Wenige Minuten ſpäter befand ſich Tom im ſeichten Waſſer der Sandbank, der Illinois-Küſte zuwatend. Bevor ihm die Flut bis zur Hälfte des Körpers reichte, war er ſchon halb drüben. Die Strömung erlaubte jetzt kein Waten mehr; ſo machte er ſich zuverſichtlich daran, die letzten hundert Meter ſchwimmend zurückzulegen. Er ſchwamm querüber, aber bald wurde er ſtärker ſtromabwärts getrieben, als er gedacht hatte. Indeſſen, er erreichte die Küſte ſchließlich, trieb an ihr entlang und fand eine niedrige Stelle, wo er hinauskletterte. Er legte die Hand auf die Taſche, fand, daß ſeine Baumrinde darin wohlgeborgen ſei und ſchlug ſich dann mit triefenden Kleidern durch den Wald, der Küſte folgend. Kurz vor 10 Uhr kam er auf einen freien Platz dem Dorfe gegenüber und erblickte das Dampfboot im Schatten der Bäume und des hohen Ufers liegend. Alles war totenſtill unter den funkelnden Sternen.
Er kroch unter einen Ufervorſprung, tauchte ins Waſſer, tat ſchwimmend drei oder vier Stöße und kletterte in das Boot, welches, wie es ſich gehörte, am Stern des Dampfbootes befeſtigt war. Er legte ſich unter die Bank und wartete mit Herzklopfen. Plötzlich ſchlug die blecherne Glocke an, und eine Stimme gab Befehl, abzuſtoßen. Ein paar Minuten ſpäter wurde die Spitze des Bootes vom Dampfer ſtark angezogen, und die Reiſe hatte begonnen. Tom fühlte ſich erhoben durch ſeinen Erfolg — er wußte, daß es die letzte Fahrt ſei, die das Boot an dieſem Abend machte.
Nach langen zwölf bis fünfzehn Minuten ſtoppte das Fahrzeug, und Tom glitt über Bord und ſchwamm im Dunkeln dem Ufer zu; er landete fünfzig Meter unterhalb — zur Sicherheit vor etwaigen herumſtreichenden Bekannten. Er lief durch wenig belebte Straßen und befand ſich bald am hinteren Zaun ſeiner Tante. Er kletterte hinüber, näherte ſich behutſam dem Haus und ſpähte durch das Wohnzimmerfenſter, da er dort Licht ſah.
Da ſaßen Tante Polly, Sid, Mary und Joe Harpers Mutter, dicht zuſammengedrängt, eifrig ſchwatzend. Sie ſaßen am Bett, und dieſes ſtand zwiſchen ihnen und der Tür. Tom ſchlich vorſichtig zur Tür und begann vorſichtig den Drücker zu drücken. Dann drückte er kräftiger, und die Tür knarrte. Er ſetzte ſeine Tätigkeit fort und hielt jedesmal inne, ſobald es knarrte, bis er glaubte, auf den Knien durchkriechen zu können. Und ſo ſteckte er den Kopf hinein, und verſuchte es vorſichtig.
„Warum flackert das Licht ſo?“ ſagte Tante Polly. Tom beeilte ſich.
„Ich glaub gar, die Tür iſt offen! Wahrhaftig, ſie iſt offen! Hören denn die Geſpenſtergeſchichten heut gar nicht auf! Geh' hin und mach ſie zu, Sid!“
Im ſelben Moment verſchwand Tom unterm Bett. Er lag und verſchnaufte 'ne Zeitlang, und dann kroch er ſo weit vor, daß er Tante Pollys Füße faſt berühren konnte.
„Aber, wie ich ſagte,“ fing Tante Polly wieder an, „er war nicht ſchlecht, nur — wie ſoll ich ſagen — geriſſen! Nur ein bißchen unbeſonnen, wiſſen Sie, und gedankenlos-flüchtig. Er dachte nie mehr nach als ein Füllen. Bös meint' er's nie, er war der gutherzigſte Junge, der jemals dageweſen iſt,“ und ſie begann zu weinen.
„Grad' ſo war's mit meinem Joe — immer voll von Dummheiten und zu jedem Unfug aufgelegt; und ſo ſelbſtlos und gutmütig, wie nur einer ſein kann — und es ſchmerzt mich ſchrecklich, zu denken, daß ich hingehen konnte und ihm eine runterhauen, weil er die Milch genommen haben ſollte, und nicht daran dachte, daß ich ſie als ſauer ſelbſt fortgegoſſen hatte — und ich ſoll ihn nie wiederſehen in dieſer Welt, nie, nie, nie — armer verlaſſener Junge!“ Mrs. Harper ſchluchzte, als ſolle ihr das Herz brechen.
„Ich hoffe, Tom iſt beſſer dran, wo er iſt,“ ſagte Sid, „aber wenn er in manchen Dingen hier beſſer geweſen wäre —“
„Sid!“ Tom fühlte ordentlich den ſtrengen Blick aus den Augen der alten Dame, obwohl er ſie nicht ſehen konnte. „Nicht ein Wort gegen meinen Tom, nun er fort iſt! Gott wird ſich ſeiner annehmen, ſorg du nur für dich ſelbſt, mein Lieber. O, Mrs. Harper, ich weiß nicht, wie ich's ohne ihn aushalten ſoll — ich weiß nicht, wie ich's ohne ihn aushalten ſoll! Er war ſo anhänglich an mich — obwohl er mein altes Herz zuweilen faſt gebrochen hätte!“
„Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen, der Name des Herrn ſei gelobt! Aber 's iſt ſo hart — o, 's iſt ſo hart! Noch letzten Samſtag ließ Joe einen Schwärmer mir unter der Naſe platzen, und ich ſchlug ihn nieder. Damals wußt' ich freilich nicht, wie bald — o, wenn ich's noch mal erleben könnte, ich würd' ihn dafür umarmen und ſegnen.“
„Ja, ja, ich kann's mir denken, was Sie fühlen, Mrs. Harper, ganz genau weiß ich, was Sie fühlen! 's iſt noch nicht länger als geſtern abend, da nahm Tom die Katze und füllte ſie voll ‚Schmerzenstöter‘, und ich dachte, das Tier würd' das Haus einreißen! Und — Gott verzeih' mir — ich gab ihm eins mit dem Fingerhut auf den Kopf — armer Junge, armer toter Junge! Aber er iſt jetzt raus aus allen Schmerzen. Und die letzten Worte, die ich von ihm gehört habe, waren —“
Aber dieſe Erinnerung war zu viel für die alte Dame, und ſie brach völlig zuſammen. Tom ſchluchzte jetzt ſelbſt — mehr aus Mitleid mit ſich ſelbſt als mit ſonſt jemand. Er konnte auch Mary weinen und von Zeit zu Zeit ein freundliches Wort über ſich ſprechen hören. Er fing an, eine beſſere Meinung als bisher von ſich ſelbſt zu haben. Schließlich war er durch ſeiner Tante Kummer ſo tief ergriffen, daß er drauf und dran war, unter dem Bett hervorzukommen und ſie mit ſeiner Wiederkunft freudig zu überraſchen, und der Theatereffekt war ganz nach ſeinem Geſchmack, aber er widerſtand doch und verhielt ſich ſtill.
Er fuhr fort zu lauſchen und ſetzte ſich aus allerhand Andeutungen zuſammen, daß man erſt angenommen habe, die Burſchen ſeien beim Schwimmen umgekommen; dann wurde das kleine Floß vermißt; dann verkündeten ein paar Jungen, die Ausreißer hätten verſprochen, das Dorf ſolle bald „von ihnen hören“. Die weiſen Häupter hatten dies und das zuſammengereimt und erklärt, die Strolche ſeien auf dieſem Floß davongefahren und würden bald in der nächſten Stadt unterwärts anlangen. Aber gegen Mittag war das Floß gefunden worden, ungefähr fünf oder ſechs Meilen unterhalb des Dorfes an der Miſſouriküſte, und da hatte man die Hoffnung aufgegeben; ſie mußten ertrunken ſein, denn ſonſt hätte der Hunger ſie bei Einbruch der Nacht nach Haus getrieben — wenn nicht ſchon früher. Man glaubte, die Suche nach den Leichen ſei darum erfolglos geblieben, weil ſich das Unglück in der Mitte des Stromes zugetragen habe, denn die Jungen als gute Schwimmer würden ſich ſonſt ans Ufer gerettet haben. Das war Mittwoch abend. Wenn ſie bis Samſtag noch nicht gefunden ſein würden, müßte man alle Hoffnung aufgeben, und der Trauergottesdienſt ſollte dann am Sonntag morgen ſtattfinden. Tom ſchauderte.
Mrs. Harper wünſchte mit weinerlicher Stimme „Gute Nacht“ und rüſtete ſich zum Abmarſch. Dann, mit plötzlichem Impuls, umarmten ſich die beiden verwaiſten Frauen, weinten ſich nach Herzensluſt aus und trennten ſich. Tante Polly war doppelt zärtlich, indem ſie Sid und Mary „Gute Nacht“ ſagte. Sid ſchluchzte ein bißchen, Mary aber weinte aus Herzensgrund.
Tante Polly kniete nieder und betete für Tom ſo eindringlich, ſo leidenſchaftlich und mit ſo grenzenloſer Liebe in ihren Worten und ihrer alten, zitternden Stimme, daß er wieder, lange bevor ſie zu Ende war, in Tränen zerfloß.
Er mußte noch lange, nachdem ſie zu Bett gegangen war, warten, denn von Zeit zu Zeit ſtieß ſie immer noch mal einen herzbrechenden Seufzer aus, warf ſich unruhig hin und her und konnte nicht zur Ruhe gelangen. Aber ſchließlich war ſie doch ſtill und ſeufzte nur noch bisweilen im Schlaf.
Nun kroch der Junge hervor, richtete ſich am Bett in die Höhe, beſchattete das Licht mit der Hand und ſtand lange, ſie betrachtend. Sein Herz war voll Mitleid mit ihr. Er zog ſeine Sykomorenrinde hervor und legte ſie neben den Leuchter. Aber es fiel ihm etwas ein, und er überlegte. Auf ſeinem Geſicht lag der glückliche Widerſchein ſeiner Gedanken. Schnell ſteckte er die Rinde wieder in die Taſche, dann beugte er ſich herunter, küßte die welken Lippen und machte ſich verſtohlen davon, die Tür hinter ſich ſchließend.
Er nahm ſeinen Weg wieder zum Dampfboot, fand niemand dort vor und begab ſich kühn an Bord des Schiffes, welches, wie er wußte, verlaſſen war — bis auf einen Wächter, der ſich darin einzuſchließen und zu ſchlafen pflegte wie ein ſteinernes Bild. Er zog das kleine Boot heran, ſprang hinein und ſchwamm bald wieder draußen auf dem Strom. Als er eine Meile vom Dorfe entfernt war, ſteuerte er querüber und legte ſich tüchtig ins Zeug. Er erreichte genau die Landungsſtelle an der anderen Seite — eine Kleinigkeit für ihn. Große Luſt hatte er, das Boot zu kapern, denn er meinte, man müſſe es doch als „Schiff“ betrachten und es ſei ſomit legitime Beute für einen Seeräuber. Aber dann ſagte er ſich, daß genaue Nachforſchungen danach angeſtellt werden würden, und das hätte mit einer Entdeckung enden können. So ſprang er ans Ufer und drang in den Wald ein. Er ſetzte ſich nieder und hielt lange Raſt, ſich quälend mit Anſtrengungen, wach zu bleiben, und dann ſtrebte er wieder ſeiner „Heimat“ zu. Die Nacht war faſt zu Ende. Es war heller Morgen, bis er ſich der Inſel gegenüber befand. Er ruhte wieder, bis die Sonne ganz herauf war und den Fluß mit ihrem Glanz übergoß, und dann ſprang er ins Waſſer. Kurz darauf ſtand er triefend am Eingang des Lagers und hörte Joe ſagen: „Nein, Tom iſt treu, Huck, und er wird wiederkommen. Er wird nicht durchbrennen. Er weiß, daß es 'ne Schande für 'nen Seeräuber wär, und Tom iſt zu ſtolz für ſo was. Er iſt auf irgend was aus. Möcht' aber wohl wiſſen, was?“
„Na — die Sachen da gehören doch jetzt uns, nicht?“
„Beinahe, aber nicht ganz, Huck. Das Geſchreibſel ſagt, ſie ſind unſer Eigentum, wenn er nicht bis zum Frühſtück wieder da iſt.“
„Was er iſt,“ rief Tom in theatraliſcher Poſe, großartig ins Lager tretend.
Ein prächtiges Frühſtück, aus Schinken und Fiſch beſtehend, war bald zur Stelle, und während ſich die Jungen darüber hermachten, berichtete Tom (mit vielen Ausſchmückungen) ſeine Abenteuer. Sie waren eine edle, prahleriſche Geſellſchaft von Helden, als ſeine Erzählung beendet war. Dann machte Tom ſich davon an einen ſchattigen Ort, um bis Mittag zu ſchlafen, die anderen Piraten brachen auf zu Fiſchzug und Entdeckungsreiſen.