges Bild. Leo Strakoſch, der ſich ebenfalls eingefunden hatte, konſtatierte, noch niemals ſo viele vollbärtige Männer geſehen und noch nie ſo viele Heilrufe gehört zu haben. Eine andere Staffage und man hätte an eine Tiroler Bauernverſammlung zur Zeit des Andreas Hofer denken können. Auch Weiblichkeit war maſſenhaft vertreten, aber wahrhaftig nicht die lieblichſte, die Wien aufzuweiſen hat. Unter allgemeinem Heil-Gebrüll eröffnete der Apotheker Doktor Njedeſtjenski die Verſammlung mit der Feſtſtellung, daß es ſo nicht weitergehen könne. Er vermied es ſorgfältig, die Notlage und Teuerung mit der Judenausweiſung in Zuſammenhang zu bringen, ſondern gab ſich höchſt deutſchnational und behauptete, nur die Tatſache, daß Oeſterreich ſich nicht an Deutſchland anſchließen könne, ſei ſchuld an dem jammervollen Niedergang Wiens. Worauf ein Arbeiter unter ſchallender Heiterkeit dazwiſchen rief:
„Wir können uns ja gar nicht mehr anſchließen, oder glauben Sie, daß die Deutſchen auch ſolche Trotteln wie wir ſind und ihre Juden hinausſchmeißen werden?“
Das brachte den Apotheker aus dem Konzept, er ſtammelte noch etwas von deutſcher Einheit und deutſchem Volksbewußtſein, ſchrie „Heil“ und gab den Rednern das Wort. Worauf faſt nur mehr über die Juden geſprochen wurde. Und zwar ſo, daß ein Unkundiger hätte glauben müſſen, Wien ſei die judenfreundlichſte Stadt der Welt. Als ein Weinhändler antiſemitiſche Töne anſchlug, wurde er direkt niedergeſchrieen und ein Zwiſchenruf: „Hätten wir lieber von den Juden gelernt, als ſie hinauszujagen!“ fand großen Beifall. Leo konnte ſich nicht länger beherrſchen. Mit bedenklichem Herzklopfen meldete er ſich bei dem Vorſitzenden zum Wort und beſtieg die Rednertribüne, während er dachte: Nun, Frechheit, ſteh' mir bei! Er tat, als würde er die deutſche Sprache nur unvollkommen beherrſchen, betonte immer wieder, daß er als Franzoſe eigentlich nicht befugt ſei, ſich in die Angelegenheiten Oeſterreichs zu miſchen, aber von Wohlwollen für dieſe unvergleichlich ſchöne und liebreizende Stadt, der ſchönſten nach oder mit Paris, erfüllt, doch nicht umhin könne, ſeiner Meinung Ausdruck zu geben. Worauf die anweſenden Vollbärte geſchmeichelt und die Frauen, von dem ſchlanken, hübſchen Mann trotz des Knebelbartes entzückt „Heil!“ ſchrieen. Und dann fuhr Leo mit franzöſiſchem Akzent fort:
„Auch wir in Paris haben ſehr viele Juden, gute und ſchlechte, wertvolle und ſchädliche. Jedenfalls ſind viele darunter, die alle Hochachtung verdienen und dem Land von großem Nutzen ſind. Niemandem aber würde es bei uns einfallen, die Juden ausweiſen zu wollen, ſondern jeder verſucht, ihre guten Eigenſchaften auszunützen. Ich bin hier nicht zu Hauſe und kenne daher die Wiener Juden nicht ſo genau, kann aber ſagen, daß ich in Paris mit ſehr vielen aus Wien Ausgewieſenen verkehrt habe, die einen vortrefflichen Eindruck gemacht haben und ſicher ſehr bald gute Franzoſen ſein werden. Es iſt möglich, daß zwiſchen den öſterreichiſchen Chriſten und den Juden ein größerer Unterſchied iſt, als zwiſchen den leichtbeweglichen und temperamentvollen Franzoſen und den Juden. Aber gerade deshalb müßte doch eine gute Ergänzung möglich ſein. Ich höre, daß man den Juden hierzulande den Vorwurf gemacht hat, das Kapital zu beherrſchen und relativ mehr Geld zu beſitzen als die chriſtlichen Bürger. Ja, meine Verehrten, daraus geht doch nur hervor, daß ſie raſcher im Denken und Handeln ſind, und eine kluge Regierung müßte ſolche Eigenſchaften für die Allgemeinheit zu benutzen verſtehen.“
Stürmiſche Zurufe von allen Seiten: „Jawohl, eine geſcheite Regierung, aber wir haben eben eine blöde! Recht hat er! Heil! Heil!“
„Meine Verehrten,“ ſagte Leo lächelnd, „ob einem die Juden ſympathiſch ſind oder nicht, iſt eigentlich gleichgültig. Der Sauerteig, der dem Brotmehl beigegeben wird, ſchmeckt an ſich recht abſcheulich und doch kann ohne ihn kein Brot gemacht werden. So müßte man auch die Juden betrachten. Sauerteig, an ſich wenig erfreulich und in zu großen Quantitäten ſchädlich, aber in der richtigen Miſchung unentbehrlich für das tägliche Brot. Und ich glaube, daß Ihr Brot ſitzen bleibt, weil ihm der Sauerteig fehlt!
Nun heißt es aber nicht räſonieren und das, was geſchehen iſt, beklagen, ſondern zuſehen, wie Abhilfe geſchaffen werden kann. Wie das in Oeſterreich möglich ſein wird, weiß ich nicht. In Frankreich würde in ſolchem Falle die Bevölkerung auf Neuwahlen dringen, die zeigen müßten, ob das Volk mit den herrſchenden Zuſtänden zufrieden iſt oder ſie ändern will!“
Damit trat Leo ab, um raſch in der Menge zu verſchwinden. Der Verſammlung hatte ſich eine ungeheure Aufregung bemächtigt. Wie ein Funke in ein Dynamitfaß, ſo hatte das Wort „Neuwahlen“ in die Menſchenmaſſen eingeſchlagen, die rieſige Halle erdröhnte von dieſem aus dreißigtauſend Kehlen geſchrieenen Wort, das ſich auf die Straße fortpflanzte und zum Schlagwort der kommenden Zeit wurde.
Am folgenden Tage fand in der Redaktion der „Arbeiter-Zeitung“ eine Konferenz der Hauptredakteure und der Vertrauensmänner der Partei ſtatt, in der zum erſtenmal ſeit Jahren wieder beſchloſſen wurde, aktive, energiſche Politik zu machen und mit dieſer Politik aus den geſchloſſenen Räumen auf die Straße zu gehen. Der Chefredakteur der „Arbeiter-Zeitung“, der ehemalige Federnſchmücker Wunderlich, der nach beſtem Gewiſſen das Erbe Viktor Adlers verwaltete, kam zu folgender Konkluſion:
„Wir müſſen das Schlagwort dieſes merkwürdigen franzöſiſchen Malers, der unmöglich Diefreß heißen kann, wie ihn der Trottel von Vorſitzenden niedergeſchrieben hat, aufgreifen. Von heute an werden wir in unſeren Blättern, in unſeren Verſammlungen und Beratungen immer wieder Neuwahlen fordern. Und nun werden wir unſere Freunde in Frankreich, Holland, der Tſchechoslowakei, in England und Amerika in Aktion ſetzen und ſie veranlaſſen, alles zu tun, damit große Kronenbeträge auf den Markt geworfen werden. Fällt die Krone neuerdings empfindlich, ſteigt die Teuerung, die derzeit ſtagniert, wieder an, ſo iſt die Lage reif für uns und wir werden, wenn es ſein muß, die Auflöſung der Nationalverſammlung mit Gewalt erzwingen.“
In den nächſten Tagen ereignete ſich noch etwas, was in den ſtramm-chriſtlichſozialen Kreiſen große Beſtürzung erregte. Der Bürgermeiſter von Wien, nach Schwertfeger der mächtigſte Mann im Reiche, Herr Karl Maria Laberl, fiel ſozuſagen um. Nicht aus eigenem Willen allerdings, ſondern weil ihm ſein Präſidialiſt Herr Kallop ein Bein ſtellte. Von dieſem Herrn Kallop wußte man längſt im Rathauſe, daß er eigentlich umgekehrt, das heißt Pollak, heißen müßte, weil dies der Name ſeines Großvaters war. Und als die Juden noch in Wien geweſen, erzählte man in ihren Kreiſen, daß der alte Pollak ein aus Galizien eingewanderter Getreidehändler wäre, der eine Chriſtin geheiratet habe und ſich deshalb taufen ließ. Sein Sohn habe ſchon den Namen Kallop angenommen, war ein in chriſtlichen Kreiſen angeſehener Advokat, der wieder eine Chriſtin heiratete, ſo daß die Enkelkinder des alten Pollak nach dem Schwertfegerſchen Geſetz als Vollarier anzuſehen waren. Joſef Kallop, der Sohn des Advokaten, taugte in ſeiner Jugend nichts, konnte ſeine juriſtiſchen Studien nicht beenden und wurde daher mit Erfolg Magiſtratsbeamter. An Schlauheit den meiſten ſeiner Kollegen turmhoch überlegen, brachte er es bald zum Präſidialiſten und ſeit geraumer Zeit war er die rechte Hand des Bürgermeiſters Laberl.
Herr Kallop alſo war es, der den Bürgermeiſter zum Umfallen brachte. Er machte ihm klar, daß ein großer Umſchwung bevorſtehe.
„So geht es nicht weiter, Herr Laberl, das iſt Ihnen doch ganz klar. Es wird demnächſt Unruhen geben, ernſte Unruhen ſogar, und eines Tages wird die Regierung ſozuſagen flötengehen. Wenn Sie nicht mit flötengehen wollen, ſo müſſen Sie ſich beizeiten ein wenig umdrehen. Rücken Sie von Schwertfeger ab, geben Sie zu, daß man bei der Judenausweiſung zu weit gegangen iſt, und ganz Wien wird plötzlich inmitten des Rummels, der kommen muß und wird, ſagen: Unſer Bürgermeiſter, das iſt ein Geſcheiter, der lenkt ein und wird uns noch herausreißen.“
Herr Karl Maria Laberl nickte, ſtrich ſich den ſchönen, weißen Bart, war von ſeinem überlegenen Verſtand ſchon ganz durchdrungen, fragte aber einigermaßen ängſtlich:
„Lieber Kallop, das iſt ja ganz richtig, was Sie da ſagen und entſpricht dem, was ich mir ſchon längſt gedacht habe. Aber wie ſoll ich denn das machen?“
„Sehr einfach, Herr Bürgermeiſter. Wir berufen eine Verſammlung der chriſtlichſozialen Bürgervereinigung des, na, ſagen wir erſten Bezirkes ein, weil dort unter den Geſchäftsleuten geradezu eine Panikſtimmung herrſcht. Und dann halten Sie eben eine Rede, die wir zuſammen ausarbeiten werden.“
Und ſo geſchah es, nur daß das „Zuſammenausarbeiten“ darin beſtand, daß Herr Laberl die Rede, die ſein Präſidialiſt niederſchrieb, auswendig lernen mußte. Als dann die Verſammlung der Bürgervereinigung abgehalten wurde, begrüßte ſie Herr Laberl ſehr feierlich, ſprach von dem Ernſt der Zeiten, von den Zuſtänden, die man nicht mehr ertragen könne und ſagte ſchließlich:
„Der Ruf nach Neuwahlen wird immer ungeſtümer und ich bin der letzte, der den Ruf nicht hören will. Im Gegenteil, ich perſönlich bin dafür, daß man tut, was das Volk will und durch Neuwahlen feſtſtellt, ob die Bevölkerung Oeſterreichs auch jetzt noch gutheißt, was die Regierung vor mehr als zwei Jahren getan, oder ob ſie eine radikale Aenderung wünſcht. Ich und wohl mit mir Sie alle, meine Herren, haben nur ein Ziel vor Augen: Den Wiederaufbau möglich zu machen, das unglückliche Volk aus dem Labyrinth, in das die Entente aber vielleicht auch ſchwerwiegende eigene Irrtümer es geſtoßen haben, wieder ans Licht des Tages zu führen. Keine Dogmatik, kein Fanatismus, keine perſönliche Antipathie oder Sympathie darf uns leiten, meine Herren, ſondern lediglich der Nützlichkeitsgedanke!“
Kallop ſorgte dafür, daß die Rathauskorrespondenz noch in derſelben Nacht die Rede des Bürgermeiſters im Wortlaut den Zeitungen übermittelte, und am nächſten Tag wußte es ſogar der dümmſte Kerl von Wien, daß Karl Maria Laberl den Bundeskanzler im geeigneten Moment im Stich laſſen werde.
Als Doktor Schwertfeger in den Morgenblättern die nur von der „Arbeiter-Zeitung“ entſprechend kommentierte Rede des Bürgermeiſters las, ſtieg ihm gallbitterer Speichel in den Mund und er ſpie aus. Dann warf er einen langen, verlorenen, glanzloſen Blick vom Fenſter über den Volksgarten, den jetzt ein weißes Leichentuch bedeckte.
Herr Kallop aber rieb ſich im Rathaus vergnügt die Hände. Und nachdem er ſich vergewiſſert, daß weder ein Kollege noch ein Amtsdiener im Zimmer war, ſagte er laut und vernehmlich: „Maſeltoff!“ und klopfte dreimal unter den Tiſch. Wobei zu bemerken iſt, daß Herr Kallop eine üppige, zwar ſchon zweimal geſchiedene, aber dafür mit zahlreichen Millionen geſegnete Jüdin verehrte, die in Prag im Exil lebte. Und er wünſchte nichts ſehnlicher, als ihre und ihrer Millionen Rückkehr ins teure Vaterland, ſchon deshalb, weil er mit ſeinem Gehalt als Präſidialchef unmöglich die Teuerung länger aushalten konnte und außerdem falſch in polniſcher Mark ſpekuliert hatte.
Der Faſching dieſes Jahres konnte die Laune der Wiener nicht verbeſſern. Grimmige Kälte, viel Schnee, ungeheizte Zimmer, weil der Meterzentner Kohle hunderttauſend Kronen koſtete, eine Pleite nach der anderen, der Zuſammenbruch eines großen Bankkonzerns, bei dem viele ihr Geld liegen hatten.
Die Bälle und Redouten ſtanden vollſtändig unter dem Zeichen des Dirndlkoſtüms. Da der Toilettenluxus fehlte, machte man aus der Not eine Tugend, veranſtaltete faſt nur Bauernbälle, ſo daß Wien eher einem „Kirtag“ glich als einer Großſtadt.
Dazu kam, daß Wien vollſtändig aufgehört hatte, eine Theaterſtadt zu ſein. Die erſten Kräfte der Staatsoper gaſtierten unaufhörlich im Ausland, die Philharmoniker abſolvierten eben eine Tournee in Südamerika, die Privattheater hatten ſich in Provinzſchmieren mit unzulänglicher Regie, minderen Kräften und veralteten Spielplänen verwandelt, von auswärts kamen längſt keine Konzertgäſte mehr, weil ihnen Wien die großen Gagen nicht zahlen konnte, Zeitungen waren neuerdings eingegangen, weil die Zahl der Leſer immer mehr abnahm und plötzlich ertönte wieder der Alarmruf: „Die Krone fällt!“
An den ausländiſchen Börſen fanden enorme Kronenabgaben ſtatt, ſo daß Zürich ſie bald nur mehr auf ein Dreißigtauſendſtel Centime bewertete. Demgemäß ſtiegen alle Preiſe und die Bevölkerung begann in Verzweiflung zu geraten. Als das Kilogramm Fett eine Viertelmillion Kronen koſtete, erſchien wieder das geheimnisvolle kleine Plakat des Bundes der wahrhaftigen Chriſten mit den Worten:
„Wie lange noch, Wiener, werdet Ihr dieſe Regierung dulden? Wann endlich wollt Ihr die Nationalverſammlung auseinandertreiben und Neuwahlen erzwingen?“
In den Morgenſtunden des nächſten Tages kam es zu Plünderungen auf den Märkten, die erbitterten Hausfrauen ſtürmten die Stände, verprügelten die Marktfrauen und bemächtigten ſich der Waren. In Favoriten nahm der Tumult einen revolutionären Charakter an, es mußte die Reichswehr aufgeboten werden, die ſich aber weigerte, gegen die Frauen vorzugehen.
In der Nationalverſammlung, die eben tagte, richteten nicht nur die Sozialdemokraten, ſondern auch einzelne Chriſtlichſoziale und Großdeutſche Interpellationen an die Regierung, in denen gefragt wurde, was man zu tun gedenke, um der verzweifelten Bevölkerung zu helfen. Die Sozialdemokraten ſtellten einen Dringlichkeitsantrag, die Regierung möge ſofort Neuwahlen ausſchreiben, damit das Volk ſelbſt entſcheiden könne, ob es bereit ſei, die herrſchenden Zuſtände noch länger zu dulden.
Totenbleich erhob ſich der Bundeskanzler zu einer Entgegnung:
„In dieſem Augenblick der allgemeinen Verwirrung Neuwahlen ausſchreiben, hieße das Geſchick des Landes den radikalen Elementen ausliefern und den Juden wieder Tor und Türe öffnen! Das ſtolzeſte und größte Werk, das die öſterreichiſche Legislatur jemals geſchaffen, würde zuſammenbrechen, weil wir nicht genug Geduld und Aufopferungsfähigkeit haben, um auszuhalten und die gegenwärtigen Schwierigkeiten zu überwinden. Ich weiß, daß das internationale Judentum am Werke iſt und ſicher arbeiten Agitatoren, von jüdiſchem Gelde beſtochen, daran —“
Die weiteren Worte des Kanzlers gingen in dem ungeheuren Tumult verloren, der nun folgte. Die Sozialdemokraten klopften mit den Pultdeckeln, die Galerie tobte und ſchrie, ſogar aus den Reihen der Geſinnungsgenoſſen kamen Zurufe, wie: „Haben Sie Beweiſe für Ihre Behauptungen?“
Um ſechs Uhr abends wurde noch immer über den Dringlichkeitsantrag der Sozialdemokraten geſprochen, die erſichtlicherweiſe alles taten, um die Sitzung in die Länge zu ziehen. Jeder Redner ſprach ſtundenlang; hatte der eine geendet, ſo meldete ſich ein anderer zum Wort, die meiſten Abgeordneten hörten längſt nicht mehr zu, ſondern ſtärkten ſich am Büfett, auch die Miniſterbank war leer geworden, nur Schwertfeger ſaß mit verſchränkten Armen ſtarr und düſter auf ſeinem Sitz.
Plötzlich kam neues Leben in das Haus. Das Gerücht verbreitete ſich, daß Arbeitermaſſen im Anzuge ſeien, gleich darauf hörte man aus weiter Ferne die Klänge des Arbeiterliedes, das Jauchzen und Toben erregter Menſchenmaſſen, bis plötzlich ein einziger Ruf von ungeheurer Stärke durch die geſchloſſenen Fenſter drang:
Nieder mit der Regierung! Fort mit der Nationalverſammlung! Wir wollen Neuwahlen!
Und ſchon umzingelten dichte Menſchenmaſſen mit ihren Fahnen und Standarten das Abgeordnetenhaus und immer neue Züge kamen an, die geſamte Arbeiterſchaft Groß-Wiens, die Angeſtellten und Beamten waren von den Fabriken und Werkſtätten, Bureaus und Aemtern in geſchloſſenen Gruppen anmarſchiert.
Schon donnerten mächtige Schläge gegen die Tore des Hauſes, die raſch geſchloſſen worden waren, ſchon praſſelte ein Steinhagel gegen die Fenſter, ſchon hatte ſich eine Deputation der Arbeiter gewaltſam Einlaß verſchafft. Ihr Führer, ein Eiſenarbeiter namens Stürmer, ein gewaltiger Kerl mit klugen Augen und rieſigem Schädel, ſtellte ſich mitten unter die Abgeordneten, die, von Panik ergriffen, wie die Schafe beim Gewitter einen geſchloſſenen Haufen bildeten, und erklärte kurz und bündig:
„Das Militär hält zu uns, die Jungmannſchaft unter den Poliziſten ebenfalls! Entweder die Regierung löſt innerhalb zehn Minuten das Haus auf und erklärt, daß ſofort Neuwahlen ausgeſchrieben werden, oder die Maſſen gehen mit Gewalt vor. Die Erbitterung der Leute kennt keine Grenzen, hinter den Arbeitern ſteht diesmal das Bürgertum, es handelt ſich um keine politiſche Angelegenheit, ſondern um Taten der Verzweiflung. Am wildeſten ſind die Frauen, hören Sie nur, wie ſie ſchreien, man möge das Parlament anzünden! Gibt die Regierung nicht nach, ſo können wir für nichts garantieren!“
Und es geſchah, was geſchehen mußte. Die Miniſter erklärten nach kurzer Beratung mit den chriſtlichſozialen und großdeutſchen Parteiführern, ſich dem Terror zu fügen, das Haus auflöſen und Neuwahlen ſofort ausſchreiben zu wollen. Der Bundeskanzler bot gleich ſeine Demiſſion an, aber ſeine Kollegen und die Parteigrößen beſchworen ihn, ſie in dieſem kritiſchen Augenblick nicht zu verlaſſen und ſo willigte er denn ein, die Zügel der Regierung noch bis zu den Wahlen in ſeinen Händen zu behalten.
Als dem erregten Volke Mitteilung von der Auflöſung der Nationalverſammlung gemacht wurde, löſte ſich die Spannung in ungeheuren Jubel auf und in der kommenden Nacht wurden die Weinvorräte Wiens ganz erheblich gelichtet.
Sogar der Franzoſe Henry Dufresne, der der denkwürdigen Sitzung auf der Galerie beigewohnt hatte, trank ſich allein in ſeinem Atelier einen ordentlichen Rauſch an. Am nächſten Morgen aber war er wieder friſch und munter, entwarf eine geniale Skizze, die das Titelbild des Warenhausromanes von Zola bilden ſollte und ſchwenkte Lotte, die vormittags ſchneebedeckt mit kalten roten Backen zu ihm kam, in ſeinen Armen durch die Luft.
Lotte war in ausgelaſſener Laune wie er, denn ihr Papa hatte nach der Lektüre der Morgenblätter ſehr ernſt geſagt:
„Mein Kind, ich ſehe ſchwere Konflikte für dich kommen! Wenn nicht alles trügt, ſo wird Leo Strakoſch bald die Möglichkeit haben, nach Wien zurückzukehren und dann wirſt du dich entſcheiden müſſen: Entweder er, den du ſo ſehr geliebt haſt und der mir ein willkommener Sohn wäre oder dieſer myſteriöſe Franzoſe, den wir noch immer nicht kennen gelernt haben!“
Als Lotte darauf lächelnd erwidert hatte, ſie würde am liebſten beide, Leo und den Franzoſen nehmen, da war Hofrat Spineder ernſtlich böſe geworden und hatte ſie für frivol und unmoraliſch erklärt. Sie mußte ihre ganze Verführungskunſt aufwenden, um ihn zu beſänftigen.
Und nun ſaß ſie auf dem Schoß ihres Geliebten und küßte Henry Dufresne und Leo Strakoſch in einer Perſon mit Feuereifer ab.
Leo, der faſt nie Gelegenheit fand, mit irgend jemandem außer mit Lotte und ſeiner Aufwartefrau zu ſprechen, hatte in der letzten Zeit zwei Bekanntſchaften gemacht, die ihm wichtig dünkten. Die eine beſtand in der Perſon des Nationalrates Wenzel Krötzl, die andere war der Inhaber des großen Modehauſes in der Kärntnerſtraße, Herr Habietnik.
Mit Krötzl war Leo auf folgende Weiſe bekannt geworden: Als er einmal ſpät nachts aus dem Kaffeehaus, in dem er die Zeitungen und Zeitſchriften zu leſen pflegte, nach Hauſe gekommen war, fand er auf dem letzten Treppenabſatz einen ſtockbeſoffenen Mann liegen, der jämmerlich weinte und ſich vergeblich bemühte, aufzuſtehen. Leo half ihm in die Wohnung, die unterhalb ſeines Ateliers gelegen war und erfuhr bei dieſer Gelegenheit, daß er den ehrſamen Nationalrat Wenzel Krötzl vor ſich hatte, ſeines Zeichens im Nebenberuf Häuſerſchieber. Nicht nur, daß dies auf dem Türſchild vermerkt ſtand, Herr Krötzl ſchrie auch, während er hin- und hertaumelte, immerzu:
„Wann aner ſagt, daß i b'ſoffen bin, ſo is er a jüdiſcher Gauner! I bin a g'wählter Nationalrat, an Abgeordneter und hab' fufzich Häuſer zum verkaufen, die was früher denen Saujuden g'hört ham!“
Leo hatte dann im Laufe der Zeit Gelegenheit, zu erfahren, daß Herr Krötzl nicht nur einer der wütendſten Antiſemiten ſei, ſondern auch ein notoriſcher Trunkenbold, der ſich gewöhnlich ſchon am Büfett des Parlaments ſeinen Frühſtücksrauſch kaufte. Nebenbei hatte er eine gewiſſe Beredſamkeit und genoß infolge ſeiner derben Ausdrucksweiſe viel Popularität unter ſeinen Wählern. Er war Witwer und beherbergte von Zeit zu Zeit eine angebliche Wirtſchafterin bei ſich, mitunter ſolche, die knapp das ſtraffreie Alter von vierzehn Jahren beſaßen.
Die Bekanntſchaft des Herrn Habietnik hatte Leo auf weſentlich bürgerlichere Art gemacht. Leo pflegte ſeinen Bedarf an Krawatten und Wäſcheſtücken in dem Modehaus zu decken, das trotz ſeiner „Verloderung“ noch immer die beſten Waren führte, und bei ſolcher Gelegenheit war er einmal mit Herrn Habietnik ins Geſpräch gekommen. Herr Habietnik war entzückt, einen Franzoſen von Distinktion zu bedienen, der ſich tadellos trug und genau wußte, daß zu einem blauen Cheviotanzug eine perlengraue Seidenkrawatte am beſten paßte, es kam zu einem angeregten Geſpräch, im Verlaufe deſſen Leo erkannte, wie ſehr der intelligente Kaufmann unter den herrſchenden Verhältniſſen litt, und von da an trafen ſich die beiden öfters in dem Laden, ſchließlich vereinbarten ſie ſogar hie und da eine Zuſammenkunft im Graben-Café.
Nach der Auflöſung der Nationalverſammlung beeilte ſich Leo, mit Herrn Habietnik wieder in Fühlung zu kommen, und im Laufe der Unterhaltung fragte er ihn um ſeine Meinung über die künftige Entwicklung.
Herr Habietnik ſchüttelte ſorgenvoll das Haupt:
„Alſo die Sozis arbeiten wieder mit Volldampf und werden die Stimmen, die ſie das letztemal verloren hatten, zurückgewinnen. Die Chriſtlichſozialen und Großdeutſchen haben den Kopf verloren, ſind mit ihrem Programm noch nicht herausgekommen, aber ſchließlich wird jeder, der nicht Sozialdemokrat iſt, doch für eine der beiden Parteien ſtimmen müſſen.“
„So daß alſo vielleicht gar das Judengeſetz in Kraft bleiben wird?“
„Kann ſein, wenn die Sozialiſten nicht die Zweidrittelmehrheit, die zu jeder Verfaſſungsänderung notwendig iſt, bekommen. Denn ich fürchte, daß die Chriſtlichſozialen und Großdeutſchen doch nicht den Mut haben werden, das Ausnahmsgeſetz gegen die Juden aufzuheben. Das heißt, eigentlich müßte ich ſagen, ich hoffe, denn wenn die Juden wieder kommen, ſo wird man mir am Ende gar das Geſchäft wieder nehmen — —.“
„Unſinn“, erklärte Leo energiſch. „Was Sie haben, kann man Ihnen nicht mehr nehmen! Vielleicht, daß man es Ihnen abkaufen oder daß der frühere Firmeninhaber ſich mit Ihnen zu einer Teilhaberſchaft bequemen würde. Die Hauptſache iſt aber doch wohl, daß Sie die Jagerhütln und die Lodenröcke wieder hinausſchmeißen und Ihre Auslagen ſo arrangieren können, wie ſie einſt waren.“
Begeiſterung glomm in den Augen Habietniks auf und mit warmem, ehrlichem Ton erwiderte er:
„Jawohl! Das iſt die Hauptſache! Wenn ich daran denke, daß hier wieder einmal Leben und Luxus herrſchen könnte, wie einſt — nein, das iſt ein zu ſchöner Traum, um wahr zu ſein.“
„Hören Sie, Herr Habietnik,“ ſagte Leo, indem er ſeine Hand auf den Arm des Kaufmannes legte, „Sie ſind der Mann, um den Traum wahr zu machen! Noch trennen uns Wochen von den Neuwahlen. Das genügt, um eine bürgerliche Partei, beſtehend aus den fortgeſchrittenen Elementen, den angeſehenen Kaufleuten, den Gelehrten, Rechtsanwälten, Künſtlern und Fabrikanten zu bilden, mit der offenen und ungeſchminkten Parole: Aufhebung des Ausnahmegeſetzes gegen die Juden! Nehmen Sie das heute noch in Angriff, bilden Sie ein zwölfgliedriges Komitee, in dem drei Kaufleute, drei Induſtrielle, drei Feſtangeſtellte und drei Leute mit freiem, akademiſchem Beruf ſitzen, laſſen Sie, da Sie noch keine Zeitung zur Verfügung haben, zehntauſend Plakate drucken, gründen Sie dann Bezirkskomitees, betreiben Sie Propaganda von Straße zu Straße, von Haus zu Haus und der Erfolg kann nicht ausbleiben. Ich bin ein Fremder, kenne die Verhältniſſe nicht ſo genau wie Sie, aber dafür bin ich objektiver und ich weiß ganz ſicher, daß ein erheblicher Teil der Bevölkerung die neue Partei ſtürmiſch begrüßen wird.“
Herr Habietnik war Feuer und Flamme. Am ſelben Abend noch trommelte er ein halbes Hundert Kaufleute aus der Inneren Stadt, Fabrikanten, Rechtsanwälte zuſammen, und um ein Uhr morgens war das Komitee konſtituiert, dem ein gemeinſam gezeichnetes Millionenkapital zur Verfügung ſtand.
Die neue Partei hieß „Partei der tätigen Bürger Oeſterreichs“, ſtellte ſich auf ein abſolut bürgerlich-freiſinniges Programm und begann mit einer lebhaften und temperamentvollen Agitation. Daß der Franzoſe Dufresne die Flugzettel und Aufrufe verfaßte, das wußte niemand als Herr Habietnik.
Der Erfolg übertraf die kühnſten Erwartungen. Früher war die Bevölkerung jedem Verſuch, eine demokratiſche Bürgerpartei zu gründen, mit größtem Mißtrauen entgegengetreten, weil ſich in ſolcher Partei immer wieder die Juden vordrängten. Diesmal war das eine rein chriſtliche Angelegenheit, die Namen der Parteiführer bürgten dafür, daß es ſich nicht um eine von auswärtigen Juden angezettelte Verſchwörung handelte, und alle die Leute, die durch das Judengeſetz geſchädigt worden waren, drängten ſich in die Komiteelokale, um Mitglieder der neuen Partei zu werden. In hellen Scharen kamen die Kaufleute, die Juweliere, die Stückmeiſter der großen Schneider, die brotlos gewordenen Chauffeure, ſie brachten ihre Frauen mit, immer größer wurde der Anſturm, trotz des Zeter- und Mordiogeſchreies der chriſtlichſozialen Blätter. Die „Arbeiter-Zeitung“ verhielt ſich zurückhaltend und durchaus nicht aggreſſiv. Man ſagte ſich dort, daß zweifellos die Partei der tätigen Bürger den Sozialdemokraten Tauſende von Stimmen entziehen würde, andererſeits aber dorthin alle jene Stimmen ſtrömen würden, die ſonſt ſich der Wahl enthielten oder doch wieder den Chriſtlichſozialen oder Großdeutſchen zuliefen. Alſo beſchränkte ſie ſich darauf, hier und dort gegen das Programm der Bürgerlichen zu polemiſieren, im geheimen aber wurden in zweifelhaften Bezirken ſogar Vereinbarungen geſchloſſen.
Und der Tag der Wahlen, die auf den 3. April feſtgeſetzt worden waren, rückte näher und näher, die ganze Welt begann ſich für ſie zu intereſſieren, die fremden Börſen nahmen eine abwartende Haltung ein und ließen die Krone auf ihrem Tiefſtand ruhen, und Wiens bemächtigte ſich zunehmende Aufregung, die wiederholt zu Exzeſſen und bösartigen Tumulten führte. Denn alle Parteien arbeiteten mit jedem verfügbaren Mittel: die antiſemitiſchen ſchrien „Verrat!“ und erzählten Schauergeſchichten von der Verſchwörung des internationalen Judentums; die Sozialdemokraten hetzten gegen die Bauern, die die arbeitende Stadtbevölkerung auſplündern und gegen die chriſtliche Demagogie, die ſich nur ſelbſt durch die Ausweiſung der Juden hatte bereichern wollen; die neue Bürgerpartei aber führte immer wieder auf rieſengroßen Plakaten Ziffern auf, die bewieſen, wie furchtbar die Verelendung Wiens ſeit der Ausweiſung der Juden, wie Wien tatſächlich zu einem Rieſendorf geworden, wie jeder Schwung und Zug ins Große geſchwunden. Und immer wieder verſicherte ſie in allen Variationen und Tonarten:
„Das Ausnahmsgeſetz gegen die Juden muß aufgehoben werden, aber gleichzeitig wird es Sache einer klugen, gewiſſenhaften Regierung ſein, alle jene Elemente, die nicht ſchon vor dem Weltkrieg in Wien ſeßhaft waren, fern zu halten, es ſei denn, ſie können vor einem zuſtändigen, aus Bürgern und Arbeitern zuſammengeſetzten Gerichtshof nachweiſen, daß ſie willens und fähig ſind, in Oeſterreich nutzbringende, produktive, werterzeugende, dem Geſamtwohl notwendige Arbeit zu leiſten.“
Beim Bundeskanzler fanden täglich bis in die Nacht währende Sitzungen ſtatt, in denen beraten wurde, wie man am beſten der neuen Partei und dem wieder erſtarkten Sozialismus entgegenarbeiten könnte. Schwertfeger hatte die richtige Empfindung gehabt. Es mußte ein neuer, mächtiger Geldkredit aufgebracht werden, die Krone mußte ſteigen, die Bevölkerung erfahren, daß das Chriſtentum der ganzen Welt mit ihr ſolidariſch ſei — dann würde die Regierung den Sieg erringen. Und der Finanzminiſter Profeſſor Trumm hatte ſich gleich nach der Auflöſung des Hauſes auf die Beine gemacht und war nach Berlin, Paris und London gefahren, um zu betteln und zu beſchwören. Vergebens! Die großen chriſtlichen Vereinigungen im Ausland, die franzöſiſchen Antiſemiten, die holländiſchen Chriſten — ſie alle hatten Worte des Mitempfindens und der Sympathie, erkundigten ſich lebhaft nach dem Schickſal der vielen Millionen, die ſie der guten Sache ſchon geopfert, und hielten die Taſchen feſt zu. Die größte Enttäuſchung bildete das Verhalten des amerikaniſchen Billionärs Miſter Huxtable, auf den man am ſicherſten gerechnet hatte. Er ließ alle Telegramme und Bittſchriften unbeantwortet, und zehn Tage vor den Wahlen kam ein Kabeltelegramm des Vertrauensmannes der öſterreichiſchen Regierung in Newyork, das folgenden niederſchmetternden Wortlaut hatte:
„Huxtable unnahbar. Hat ſich heimlich mit einer jungen Jüdin aus Chicago vermählt. Beabſichtigt, den der öſterreichiſchen Regierung vor drei Jahren eingeräumten Kredit der jüdiſchen Großbank ‚Kuhn und Loeb‘ um ein Viertel zu verkaufen.“
Schwertfeger begann in Düſterkeit zu erſtarren, die antiſemitiſchen Häuptlinge verloren vollends den Kopf. Bürgermeiſter Laberl aber tat etwas, was die ungeheuerſte Senſation erregte. Drei Tage vor den Wahlen trat er aus dem chriſtlichſozialen Bürgerklub aus und der Partei der tätigen Bürger bei. Und ſeinem Beiſpiel folgte mehr als die Hälfte der Gemeinderäte.
An dieſem Tage wehte ein warmer Wind die letzten Schneemaſſen von den Abhängen der Wiener Berge fort und oben im Atelier in der Billrothſtraße hielten ſich zwei junge Menſchenkinder heiß und ſehnſuchtsvoll umfangen. Und er flüſterte:
„Oh, wärſt du ſchon mein!“
Und ſie erwiderte traumverloren:
„Wenn du dir ſchon den Knebelbart abnehmen könnteſt; er kitzelt ſo arg!“
Die Wahlen vollzogen ſich unter einer Beteiligung, wie ſie kaum jemals auf der Welt erlebt worden. Greiſe, Kranke, Lahme kamen zu den Urnen, und nachmittags, als die Wahllokale geſchloſſen wurden, wußte man, daß in Wien 99 Prozent der Wahlberechtigten ihre Bürgerpflicht getan. Dann begann im ganzen Lande die Zählung der Stimmen, die bis in die frühen Morgenſtunden währte, und vormittags verkündeten Extra-Ausgaben der „Arbeiter-Zeitung“ und der „Weltpreſſe“ das ſtaunenswerte Reſultat.
Den Chriſtlichſozialen und Großdeutſchen waren nur die Landbewohner treu geblieben, Wien hatte faſt ausſchließlich die Kandidaten der Sozialiſten und der Bürgervereinigung gewählt, ebenſo die kleinen Städte und das öſterreichiſche Induſtriegebiet. Und ſo ſetzte ſich denn das neue Parlament folgendermaßen zuſammen: Siebzig Sozialdemokraten, ſechsunddreißig Mitglieder der Vereinigung der tätigen Bürger, dreißig Chriſtlichſoziale und vierundzwanzig Großdeutſche. Das ergab 106 Stimmen für die Aufhebung des Ausnahmsgeſetzes gegen die Juden, vierundfünfzig für die Aufrechterhaltung. Und damit ſchien der ſchöne Traum Leos, der freiſinnigen Bürger und Sozialdemokraten zerſtört, denn es fehlte ihnen genau eine Stimme zur Zweidrittelmajorität, ohne die eine Aenderung der Verfaſſung nicht vorgenommen werden konnte. Trotz ihrer vernichtenden Niederlage, trotz der Tatſache, daß die Regierung ſofort demiſſionieren und einer ſozialiſtiſch-demokratiſchen weichen mußte, jubelten die Antiſemiten, ſie veranſtalteten Kundgebungen unter der Parole „Die Juden bleiben draußen!“
Eine einzige Angſt beherrſchte die beſiegten Sieger: Die Mehrheit hatte verkündet, daß ſie ſchon in der zweiten Sitzung des neugewählten Hauſes, die in acht Tagen ſtattzufinden hatte, den Dringlichkeitsantrag auf Aufhebung des Judengeſetzes und Wiederherſtellung der Freizügigkeit für jedermann ſtellen würde. Wie nun, wenn ein Chriſtlichſozialer oder großdeutſcher Nationalrat der Sitzung fernbleiben würde? An ein beabſichtigtes Fernbleiben war nicht zu denken, aber ſchließlich konnte einer der Abgeordneten vom Lande krank werden oder einen Unfall erleiden und dieſer eine würde den Gegnern die Zweidrittelmajorität ſichern. Die unterlegenen Parteien ließen daher für ſämtliche gewählte Nationalräte aus ihrem Lager am Tage vor dem Zuſammentritt des Hauſes Extrazüge mit je einem begleitenden Arzt bereitſtellen. Auf dieſe Weiſe glaubten ſie ſich vor jedem verhängnisvollen Zwiſchenfall ſicher. Für Wien ſelbſt waren Vorſichtsmaßregeln nicht notwendig, denn in Wien war einzig und allein der Häuſeragent Herr Wenzel Krötzl von den Weinbauern und Wirten des neunzehnten Bezirkes, denen es in dem judenreinen Wien ſehr gut ging, gewählt worden. Seiner war man in jeder Beziehung ſicher und er erfreute ſich einer vorzüglichen Geſundheit.
Dieſer Herr Krötzl bildete nun die einzige und letzte Hoffnung Leos, während Lotte unter der ſchweren Enttäuſchung faſt zuſammenbrach. Sie weinte den ganzen Tag, kaum daß ſie noch die Energie aufbrachte, täglich zu Leo zu eilen, der ſich vergebens bemühte, ihr Mut und Hoffnung einzuflößen. Hofrat Spineder, der ſelbſt durch den Fortbeſtand des Judengeſetzes ſchwer gekränkt und enttäuſcht wurde, kannte ſich in ſeiner Tochter nicht mehr aus und begann ernſtlich an ihrem Verſtand zu zweifeln. Sorgenvoll beſprach er ihr merkwürdiges Verhalten mit ſeiner Gattin.
„Was ſoll das alles heißen? Hat Leo vergeſſen, verbringt halbe Tage mit einem neuen Verlobten, dieſem Franzoſen, den ich zu haſſen beginne, ohne ihn zu kennen, läßt ſich von ihm beſchenken, erklärt plötzlich, daß ſie am liebſten beide, den Leo und den Dufresne, nehmen würde, und nun, da Leo nicht zurückkommen kann, ſitzt ſie da und weint ſich die Augen aus dem Kopf. Ich glaube, das Mädel iſt übergeſchnappt!“
Frau Spineder ſeufzte tief.
„Mein Lieber, ich kenne ſelbſt mein Kind nicht mehr und habe keine Ahnung, was in ſeinem Herzen vorgeht. Jedenfalls müſſen wir, wenn ſich zeigt, daß das Judengeſetz beſtehen bleibt, darauf dringen, dieſen Herrn Dufresne kennen zu lernen.“
Hofrat Spineder nickte.
„Jawohl! Und ſollte ſich Lotte abermals weigern oder die Sache hinauszuſchieben verſuchen, ſo ſchicken wir ſie zu Tante Minna nach Klagenfurt!“
Leo überlegte Tag und Nacht und hatte ſchließlich einen feſten Plan gefaßt, einen Plan, der entſcheiden ſollte, ob er weiterhin mit offenem Viſier in Wien bleiben konnte oder zurück nach Paris mußte. Fiel das Geſetz nicht, ſo wurde ſeine Rückreiſe zwingende Notwendigkeit, da ſein Freund Henry Dufresne, deſſen Namen er führte, jetzt ſelbſt aus Südfrankreich wieder nach Paris überſiedeln wollte und von da an die Gefahr einer Aufdeckung ſeines verwegenen Spiels vorlag.
Am Tage der Eröffnung der Nationalverſammlung, alſo einen Tag vor der erſten entſcheidenden Sitzung, beſorgte Leo Strakoſch, mit einem Handkoffer bewaffnet, allerlei Einkäufe. Bei Sacher kaufte er für einen phantaſtiſchen Preis, für den man einmal ein ganzes Ringſtraßenhaus bekommen hätte, eine Straßburger Gänſeleberpaſtete in der Terrine, im Hotel Imperial ließ er ſich drei Flaſchen eines köſtlichen weißen Burgunders, drei Flaſchen des ſchwerſten und koſtbarſten Bordeauxweines geben, außerdem eine Flaſche uralten franzöſiſchen Kognaks. Abends lauerte er dann vor dem Haustor dem Herrn Krötzl auf, der ſich gerade nach der feierlichen Eröffnungsſitzung des Hauſes ins Wirtshaus begeben wollte, gratulierte ihm herzlich zu ſeiner Wiederwahl und ſagte:
„Lieber Herr Nationalrat, ich möchte morgen auch der hiſtoriſchen Tagung des Hauſes beiwohnen. Um elf iſt der Beginn der Sitzung, alſo werde ich auf zehn Uhr mein Auto beſtellen und Sie, wenn es Ihnen recht iſt, mitnehmen.“
Herr Krötzl fühlte ſich durch die Liebenswürdigkeit des vornehmen und, wie es ſchien, ſehr reichen jungen Franzoſen höchſt geſchmeichelt, er nahm die Einladung dankend an und fügte hinzu:
„Bin Ihnen ſogar ſehr verbunden, wenn Sie um zehn Uhr zu mir kommen, weil i' dann net riskier', zu verſchlafen. Meine Wirtſchafterin, das dumme Luder, vergißt am End' noch, mich zu wecken, und i' hab' an ſo ſchweren Schlaf, daß i die Weckuhr net hör'. Dös wär' aber a ſchöne G'ſchicht', wann i morgen verſchlafen tät. Nachher hätten mir in vierundzwanzig Stunden die Saujuden, die verfluchten, wieder in Wien!“
Henry Dufresne nahm die übernommene Pflicht, Oeſterreich vor den Juden zu ſchützen, ſehr ernſt, denn er läutete ſchon um halb zehn Uhr bei Herrn Krötzl an. Ein ſchlumpiges, zwar ungewaſchenes, aber noch geſchminktes junges Ding öffnete ihm und ließ den ihr wohlbekannten hübſchen Franzoſen, der eine mächtige Schachtel trug, ohneweiters ein, ein wenig enttäuſcht, daß er ihr und ihren reichlichen Blößen nicht die geringſte Aufmerkſamkeit ſchenkte, ſondern ſich damit begnügte, ihr eine Banknote zu geben und ſie zu bitten, gleich die Morgenblätter aus der Trafik zu holen.
Leo packte im Vorzimmer umſtändlich die Schachtel aus, dann, als das Mädchen gegangen war, um ſeinen Auftrag auszuführen, begab er ſich raſch in die Küche, rückte den Stundenzeiger der Kuckucksuhr um eine volle Stunde zurück, ſchlich ſich auf den Zehenſpitzen in das Wohnzimmer, bearbeitete dort die große Pendeluhr in gleicher Weiſe und öffnete ſchließlich, ohne anzuklopfen, leiſe die Türe zum Schlafzimmer des Herrn Nationalrates. Richtig lag dieſer mit offenem Maul ſägend und ſchnarchend in ſeinem Bett und auf dem Nachtkäſtchen erblickte Leo ſofort die goldene Taſchenuhr, die eben auf ein viertel vor zehn wies. Blitzſchnell war auch ſie auf ein viertel vor neun geſtellt und dann machte ſich der Franzoſe an die unerquickliche Arbeit, Herrn Krötzl, das Wiener Poſtament der chriſtlichſozialen Partei, zu wecken. Es dauerte geraume Zeit, bevor Krötzl endlich die verquollenen Aeuglein aufſchlug und die Situation begriff.
„Jeſſas, der Herr Dufresne, is' ſchon ſo ſpät?“ Und dann, mit einem Blick auf die Taſchenuhr, brummend: „Noch net amal Neun is'! Da hätt' i' noch a ganze Stund' ſchlafen können!“
„Jawohl,“ ſagte Leo lachend, „wenn ich nicht eine beſſere Unterhaltung für Sie und mich wüßte. Stellen Sie ſich nur vor, wie ich geſtern nacht nach Hauſe komme, finde ich ein Poſtpaket aus Paris vor mit den beſten Weinen, die Frankreich beſitzt. Na, und weil ich mich wirklich über Ihren Sieg von ganzem Herzen freue, denke ich, daß wir, bevor wir ins Parlament fahren, noch eine kleine Siegesfeier unter uns veranſtalten können. Sie ſind ja Kenner, Herr Nationalrat, und werden ſehr bald zugeben, einen ſolchen Wein, wie ich ihn Ihnen kredenze, im Leben noch nicht genoſſen zu haben.“
Wie elektriſiert ſprang Herr Krötzl aus dem Bett, zog ſich notdürftig an und ſtreichelte dann bewundernd die eine der ſechs Weinflaſchen nach der anderen, die mit allen Zeichen des ehrwürdigen Alters vor ihm ſtanden. Weißbrot war vorhanden, die Straßburger Paſtete entlockte Herrn Krötzl ein rülpſendes Grunzen, das ſich in einen Jubelhymnus verwandelte, als das erſte Glas des goldgelben Burgunders durch ſeine Kehle rann.
„A ſo a Weinerl! Wann man den immer hätt', dann tät' man an anderer Menſch wer'n! Ka Wunder, wenn die Franzoſen ſo an Schick zum Leben haben, wo 's ſo an Wein bei ihnen gibt!“
Das zweite Glas wurde auf den Sieg des Herrn Krötzl geleert, das dritte auf „Nieder mit den Juden“, das vierte auf „Hoch die ſchöne, judenreine Stadt Wien“. Dann wurde einer Flaſche des blutroten Bordeaux der Hals gebrochen, und als ſie zur Neige ging und Leo die dritte Flaſche entkorkte, trug ihm Krötzl die Bruderſchaft an. Bei der vierten Flaſche machte er den Franzoſen mit den Geheimniſſen ſeines Sexuallebens bekannt und erklärte, daß Frauenzimmer über vierzehn eigentlich alte Weiber ſeien. Die ſechste Flaſche wurde von Leo, ohne daß Krötzl, dem ſich die Welt vor den Augen zu drehen begann, es merkte, zur Hälfte mit Kognak gemiſcht, und nun hieß es — Schluß machen, weil der Herr Nationalrat ſonſt überhaupt nicht mehr die Treppen hinuntergebracht hätte werden können und die richtiggehende Uhr auf zwölf ging, alſo die Gefahr beſtand, daß jeden Augenblick die Parteigenoſſen Krötzls nach ihm fahnden würden. Daß Leo bei ſolcher Zecherei ſelbſt vollſtändig nüchtern geblieben war, verdankte er lediglich dem Umſtand, daß er den Inhalt ſeines Glaſes regelmäßig unter den Tiſch auf den ſchönen Perſerteppich gegoſſen hatte.
Mit ungeheurer Anſtrengung beendigte Leo die Toilettierung des Nationalrates, dann trug er ihn faſt die vielen Treppen hinunter und beförderte ihn mit Hilfe des Chauffeurs in das Innere des geſchloſſenen Automobils. Grinſend hatte der Chauffeur dem Franzoſen, den er oft zu führen pflegte, zugenickt. Leo ſtieg ein, ſetzte ſich neben Krötzl, der ſchon als halbe Weinleiche in der Ecke lag, und in mäßigem Tempo ging es vorwärts.
Am Tage vorher hatte Leo mit dem Chauffeur eine wichtige Unterredung gehabt, die mit der Frage begann:
„Wollen Sie hundert franzöſiſche Francs verdienen?“
Der Chauffeur hatte ungeheure Augen gemacht, war blutrot geworden und erwiderte keuchend:
„Herr, für hundert Francs führ' ich Sie auf den Mond!“
Aber der Franzoſe erwies ſich als weſentlich beſcheidener. Er erklärte, daß es ſich um eine Wette handle und er nichts weiter zu tun habe, als vor dem Haus in der Billrothſtraße zu warten, bis er, Monſieur Dufresne, mit einem vorausſichtlich ſchwergeladenen Herrn einſteigen werde. Daraufhin habe das Auto ſtadtwärts bis zur Volksoper zu fahren, wo er ausſteigen werde. Nunmehr müſſe die Fahrt weiter bis zur großen Irrenanſtalt am Steinhof, die weit außerhalb im Südweſten der Stadt liegt, gehen. Dort müſſe der Chauffeur ſo lange ſtehen bleiben, bis ſein betrunkener Gaſt ſich melde. Und dann folgten weitere ausführliche Inſtruktionen für den intelligenten, luſtigen Chauffeur.
Alles wickelte ſich programmäßig ab. Bevor noch das Auto bei der Volksoper angelangt war, ſchlief Herr Krötzl, nachdem er ſich heftig übergeben hatte, den Schlaf des gerechten Säufers und Leo konnte ungeſtört ausſpringen. Während Leo nach dem Parlament eilte, ſetzte der Chauffeur die faſt halbſtündige Fahrt nach Steinhof fort, wo er auf offener Straße ſeelenruhig ſtehen blieb und eine der guten Zigaretten Leos nach der anderen rauchte. So wurde es ſchließlich nahezu zwei Uhr, als endlich Herr Krötzl mit ſchmerzendem Schädel erwachte. Minuten vergingen, bevor er die Situation begriff und ſich endlich klar darüber war, daß er ſich in total verunreinigtem Zuſtande allein in einem Automobil befand. Schließlich, nach weiteren Minuten, erkannte er ſogar, daß er ſich durchaus nicht vor dem Parlament, ſondern in der unmittelbaren Nähe der Irrenanſtalt am Steinhof aufhielt. Er ſah verwirrt auf ſeine Uhr. Da ſie zurückgerichtet war, wies ſie auf eins. Entſetzt riß Krötzl den Wagenſchlag auf, ſchimpfend und tobend drang er auf den Chauffeur ein, der gleichmütig erklärte, er habe als Fahrtziel Steinhof verſtanden und der andere Herr ſei unterwegs ausgeſtiegen. Mit den Fäuſten fuhr ſich Krötzl in die Haare, er weinte, ſchrie, bekam faſt einen Tobſuchtsanfall, nannte den Chauffeur einen Staatsverbrecher, ſprach von einer furchtbaren Verſchwörung und Rache und flehte ſchließlich den Wagenlenker, der auch grob zu werden begann, an, er möge mit Windeseile nach dem Parlament fahren.
Tauſend Meter etwa fuhr dann auch das Auto, dann blieb es weit und breit von jeder Behauſung entfernt ſtehen, und achſelzuckend erklärte der Chauffeur, daß etwas am Motor in Unordnung ſei und er nicht weiter könne.
Im Galopp rannte der nüchtern gewordene Krötzl die tauſend Meter nach der Irrenanſtalt zurück. Dort benahm er ſich dem Pförtner gegenüber ſo aufgeregt, daß dieſer ihn für einen entſprungenen Inſaſſen hielt und Wärter herbeirief. Es verging eine weitere halbe Stunde, bevor Krötzl zu einem Fernſprecher geführt wurde, er bekam natürlich keine Verbindung mit dem Parlament, da dort alle Nummern beſetzt waren, und als er endlich die Verbindung hatte und der Parteiſekretär zur Stelle gebracht war, ſchrie ihm dieſer in die Ohren, daß er ein beſoffenes Schwein ſei; ein von den Juden gekaufter Gauner und bereits alles vorbei wäre.
„Das Judengeſetz iſt gefallen!“ Mit dieſen Worten läutete er dem unglücklichen Nationalrat in die Ohren, der daraufhin in eine lange, wohltätige Ohnmacht fiel.
Als Leo das Parlamentsgebäude betrat, hatte der neugewählte Präſident eben die ſchon am Tage vorher an Stelle des zurückgetretenen Kabinetts gewählten Miniſter begrüßt und mitgeteilt, daß zwei Dringlichkeitsanträge eingebracht worden ſeien, dahingehend, den Paragraph 11 der Bundesverfaſſung, der den Juden und Judenabkömmlingen den Aufenthalt in Oeſterreich unterſagt, zu ſtreichen.
Ein ſozialdemokratiſcher Nationalrat erhob ſich und ſtellte den Antrag, über die geſtellten Dringlichkeitsanträge ſofort zu verhandeln. Trotz des toſenden Lärmens der Chriſtlichſozialen und Großdeutſchen pflichtete die Mehrheit bei, worauf der Präſident dem Führer der Sozialdemokraten, Doktor Wolters, als erſtem Proredner das Wort erteilte.
Wolters wies darauf hin, daß er und ſeine Parteikollegen ſchon vor faſt drei Jahren gegen das Geſetz geweſen ſeien, das einen Fauſtſchlag gegen die Menſchenrechte, einen Rückfall in das finſtere Mittelalter bedeutete. Damals ſei die Oppoſition niedergeſchrieen, beſchimpft und aus dem Saal gedrängt worden, heute aber habe das verführte und berauſchte Volk ſie in ſolcher Zahl zurückgeführt, daß nunmehr die Macht in ihren und den Händen anderer freiſinniger Männer liege. Wolters entwickelte dann die Ereigniſſe der letzten Jahre, wies den furchtbaren Zuſammenbruch Oeſterreichs nach, führte ſchlagende Ziffern an und ſchloß mit den Worten:
„Das kühne, allzukühne Werk des Mannes, der ſich göttliche Macht anmaßte und nun nicht einmal mehr einen Sitz in dieſem Hauſe bekommen konnte, iſt zuſammengebrochen, und draußen warten hunderttauſend Arbeitsloſe und mit ihnen alle tätigen, zur Verzweiflung getriebenen Kräfte, daß das neue Haus einer neuen Zukunft die Tore öffne und unſeren jüdiſchen Mitbürgern die Möglichkeit gebe, wieder an unſerer Seite nicht gegen uns, ſondern mit uns ihre Intelligenz, ihre Emſigkeit und ſchöpferiſche Arbeitskraft im Intereſſe des ſchwergeprüften und faſt ruinierten Landes zu betätigen.“
Nachdem der Beifallsſturm, an dem ſich auch die Galerie beteiligte, verklungen war, ergriff der zweite Pro-Redner, Herr Habietnik, der von den Geſchäftsleuten der Inneren Stadt ſein Mandat bekommen hatte, das Wort. In launiger, oft durch ſchallende Heiterkeit unterbrochener Rede ſchilderte er das verarmte, verdorfte Wien von heute, gab die Erfahrungen im eigenen Betriebe zum beſten und ſagte:
„Poſemukel iſt eine Großſtadt im Vergleiche zu Wien von heute. Wien iſt ein ungeheures Dorf mit anderthalb Millionen Einwohnern geworden, und wenn wir die Juden nicht wieder hereinlaſſen, ſo werden wir es demnächſt erleben, daß ſtatt vornehmer Geſchäfte in der Kärntnerſtraße Jahrmarktsbuden ſtehen und auf dem Stephansplatz Viehmärkte werden abgehalten werden. Die Wiener ſind in ihrem Tiefinnerſten in Verzweiflung über dieſe Rückentwicklung, die ſie nicht aufhalten können und nicht zuletzt haben die Wiener Frauen und Mädchen, indem ſie die chriſtlichſoziale Partei im Stich ließen, gezeigt, daß ſie wieder ein blühendes, luſtiges Wien voll Luxus, auch wenn es mitunter einen orientaliſchen Anſtrich hat, haben wollen.“
Die weiteren Ausführungen Habietniks gingen in einer ſeltſamen Unruhe verloren, die ſich über das Haus verbreitete. Was war geſchehen? Nun, man hatte endlich auf der rechten Seite des Hauſes entdeckt, daß der Nationalrat Krötzl nicht anweſend war, und eine Kataſtrophenſtimmung bemächtigte ſich der Chriſtlichſozialen und Großdeutſchen. Sie hörten nicht einmal ihren eigenen Kontra-Redner an, die Diener wurden mit Automobilen ausgeſchickt, um Krötzl aus ſeinem Bureau in der Inneren Stadt oder aus der Wohnung in der Billrothſtraße zu holen.
Noch wäre vielleicht die Situation zu retten geweſen, wenn man die Geiſtesgegenwart gehabt hatte, den Kontra-Redner zu veranlaſſen, ſtundenlang bis zum Eintreffen Krötzls zu ſprechen. Aber man hatte total den Kopf verloren, der chriſtlichſoziale Redner, Herr Wurm, kürzte, als er die Unruhe bemerkte und ſeine Genoſſen verſchwinden ſah, ſeine Rede ſogar ab, und ſchon war ein bürgerlicher Antrag auf Schluß der Debatte und Abkürzung der weiteren Redezeiten auf fünf Minuten mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit angenommen.
Vergebens ſchrieen die überrumpelten Antiſemiten Zeter und Mordio, der ſozialiſtiſche Präſident waltete mit eiſerner Energie ſeines Amtes, entzog jedem der wenigen ſchon vorgemerkten Redner nach fünf Minuten das Wort und unter enormer Spannung und allgemeiner Aufregung ſtrömten die Abgeordneten wieder in den Saal, um bei der kommenden namentlichen Abſtimmung anweſend zu ſein.
Herr Krötzl war noch immer nicht da, die Diener konnten nur berichten, daß er in ſeinem Bureau überhaupt nicht geweſen und ſein Wohnhaus in Begleitung eines anderen Herrn vormittags, erſichtlich angeheitert, verlaſſen habe.
Ein Großdeutſcher machte den letzten Rettungsverſuch. Er erbat und erhielt das Wort, um zur Geſchäftsordnung zu ſprechen und ſagte:
„Der Nationalrat Herr Krötzl iſt nicht anweſend und wir haben Anzeichen dafür, daß er mit Gewalt ferne gehalten wird, ja wir haben begründeten Anlaß zur Befürchtung, daß er das Opfer eines Verbrechens geworden iſt. Unter ſolchen Umſtänden kann unmöglich über ein Geſetz abgeſtimmt werden, das über das Schickſal des Landes entſcheiden wird. Wenn auf Seite der neuen Mehrheit dieſes Hauſes auch nur ein Funken Anſtandsgefühl herrſcht, ſo wird ſie mit mir darin übereinſtimmen, daß wir uns zunächſt auf zwei Stunden vertagen. Bis dahin werden wir wohl Klarheit darüber haben, ob unſer hochverehrter Kollege, Herr Nationalrat Krötzl, überhaupt noch unter den Lebenden weilt.“
Totenſtille entſtand nach dieſen Worten, die nicht zurückzuweiſen waren.
Sollte Krötzl wirklich mit Gewalt verhindert worden ſein, an der Sitzung teilzunehmen, ſo mußte man wohl oder übel warten.
In dieſem höchſt kritiſchen Augenblick ſchlich ſich ein Herr mit Knebelbart unbeobachtet in den Sitzungsſaal, winkte Herrn Habietnik zu ſich heran und flüſterte vor Aufregung keuchend mit ihm, worauf ſich Herr Habietnik zum Worte meldete.
„Ich kann dem Hohen Haus auf Ehr' und Gewiſſen verſichern, daß Herr Krötzl nicht ermordet und auf keinerlei gewaltſame Weiſe verhindert wurde, dieſer ſo überaus wichtigen Sitzung beizuwohnen. Herr Krötzl befindet ſich irgendwo in einem Automobil, in dem er einen Kanonenrauſch, von dem ihn der Chauffeur nicht erwecken kann, ausſchläft. Der ſehr ehrenwerte Herr Krötzl, dieſe einzige Wiener Zierde der chriſtlichſozialen Partei, hat nämlich ſchon am frühen Morgen in Geſellſchaft eines luſtigen Kumpanen, ſeines Wohnungsnachbars, eine kleine Siegesfeier begangen und entſchieden mehr getrunken, als er verträgt. Sein Nachbar, der mir dieſe Mitteilung macht und den ich perſönlich als zuverläſſigen Ehrenmann kenne, fuhr dann mit Krötzl in einem Autotaxi hieher, mußte aber vorzeitig ausſteigen, weil er den Geſtank im Wagen nicht aushielt. Herr Krötzl gehört nämlich zu jener alten Garde, die ſich lieber übergibt als ſtirbt. Wo ſich in dieſem Augenblick die ſpringlebendige Leiche des Herrn Krötzl befindet, weiß ich nicht, aber das geht uns auch nichts an und man wird unmöglich verlangen, daß wir uns vertagen, bis Herr Krötzl nüchtern geworden iſt.“
Toſende Heiterkeit erfüllte das Haus und es wurde nunmehr nach der Anordnung des Präſidenten zur Abſtimmung geſchritten. Hundertundſechs Nationalräte ſtimmten für die Eliminierung des Ausnahmsgeſetzes, dreiundfünfzig dagegen — das Geſetz war gefallen! Und die hunderttauſend Menſchen, die ſich auf der Straße vor dem Parlament angeſammelt hatten, riefen diesmal nicht „Heil!“, ſondern „Hurra!“ Sie waren nicht ſo begeiſtert wie vor drei Jahren, ſondern ein wenig beſchämt, hatten aber wieder ihren Humor gefunden und ſchon begannen Witze in der Luft zu ſchwirren.
Leo hatte nur die Abſtimmung abgewartet, dann ſtürzte er aus dem Parlamentsgebäude, warf ſich in ein Autotaxi und fuhr nach der Linken Wienzeile zur „Arbeiter-Zeitung“. Dort ließ er ſich in dringender Angelegenheit beim Chefredakteur melden, mit dem er eine halbſtündige Unterredung ohne Zeugen hatte. Als er ſich verabſchiedete, ſchüttelte ihm der Redakteur kräftig beide Hände und ſagte lachend:
„Sie haben Außerordentliches geleiſtet und ich freue mich mit Ihnen von ganzem Herzen! Ihre Frechheit bewundere ich einfach! Man kann da wirklich nicht umhin, von —“
„Jüdiſcher Frechheit zu ſprechen“, ergänzte Leo vergnügt und eilte die Treppen hinab.
Kaum waren die Extra-Ausgaben der Zeitungen erſchienen, die das Ende der Judenverbannung verkündeten, als auch ſchon eine zweite Extraausgabe der „Arbeiter-Zeitung“ ausgerufen wurde:
Die Krone ſteigt!
Zürich. Auf der hieſigen Börſe wurden die drahtlich und telephoniſch einlangenden Nachrichten von der entſcheidenden Sitzung der Wiener Nationalverſammlung mit fieberhaftem Intereſſe verfolgt. Kaum war das Fallen des Antijudengeſetzes zur Gewißheit geworden, als auch ſchon umfangreiche Kronenankäufe, darunter ſolche von amerikaniſchen und engliſchen Finanzgruppen, erfolgten. Die öſterreichiſche geſtempelte Krone ging ſprunghaft auf das Doppelte, zum Börſenſchluß ſogar auf das Dreifache hinauf.
Um ſechs Uhr abends erſchien eine dritte Extra-Ausgabe, die in ganz Wien Aufſehen und mit Galgenhumor gemiſchte Heiterkeit hervorrief. Die Nachricht lautete:
Ankunft des erſten Juden in Wien.
Wie wir mitteilen können, iſt ſoeben der erſte Jude aus dem Exil nach Wien zurückgekehrt. Es iſt dies der junge, aber bereits weltberühmte Maler und Radierer Leo Strakoſch, der die ganze Zeit von Heimweh erfüllt in Paris verbracht und ſich vorgeſtern von dort an die öſterreichiſch-mähriſche Grenze nach Lundenburg begeben hatte. Als er telephoniſch von der Nichtigkeitserklärung des Ausweiſungsgeſetzes erfuhr, begab er ſich ſofort per Automobil nach ſeiner Vaterſtadt Wien. Er hält ſich derzeit im Hauſe ſeines zukünftigen Schwiegervaters, des Hofrates Spineder, in der Kobenzlgaſſe auf, wo er nach jahrelanger bitterer Trennung die in Treue und Liebe ſeiner harrende Braut umarmt.
Dieſe Extra-Ausgabe bildete einen wohlwollend-boshaften Scherz des Chefredakteurs der „Arbeiter-Zeitung“. Gleich nach ihr erſchien aber eine Extraausgabe der „Weltpreſſe“ mit zwei ſenſationellen Nachrichten. In der einen wurde angekündigt, daß ſich der ehemalige Bundeskanzler Doktor Schwertfeger in Verzweiflung über das Scheitern ſeines ſo groß und ehrlich gedachten Werkes durch einen Revolverſchuß entleibt habe. Anknüpfend daran machte die „Weltpreſſe“ die Mitteilung, daß ſie, dem Willen der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung Wiens folgend, vom heutigen Tage an als das Organ der neuen Partei der tätigen Bürger erſcheinen werde.
Leo war von der Redaktion der „Arbeiter-Zeitung“ aus tatſächlich direkt nach Grinzing gefahren. Lotte, die ebenſo wie ihre Eltern von dem Verlauf der Parlamentsſitzung bereits unterrichtet war, erwartete ihren Bräutigam am offenen Fenſter im Parterregeſchoß. Und als das Auto vorgefahren war und Leo ſie erblickte, erſchien ihm der Weg durch den Hausflur zu weitläufig, mit einem Satz ſchwang er ſich auf das Fenſterbrett und ſchon hielten die beiden jungen Leute einander lachend und weinend umſchlungen. Da Leo aber trotz ſeiner turneriſchen Gewandtheit bei ſeinem abgekürzten Eintrittsverfahren eine Fenſterſcheibe eingeſchlagen hatte, was ein hörbares Klirren und Schmettern verurſachte, kamen der Hofrat und ſeine Gattin aus dem nebengelegenen Wohnzimmer beſtürzt herbei und blieben angeſichts ihrer Tochter, die von einem fremden, knebelbärtigen Herrn unaufhörlich abgeküßt wurde, überraſcht ſtehen. Bis der Hofrat ſo energiſch zu huſten begann, daß Lotte es vernahm und ſich blutrot aus den Armen des Geliebten befreite, um ihn ihren Eltern vorzuſtellen:
„Papa, Mama, dies iſt mein Bräutigam, Henry Dufresne...!“
„Recte Leo Strakoſch“, lautete die Ergänzung und Leo warf ſich auch ſchon dem Hofrat und dann ſeiner zukünftigen Schwiegermutter in die Arme.
Nachdem ſich die erſte Freude und Verwirrung gelegt, tat Herr Spineder das, was ein Hofrat in ſolcher Situation zu tun hatte. Er ſagte:
„Nun, Kinder, erzählt mir einmal alles ordentlich der Reihe nach.“
Frau Spineder aber tat das, was jede andere ordentliche Hausfrau an ihrer Stelle getan hätte. Sie weinte, erklärte vor Aufregung nicht ſtehen und gehen zu können und lief nach der Küche, um für ein ordentliches Souper zu ſorgen.
Die Unterhaltung zwiſchen dem Hofrat, Lotte und Leo ſpielte ſich indeſſen im Badezimmer ab, wo Leo ſich zuerſt mit einer Papierſchere den Knebelbart abſchnitt, um ſich dann zu raſieren und gleichzeitig zu erzählen. Und das war ſehr gut ſo, denn gerade als er raſiert und wieder ein ſchöner, glatter junger Mann war, ereignete ſich ganz Unerwartetes.
Ein Automobil mit Herrn Habietnik, einem ſozialdemokratiſchen Nationalrat und einem bekehrten Gemeinderat fuhr vor und die Herren teilten Leo mit, daß er unbedingt mit ihnen zum Rathauſe fahren müſſe, um ſich der dort verſammelten Menſchenmenge zu zeigen und eine Anſprache des Bürgermeiſters zu erdulden.
Sträuben nützte nichts, Leo mußte mit, aber Lotte, die die Garantie dafür übernahm, daß ſie rechtzeitig zum Abendeſſen zurück ſein würden, fuhr mit ihm.
Bis zum Schottentor verlief die Fahrt ganz glatt, dann ſtellte ſich ein Hindernis ein. Die Menſchenmaſſen ſtanden hier ſo dicht aneinandergedrängt, daß das Auto nicht vorwärts kam. Worauf ſich der Gemeinderat hinausbeugte und in beſter Abſicht, wenn auch mit wenig Zartgefühl den Leuten zuſchrie:
„Laßt's uns durch! Der Herr Leo Strakoſch, der erſte Jud, der wieder in Wien iſt, muß zum Rathaus!“
Dieſe Worte waren das Signal zu einem ſtürmiſchen Jubelſchrei, und das Auto konnte zwar nicht durch, ſondern mußte hier mit Lotte warten, aber Leo ſaß auch ſchon auf den Schultern zweier handfeſter Männer und wurde unter dem Jauchzen und Johlen und Hurra-Geſchrei der Maſſen zum Rathaus getragen.
Das ſchöne Rathaus war wieder illuminiert, ſah wieder wie eine brennende Fackel aus und mühſam nur konnten ſich die Männer mit Leo auf den Schultern Bahn machen. Fanfarenklänge, Trompetentöne, der Bürgermeiſter von Wien, Herr Karl Maria Laberl, betrat den Balkon, ſtreckte ſegnend ſeine Arme aus und hielt eine zündende Anſprache, die mit den Worten begann:
„Mein lieber Jude! — —“
Ende.