Mark Twain: Die Abenteuer Tom Sawyers 20. Zwanzigſtes Kapitel. Tom langte in verdrießlichſter Laune zu Hauſe an, und das erſte Wort, das Tante Polly an ihn richtete, zeigte ihm, daß er ſeinen Kummer an einen ſehr wenig verſprechenden Ort getragen habe. „Tom, ich möchte dir doch gleich die Haut über die Ohren ziehn!“ „Tantchen, was hab' ich denn getan?“ „Na, du haſt genug getan. Da geh' ich altes, einfältiges Weib zur Harper hinüber und denk', ich will ſie an all den Unſinn vom Träumen glauben machen, und ſiehe da — ſie hat von Joe herausbekommen, daß du 'rüber gekommen biſt und haſt alles gehört, was wir in der Nacht geſprochen haben. Tom, ich weiß nicht, was aus 'nem Jungen werden ſoll, der ſich ſo benimmt. 's macht mich ſo traurig, zu denken, daß du mich ruhig zur Harper gehen ließt und ſo 'ne Närrin aus mir machen konnteſt — ohne 'n Wort zu ſagen.“ Das war nun 'ne neue Anſicht von der Sache. Seine Geriſſenheit von heut morgen war Tom als famoſer Witz und äußerſt genial erſchienen. Jetzt erſchien ſie ihm höchſt mittelmäßig und ſchäbig. Er ließ den Kopf hängen und wußte in dieſem Augenblick nicht, was ſagen. Dann ſagte er ſchüchtern: „Tantchen, ich wollt', ich hätt's nicht getan — aber ich dachte nicht dran.“ „Ach, Kind, du denkſt eben nie. Du denkſt an nichts als dein eigenes Pläſier. Daran haſt du gedacht, den weiten Weg von Jackſons Inſel herüber bei Nacht und Nebel zu machen, um über unſern Kummer zu lachen, und haſt dran gedacht, mich mit 'ner Lüge von dem Traum zu betrügen, aber {daran} haſt du nicht gedacht, Mitleid zu haben und uns vor Sorge zu bewahren.“ „Tantchen, ich weiß jetzt, 's war gemein, aber 's war ja nicht meine Abſicht, gemein zu ſein; auf Ehre, das war's nicht! Und dann — ich bin {nicht} rüber gekommen, um über euch zu lachen!“ „Warum alſo biſt du gekommen?“ „'s war, um dir zu ſagen, daß du dir keine Sorge zu machen brauchſt, weil wir davongelaufen waren.“ „Tom, Tom, ich wäre die dankbarſte alte Frau auf der Welt, wenn ich dran glauben könnte, daß du daran gedacht haſt, aber du weißt, du tatſt es {nicht}, und ich weiß es {auch}, Tom.“ „Aber, gewiß — ganz gewiß, 's war ſo, Tantchen — ich will mich nicht mehr rühren können, wenn's nicht ſo iſt!“ „Ach, Tom, lüg' nicht — tu's nicht! Das macht die Sache nur hundertmal ſchlimmer.“ „Ich hab' aber nicht gelogen, Tante. 's iſt die Wahrheit! Ich wollt' dir den Kummer erſparen — das allein war's, was mich nach Hauſe trieb.“ „Die ganze Welt würd' ich drum geben, könnt' ich's glauben! 'nen ganzen Haufen Dummheiten würd' ich dir dafür vergeſſen, Tom. 's war ſchlimm genug, daß du fortliefſt und ſo ſchlecht handelteſt. Aber, 's iſt begreiflich. Aber warum {ſagteſt} du mir's nicht, Tom?“ „Warum? Na — ſieh, Tante, als ihr anfingt, vom Trauergottesdienſt zu ſprechen, kam mir auf einmal die Idee, 'rüber zu kommen und mich in der Kirche zu verſtecken und da bracht' ich's nicht fertig, mir das ſelbſt zu verderben. So ſteckt' ich die Rinde wieder in die Taſche und hielt den Mund.“ „Was für 'ne Rinde?“ „Die Rinde, worauf ich geſchrieben hatte, daß wir Piraten geworden ſeien. Jetzt wollt' ich nur, du wärſt aufgewacht, als ich dich küßte — auf Ehre, ich wollt's!“ Das ſtrenge Geſicht Tante Pollys hellte ſich auf und Zärtlichkeit zitterte in ihrer Stimme: „{Haſt} du mich geküſſt, Tom?“ „Freilich hab' ich's getan.“ „Weißt du's gewiß, daß du's tatſt?“ „Aber ja, ich tat's, Tantchen — ganz gewiß!“ „Warum küßteſt du mich, Tom?“ „Weil ich dich lieb hab', und du im Schlafen ſeufzteſt und ich ſo traurig war.“ Die Worte klangen wahr. Die alte Dame konnte das Zittern in ihrer Stimme nicht verbergen, als ſie ſagte: „Küß mich noch mal, Tom! — Und jetzt fort mit dir zur Schule, und ärgere mich nicht wieder.“ Sobald er fort war, rannte ſie zum Wandſchrank und riß die Ruine der Jacke heraus, in der Tom unter die Piraten gegangen war. Dann hielt ſie wieder inne und ſagte zu ſich: „Nein, ich tu's nicht. Armer Junge — ich denke, du haſt's gelogen — aber 's iſt 'ne geſegnete, geſegnete Lüge, 's iſt was Treuherziges drin. Ich hoffe, der Herr — ich {weiß}, der Herr wird ihm vergeben, denn 's war doch gutherzig von ihm, das zu ſagen. Aber, ich will gar nicht wiſſen, {daß} es 'ne Lüge iſt. Ich {will} nicht nachſehn.“ Sie tat die Jacke wieder fort und ſtand eine Minute unentſchloſſen. Zum zweitenmal ſtreckte ſie die Hand aus nach dem Kleidungsſtück, und zum zweitenmal zog ſie ſie zurück. Und nochmals griff ſie danach, und diesmal ermutigte ſie ſich ſelbſt mit dem Gedanken: „'s iſt 'ne gute Lüge — 's iſt 'ne gute Lüge — ich will mich nicht dadurch kränken laſſen.“ So griff ſie in die Taſche der Jacke. Einen Moment ſpäter las ſie unter Tränen Toms Schriftſtück und ſchluchzte: „Jetzt könnt' ich dem Jungen vergeben, und wenn er 'ne Million dummer Streiche gemacht hätte.“ 21. Einundzwanzigſtes Kapitel.