Mark Twain: Die Abenteuer Tom Sawyers 6. Sechstes Kapitel. Der Montagmorgen fand Tom höchſt übler Laune. Jeder Montagmorgen fand ihn ſo, denn er eröffnete eine neue Woche voll von Schul-Leiden und -Sorgen. Stets wurde dieſer Tag mit Seufzen begonnen; er hätte in dieſem Augenblick gewünſcht, daß es gar keine die Woche unterbrechenden Feiertage geben möge; denn doppelt ſchwer war es danach, ſich in neue Sklaverei und Fronarbeit zu begeben. Tom lag und dachte nach. Plötzlich kam ihm dann der Wunſch, krank zu ſein, um zu Hauſe bleiben zu können. Das war ein Gedanke. Er überlegte ſich die Sache. Aber er konnte keine Krankheit finden und grübelte und grübelte. Einmal glaubte er Anzeichen von Kolik zu entdecken und fing bereits an, ſich trügeriſchen Hoffnungen hinzugeben. Aber bald wurden dieſe Symptome wieder ſchwächer, um endlich ganz zu verſchwinden. Alſo mußte er weiter denken. Plötzlich entdeckte er etwas. Einer ſeiner Oberzähne war locker. Das war ein Glücksfall. Er war im Begriff, anzufangen zu ſtöhnen („Starter“ pflegte er eine ſolche Improviſation zu nennen), als ihm noch rechtzeitig einfiel, daß ſeine Tante, wenn er damit zutage trat, den Zahn ganz einfach ausziehen würde, und das würde weh tun. So nahm er ſich vor, die Sache mit dem Zahn in Reſerve zu halten und nach etwas anderem zu ſuchen. Während einiger Zeit wollte ihm nichts einfallen, dann aber entſann er ſich, den Doktor von einem gewiſſen „Etwas“ reden gehört zu haben, das zwei oder drei Wochen auf einem Patienten gelaſtet und ihn beinahe einen Finger gekoſtet habe. So zog er ſeine wunde Zehe unter der Bettdecke hervor und unterzog ſie einer genauen Unterſuchung. Jetzt aber wußte er nicht, welches die nötigen Symptome ſeien. Immerhin ſchien ſich hier eine Ausſicht zu bieten, er fing alſo voll Geiſtesgegenwart an, zu ſtöhnen. Aber Sid ſchlief felſenfeſt. Tom ſtöhnte lauter und bildete ſich ein, in ſeiner Zehe wirklich Schmerz zu empfinden. Keine Wirkung auf Sid. Tom fing an, vor Anſtrengung Herzklopfen zu bekommen. Er machte einen letzten Verſuch, ſog ſich voll Luft und ſtieß eine Reihe wundervoller Seufzer heraus. Sid ſchnarchte weiter. Tom wurde ſchlimm. „Sid, Sid,“ ſagte er und ſtieß ihn an. Der Stoß wirkte, und Tom konnte wieder anfangen, zu ſtöhnen. Sid gähnte, ſtreckte ſich, richtete ſich auf einem Ellbogen auf und begann Tom anzuſtarren. Tom ſtöhnte aus Leibeskräften. Sid ſagte: „Tom, du, Tom!“ Keine Antwort. „So hör doch, Tom, Tom! Was haſt du, Tom?“ Und er ſtieß ihn an und ſchaute ihm ängſtlich ins Geſicht. Tom mit kläglicher Stimme: „Tu's nicht, Sid. Stoß mich nicht!“ „Warum — was gibt's, Tom? Ich will Tante rufen.“ „Nein, nein! Es wird ſchon allmählich vorübergehen. Ruf niemand.“ „Aber, ich {muß} es tun! Stöhn' nicht ſo, Tom, es iſt gräßlich! Wie lange dauert das ſchon?“ „Stundenlang! Au, au!! Stör' mich nicht, Sid, du wirſt mich töten!“ „Tom, warum haſt du mich nicht früher geweckt? Nicht, Tom, tu's nicht! Es geht mir durch und durch, das zu hören! — Sag, Tom!?“ „Ich vergebe dir alles, Sid. (Stöhnen.) Alles, was du mir mal getan haſt. Wenn ich tot bin —“ „Tom, du biſt verrückt, glaub' ich! Du {ſollſt} nicht ſterben — nicht, Tom?“ „Ich vergebe {allen}, Sid. (Stöhnen.) Sag's ihnen, Sid. — Und Sid, meine gelbe Türklinke und meine Katze — die mit dem einen Auge — ſollſt du dem neuen Mädchen geben, das geſtern gekommen iſt, und ſag' ihr —“ Aber Sid war in ſeine Kleider gefahren und war fortgelaufen. Tom ſtöhnte jetzt wirklich, ſo lebhaft hatte er ſich alles eingebildet; ſo hatte ſein Stöhnen einen ganz natürlichen Ton bekommen. Sid flog hinunter und ſchrie: „O, Tante Polly, komm, Tom ſtirbt!“ „Stirbt?!“ „Ja doch! Komm doch nur ſchnell!“ „Ach Unſinn! Ich glaub's nicht.“ Trotzdem rannte ſie die Treppe hinauf, Sid und Mary hinter ihr drein. Ihr Geſicht war ganz weiß, und die Lippen bebten. Am Bett angekommen, ſtieß ſie aus: „Tom, Tom! Was iſt das mit dir?“ „Ach, Tante, ich —“ „Was iſt mit dir? Was iſt mit dir, Kind?“ „Ach, Tante, meine wehe Zehe tut ſo ſchrecklich weh!“ Die alte Dame fiel in einen Stuhl, lachte ein wenig, weinte ein wenig, dann beides gleichzeitig. Das erleichterte ſie, und ſie ſagte: „Tom, wie haſt du mich erſchreckt! Aber nun fertig mit dem Unſinn, aufſtehen!“ Das Stöhnen hörte auf, und der Schmerz wich aus der Zehe. Tom kam ſich ein bißchen töricht vor und ſagte kleinlaut: „Tante Polly, es ſchien ſchrecklich und tat ſo weh, daß ich ſogar meinen Zahn darüber vergeſſen hatte.“ „So, deinen Zahn! Was iſt denn mit deinem Zahn?“ „Einer iſt loſe und tut ganz ſchrecklich weh!“ „Na, ſchon gut, ſchon gut! Fang nur nicht wieder an zu ſtöhnen! Mund auf! Ja, der Zahn iſt loſe, aber du wirſt nicht dran ſterben. Mary, gib mir ein Stück Faden und eine glühende Kohle aus dem Ofen!“ „Ach, bitte, bitte, Tante,“ bettelte Tom, „nicht ausziehen, 's tut {gar} nicht mehr weh! Ich will nicht mehr aufſtehen können, wenn's noch weh tut! Bitte, tu's nicht, Tante! Ich will ja gar nicht mehr aus der Schule bleiben!“ „Wirklich nicht? Alſo all der Lärm, weil du aus der Schule bleiben wollteſt und fiſchen gehen, wahrſcheinlich? Tom, Tom, ich habe dich ſo lieb, und du ſcheinſt keinen anderen Wunſch zu haben, als mein altes Herz zu brechen mit deinen Torheiten!“ Inzwiſchen waren die zahnärztlichen Marterwerkzeuge gekommen. Die alte Dame legte das eine Ende der Schnur um Toms Zahn, das andere um den Bettpfoſten. Dann nahm ſie die Kohle und hielt ſie plötzlich dicht vor Toms Geſicht. Im nächſten Augenblick hing der Zahn am Bettpfoſten. Aber jedes Unglück hat ſein Gutes. Als Tom nach dem Frühſtück zur Schule bummelte, war er der Gegenſtand des Neides bei allen Jungen, denn die Lücke in ſeiner Zahnreihe befähigte ihn, auf ganz neue und wunderbare Weiſe auszuſpucken. Bald hatte er ein ganzes Gefolge, das ſeinen Vorführungen mit höchſtem Intereſſe beiwohnte. Und einer mit einem geſchnittenen Finger, der bisher der Mittelpunkt der Verehrung und Bewunderung geweſen war, ſah ſich auf einmal ohne Anhänger und ſeines Glanzes beraubt. Das Herz wurde ihm ſchwer und eine Verachtung heuchelnd, die er nicht fühlte, meinte er, es wäre wohl was Rechtes, ausſpucken zu können wie Tom Sawyer. Aber die anderen riefen ihm zu: „Saure Trauben!“ und er ging davon — ein geſtürzter Held. Kurz darauf begegnete Tom dem jugendlichen Paria des Dorfes, Huckleberry Finn, dem Sohn des Dorf-Trunkenboldes. Huckleberry war rieſig verhaßt und gefürchtet bei allen Müttern des Ortes, denn er war unerzogen, ruchlos, gemein und ſchlecht — und deswegen von allen Kindern ſo bewundert und ſeine Geſellſchaft ſo geſucht und ihr Wunſch ſo heiß, zu ſein wie er. Tom war, wie alle wohlerzogenen Knaben, neidiſch auf Huckleberrys freies, ungehindertes Leben und hatte ſtrengen Befehl, nicht mit ihm zu ſpielen. Natürlich ſpielte er darum erſt recht mit ihm, wo ſich's tun ließ. Huckleberry war ſtets in abgelegte Kleider Erwachſener gekleidet, und dieſe Kleider mußten jahrelang aushalten und flogen in Fetzen um ihn herum. Sein Hut war eine troſtloſe Ruine, mit großen Lücken in dem herunterhängenden Rande. Sein Rock — wenn er einen hatte — baumelte ihm faſt bis auf die Hacken und hatte die hinteren Knöpfe in der Höhe des Knies. Ein Tragband hielt ſeine Hoſen. Der Hoſenboden hing ſackartig hinunter — ein luftleerer Raum, ſozuſagen. Huckleberry kam und ging, wie er mochte. Er ſchlief auf Türſchwellen bei ſchönem Wetter und in Regentonnen bei ſchlechtem; er brauchte weder zur Schule zu gehen, noch zur Kirche, keinen Herrn anzuerkennen und niemand zu gehorchen. Er konnte fiſchen und ſchwimmen, wann und wo er nur wollte, und ſich dabei ſolange aufhalten, wie es ihm beliebte. Im Frühling war er ſtets der erſte, der barfuß lief und der letzte, der im Herbſt ſich wieder in das dumme Leder bequemte. Er brauchte ſich weder zu waſchen, noch reine Kleider anzuziehen. Fluchen konnte er herrlich. Mit einem Worte — was das Leben koſtbar machte — er hatte es. So dachten alle die wohlerzogenen, ſittſamen, reſpektablen Buben in St. Petersburg. Tom rief den romantiſchen Helden ſofort an: „Holla, Huckleberry!“ „Holla, du, wie geht's dir?“ „Was haſt du da?“ „Ne tote Katze.“ „Laß ſehen, Huck. Donnerwetter, wie ſteif ſie iſt! Woher haſt du die?“ „Von 'nem Jungen gekauft.“ „Was haſt du dafür gegeben?“ „Einen blauen Zettel und eine Schweinsblaſe aus dem Schlachthaus.“ „Und woher hatteſt du den blauen Zettel?“ „Vor zwei Wochen von Ben Rogers für einen Stock gekauft.“ „Sag — was machſt du mit der toten Katze?“ „Was? Warzen heilen.“ „So. Wirklich? Ich weiß was Beſſeres.“ „Wird was ſein! Was {iſt's} denn?“ „Na — faules Waſſer!“ „Faules Waſſer! Geb dir keinen Heller für dein faules Waſſer!“ „So, nicht? Haſt du's vielleicht probiert?“ „Ich nicht, Bob Tanner.“ „Wer hat dir das geſagt?“ „Na, {er} hat's Jeff Thatcher geſagt, und Jeff hat's Johnny Baker geſagt, und Johnny dem Jim Hollis, und Jim Hollis dem Ben Rogers, und Ben ſagte's 'nem Neger, und {der} hat's mir geſagt. So, nun weißt du's!“ „Na, weißt du, die haben alle gelogen. Alle, bis auf den Neger, {den} kenn ich nicht. Aber ich hab' nie einen Neger geſehen, der {nicht} gelogen hätte. Aber ſag' doch, wie macht's Bob Tanner denn, Huck?“ „Na, er nimmt ſeine Hand und taucht ſie in einen verfaulten Baumſtumpf, worin faules Waſſer iſt.“ „Am Tage?“ „Natürlich!“ „Mit dem Geſicht nach dem Baum?“ „Ja — das heißt, ich glaube.“ „{Sagte} er was?“ „Ich glaube nicht — aber ich weiß nicht.“ „Na — der will darüber ſprechen, wie man Warzen heilt — ſo ein alter Schafskopf! Da hätt' er auch ſonſt was tun können! Alſo, du mußt mitten in den Wald gehen, wo du weißt, daß ein Baumſtamm mit faulem Waſſer iſt, und gerade um Mitternacht mußt du das Geſicht gegen den Baum wenden und die Hand hineinſtecken, und dann ſagſt du: ‚Iſt das Waſſer faul und dumpf — // Frißt's die Warz' mit Stiel und Stumpf!‘ und dann trittſt du langſam zurück, elf Schritt, mit geſchloſſenen Augen, und dann drehſt du dich dreimal herum und gehſt nach Hauſe, ohne mit jemand zu ſprechen. Denn ſonſt hilft's nichts.“ „Ja, das kann ſein; aber Bob Tanner hat's anders geſagt.“ „Na, weißt du, dann verſteht er's halt nicht. Darum hat er auch am meiſten Warzen von allen im Dorf, und er hätte nicht {eine}, wenn er das mit dem faulen Waſſer wüßte, wie's iſt. Ich hab' auf dieſe Weiſe tauſend Warzen fortgekriegt, Huck. Ich bekomme ſo viel Fröſche in die Hand, daß ich immer eine Maſſe Warzen habe. — Zuweilen mach' ich ſie mit 'ner Bohne ab.“ „Ja, Bohne iſt gut, damit hab' ich's auch ſchon gemacht.“ „So? Wie machſt du's denn?“ „Na, man nimmt die Bohne und ſchneidet ſie durch, und dann ſchneidet man die Warze, bis Blut herauskommt, und dann läßt man das auf die eine Hälfte der Bohne tropfen, und dann nimmt man die und gräbt bei Vollmond am Kreuzweg ein Grab, und da tut man ſie dann hinein. Dann, weißt du, zieht die eine Hälfte der Bohne, wo das Blut darauf iſt, die andere Hälfte an, und ſo hilft das Blut, um die Warze fortzuziehen, ſo lang, bis ſie fort iſt.“ „Ja, Huck, das iſt ganz richtig. Nur, wenn du ſie begräbſt und dazu ſagſt: ‚Bohne fort — komm nicht mehr an dieſen Ort,‘ iſt's noch beſſer. So macht's John Harper, und der iſt ſchon mal bis Coonville und überall geweſen. Aber ſag' — wie heilſt du ſie denn mit 'ner toten Katze?“ „Weißt du, du nimmſt die Katze und gehſt auf den Kirchhof gegen Mitternacht, dahin, wo ein Gottloſer begraben iſt. Wenn's dann Mitternacht iſt, kommt ein Teufel — oder auch zwei oder drei — du kannſt ihn aber nicht ſehen, ſondern hörſt nur ſo was wie den Wind, oder hörſt ihn ſprechen. Und wenn ſie dann den Kerl fortſchleppen, wirfſt du die Katze hinterher und rufſt: ‚Teufel hinterm Leichnam her, // Katze hinterm Teufel her, // Warze hinter der Katze her — // Seh' euch alle drei nicht mehr!’ Das heilt {jede} Warze.“ „Das läßt ſich hören. Haſt du's ſchon mal verſucht, Huck?“ „Nein, aber die alte Hopkins hat's mir erzählt.“ „Ja, ich glaub', 's iſt ſo, denn die ſieht aus wie 'ne Hexe.“ „Das glaub' ich! Weißt du, Tom, ſie iſt eine Hexe! Sie hat meinen Alten behext. Er hat's ſelbſt geſagt. Er begegnete ihr mal ganz allein und ſah, daß ſie ihn behexen wollte, da hob er einen Stein auf, und wenn ſie ſich nicht gebückt hätte, hätt' er ſie geworfen. Na, in der Nacht darauf fiel er von einem Schuppen, auf dem er beſoffen gelegen hatte, und brach den Arm.“ „Das iſt ja ſchrecklich! Woher {wußte} er, daß ſie ihn behext hatte?“ „Gott, das {weiß} mein Alter halt. Er ſagt, wenn die dich recht ſteif anſchaut, behext ſie dich, beſonders wenn ſie dabei murmelt. Dann ſpricht ſie nämlich das Vaterunſer rückwärts.“ „Sag, Huck, wann willſt du das mit der Katze probieren?“ „Dieſe Nacht. Ich denke, ſie werden dieſe Nacht den alten Hoss Williams holen.“ „Aber der iſt doch am Samſtag ſchon beerdigt, Huck. Haben ſie ihn nicht ſchon Samſtag nacht geholt?“ „Ach, Unſinn! Wie konnten ſie's denn {vor} Mitternacht? Und {dann} war's Sonntag. Am Sonntag kommen doch die Teufel nicht herauf!“ „Daran hab' ich nicht gedacht. Dann iſt's richtig. Darf ich mitgehen?“ „Meinetwegen — wenn du dich nicht fürchteſt?“ „Fürchten? Das iſt das wenigſte. Willſt du miauen?“ „Ja, und du mußt auch miauen, wenn du kommen kannſt. Letztes Mal haſt du mich ſo lange warten laſſen, bis der alte Hays einen Stein nach mit warf und ſchrie: ‚Der Teufel hol' die Katz!‘ Da hab' ich ihm einen Stein ins Fenſter geſchmiſſen — aber ſag's nicht weiter!“ „Bewahre! Damals konnte ich nicht miauen, weil mir meine Tante aufpaßte; aber diesmal werde ich beſtimmt miauen. — Du, Huck, was iſt das?“ „Das? Ach, nur 'ne Baumwanze.“ „Woher haſt du die?“ „Aus dem Wald mitgebracht“ „Was willſt du dafür haben?“ „Ich — ich weiß nicht. Ich will ſie gar nicht verkaufen.“ „Na ja, 's iſt ja auch nur 'ne lump'ge Wanze.“ „Oho, nach ſo 'ner Wanze kannſt du lange laufen. Mir gefällt ſie ſchon.“ „'s gibt 'ne Menge ſolcher Wanzen. Wenn ich wollte, könnt ich tauſend ſolche haben.“ „So, warum {willſt} du denn nicht? Weil du ganz gut weißt, daß du's {nicht} kannſt! Dies iſt eine ganz beſondere Wanze. Es iſt die erſte, die ich dies Jahr geſehen hab'.“ „Du, Huck, ich geb' dir meinen Zahn dafür.“ „Laß ſehen.“ Tom holte ein Papier hervor und rollte es ſorgfältig auf. Huckleberry unterſuchte es genau. Dann ſagte er: „Iſt er auch echt?“ Tom machte den Mund auf und zeigte ſeine Zahnlücke. „Gut.“ ſagte Huckleberry, „er iſt echt.“ Tom verſchloß die Wanze in der Schachtel, die vorher das Gefängnis der „Kneifzange“ geweſen war, und die beiden trennten ſich, jeder höchlichſt zufrieden mit ſeinem Tauſch. Als Tom das kleine, einſam gelegene Schulhaus erreicht hatte, ging er ganz luſtig, wie einer, der ſich möglichſt beeilt hat, hinein. Er hängte ſeine Mütze auf und ſetzte ſich mit geſchäftiger Eile auf ſeinen Platz. Der Lehrer, auf einem großen Lehnſtuhl thronend, hatte ein bißchen geſchlafen und fuhr bei Toms Anſtalten in die Höhe. „Thomas Sawyer!“ Tom wußte, daß, wenn ſein Name ganz geſprochen wurde, die Situation kritiſch war. „Herr!“ „Komm vor! Wo biſt du denn wieder mal ſo lange geweſen?“ Tom wollte ſeine Zuflucht zu einer Lüge nehmen, als er zwei lange, helle Zöpfe einen Rücken herabhängen ſah und ſie infolge geheimer Sympathie erkannte. Und daneben, auf der Mädchen-Seite, war der {einzigſte} Freiplatz! Sofort entgegnete er: „Ich mußte mit Huckleberry Finn etwas beſprechen.“ Des Lehrers Pulſe ſtockten, er ſtarrte hilflos um ſich. Alles Geräuſch der Arbeitenden verſtummte. Die Schüler glaubten, dieſer kühne Burſche habe den Verſtand verloren. Der Lehrer fragte nochmals: „Du — du mußteſt {was}?“ „Mit Huckleberry Finn ſprechen.“ Ein Irrtum war nicht mehr denkbar. „Thomas Sawyer, das iſt die ſtaunenerregendſte Antwort, die ich je erhalten habe. {Darauf} kann nur die Rute antworten. Zieh die Jacke aus!“ Des Lehrers Arm arbeitete, bis er völlig ermattet und die Rute kaput war. Dann hieß es: „So, nun geh, und ſetz dich zu den {Mädchen}! Und laß dir das zur Warnung dienen!“ Das Kichern, welches jetzt durch das Schulzimmer ging, ſchien Tom in Verlegenheit zu bringen, in Wahrheit aber war es vielmehr die wundervolle Nähe ſeines unbekannten Idols und die mit Ehrfurcht gemiſchte Freude dieſes Glücksfalls. Er ließ ſich auf dem Ende der Bank nieder, und das Mädchen wandte ſich ab, indem es oſtentativ den Kopf drehte. Kichern, Flüſtern und Tuſcheln erfüllten das Zimmer, aber Tom ſaß mäuschenſtill, die Arme auf das lange Pult vor ſich gelegt, und ſchien eifrig zu lernen. Nach und nach legte ſich die allgemeine Beſchäftigung mit ihm, und das gewöhnliche Schulſummen füllte wieder die Luft. Sofort begann Tom verſtohlen glänzende Blicke auf das Mädchen zu werfen. Dieſes merkte es, ſchnitt ihm 'ne Grimaſſe und drehte für die Zeit einer Minute den Kopf von ihm ab. Als ſie vorſichtig wieder herumſah, lag ein Pfirſich vor ihr. Sie ſtieß ihn weg. Tom ſchob ihn ihr liebenswürdig wieder zu; ſie ſchob ihn nochmals fort, aber weniger heftig. Tom legte ihn geduldig zum dritten Mal auf ihren Platz. „Bitte — nimm, ich hab' noch mehr!“ Das Mädchen lächelte bei dieſer Anrede, machte aber ſonſt kein Zeichen des Einverſtändniſſes. Nun begann der Burſche etwas auf ſeine Tafel zu zeichnen, wobei er ſein Werk ſorgfältig mit der Hand bedeckte. Eine Zeitlang tat das Mädel gleichgültig; aber ihre Neugier begann ſich doch bald bemerkbar zu machen durch begehrliche Blicke. Tom arbeitete weiter, ohne eine Ahnung davon. Das Mädel bewerkſtelligte eine Art Verrenkung, um einen Blick auf Toms Werk werfen zu können, der aber merkte noch immer nichts. Schließlich gab ſie nach und flüſterte zögernd: „Laß mich ſehen!“ Tom enthüllte ſofort eine klägliche Karikatur eines Hauſes mit zwei ſchiefen Giebeln und korkzieherförmigem Rauch über dem Schornſtein. Das Intereſſe der Kleinen an dem Werk wurde immer lebhafter, ſie vergaß alles darüber. Als es beendet war, betrachtete ſie es einen Moment und flüſterte dann: „Zu niedlich! Mach einen Mann!“ Der Künſtler errichtete im Vordergrund einen Mann, einen wahren Maſtbaum. Er hätte mit Leichtigkeit über das Haus wegſteigen können; aber die Kleine war nicht kritiſch. Sie war zufrieden mit dem Monſtrum. „Ein wundervoller Mann — jetzt mach mich, wie ich daher komme!“ Tom malte ſo etwas wie ein Zifferblatt, darüber einen Vollmond auf einem Strohhalm von Hals, und Arme, in deren ausgeſpreizten Fingern ein mächtiger Fächer ſteckte. Das Mädchen ſagte: „Reizend, Tom. Ich wollte, ich könnte auch zeichnen.“ „'s iſt ganz leicht,“ flüſterte Tom, „ich will's dich lehren.“ „Ja, willſt du? Wann?“ „Am Mittag. Gehſt du zum Eſſen nach Haus?“ „Wenn {du} bleibſt, bleib ich auch.“ „Na, gut alſo. — Wie heißt du denn?“ „Becky Thatcher. — Und du? Ach, ich weiß: Thomas Sawyer.“ „So heiß ich, wenn ich was getan hab'. Wenn ich brav bin, nennt man mich Tom. Du wirſt mich Tom nennen, nicht wahr?“ „Ja.“ Nun begann Tom etwas auf die Tafel zu kritzeln, was das Mädchen wieder nicht ſehen ſollte. Aber ſie ließ ſich nicht mehr abweiſen. Sie verlangte, es zu ſehen. „Es iſt nichts,“ ſagte Tom gleichgültig. „Es iſt {doch} was.“ „Nein, es iſt nichts. Du brauchſt's nicht zu ſehen.“ „Doch, ich will's ſehen. Ich {will}. — Laß mich ſehen, bitte!“ „Ich will's dir {ſagen}.“ „Nein, ich will nicht — ich will, ich will, ich will es {ſehen}!“ „Aber du ſagſt es doch niemand? So lang du lebſt?“ „Nein, ich ſag's niemand. Jetzt laß mich ſehen!“ Und ſie legte ihre kleine Hand auf ſeine, und ein kleines Handgemenge folgte. Tom tat, als wehre er ſich im Ernſt, ließ aber doch ſeine Hand langſam abgleiten, bis die Worte ſichtbar wurden: „Ich liebe dich!“ „Garſtiger Junge!“ Dabei gab ſie ihm einen kleinen Klaps, ſchien aber doch nicht allzu böſe zu ſein. Gerade in dieſem ſchönen Moment fühlte Tom einen ſchweren Griff am Ohr und eine unwiderſtehlich emporziehende Gewalt. So wurde er durch das Schulzimmer eskortiert und auf ſeinen eigenen Platz befördert, unter einem Kreuzfeuer von Spott und Gelächter der ganzen Schule. Dann blieb der Lehrer während eines ſchrecklichen Augenblickes neben ihm ſtehen und kehrte dann endlich auf ſeinen Thron zurück, ohne ein Wort geſprochen zu haben. Aber obwohl Toms Ohr ſchmerzte, war ſein Herz doch voll Jubel. Als die Schule wieder beruhigt war, machte Tom einen ſehr ehrenwerten Verſuch, zu arbeiten, aber der Sturm in ihm war zu heftig. Dann ſollte er leſen und brachte ein klägliches Geſtümper zu Tage, in der Geographieſtunde machte er Seen zu Bergen, Berge zu Flüſſen, Flüſſe zu Erdteilen, bis das Chaos wieder hereinbrach. Schließlich beim Buchſtabieren wühlte er ſich durch eine Menge einzelner Worte und Silben, bis er ſich völlig feſtgerannt hatte und die Zinn-Medaille, die er vor Monaten als beſondere Auszeichnung gewonnen hatte, wieder abgeben mußte. 7. Siebentes Kapitel.