Voltaire: Kandide oder der Optimismus 30. Dreiſſigſtes Kapitel. // Schlusſcene. So rechte Luſt hatte freilich {Kandide} eben nicht, {Kunegunden} zu heuraten, indes hatte er ſein Wort einmal gegeben, {Kunegunde} drang ſo heftig in ihn, und der auſſerordentliche Baurenſtolz des {Barons} verdros ihn ſo ſehr, daß er den feſten Entſchlus faſſte, die Heurat zu vollziehen. Vorher pflag er mit {Pangloſen}, {Martinen} und {Kakambo’n} geheimen Rat. {Panglos} verfertigte einen gar ſtattlichen Aufſaz, worin er bewies, daß dem {Baron} keine Gerechtſame über ſeine Schweſter zuſtünden, und daß ſie nach allen Reichsgeſezen ſich {Kandiden} konnte an die linke Hand trauen laſſen. {Martin} ſtimmte dahin, daß der {Baron} ſollte in’s Meer geworfen werden. {Kakambo} that den Ausſpruch: Man müſſe ihn wiederum dem Levantifahrer überantworten, eine Zeitlang an die Ruderbank ſchmieden, und dann mit dem erſten, beſten Schiffe nach Rom an den Pater General ſchikken. Dieſem Gutachten ward einſtimmig beigetreten; die {Alte} billigte es auch, wie ſie’s erfuhr; vor {Kunegunden} ward’s verheimlicht. Mit etlichen Dukaten war das Projekt ausgeführt, und man hatte die Freude, einen Jeſuiten zu überliſten, und einen ahnenſtolzen Gauch zu beſtrafen. Verheuratet mit ſeiner Trauten, umgeben vom Philoſoph {Panglos}, und Philoſophen {Martin}, vom klugen {Kakambo}, und der weiſen {Alten}, und überdies im Beſiz ſo vieler Diamanten, die er aus dem Vaterlande der alten Inkas mitgebracht, hätte man glauben ſollen, daß {Kandide} das wonnigſte Leben von der Welt führen müſſte. Gewaltig geirrt! Die Juden hatten ihn ſo vielfältig geprellt, daß er weiter nichts übrig behielt, als ſein Vorwerkchen; ſeine Frau ward täglich häslicher, und zugleich zänkiſch und unleidlich; die {Alte} kränkelte in Einem fort, und war noch üblerer Laune, wie {Kunegunde}; {Kakambo}, der im Garten arbeitete, und die Hülſenfrüchte nach Konſtantinopel herein zum Verkauf trug, arbeitete und plakte ſich ganz ab, und vermaledeite ſein Schikſal. {Panglos} war voll des bitterſten Unmuts, daß er nicht als [Profeſſor Metaphyſices ac Poëſeos] auf irgend einer Univerſität ſeines lieben Vaterlands glänzen konnte. {Martin} nahm alles, was ihn traf, gelaſſen dahin, in der feſten Überzeugung, daß allenthalben Elend und Unglük herrſche. {Kandide}, {Martin} und {Panglos} diſputirten manchmal über Säze aus der Metaphyſik und Moralphiloſophie. Unter ihren Fenſtern paſſirten ſehr oft Schiffe vorbei, die mit Effendis, Baſſas, Kadis beladen waren, welche nach Lemnos, Mytilene und Arzerum in’s Elend geſchikt wurden. Es kamen friſche Baſſas, friſche Kadis, friſche Effendis wieder, welche an den Plaz der Vertriebnen traten, und nicht lange darauf wieder daraus vertrieben wurden. Es ſchiften gar wohleinballirte Köpfe vorbei, die der hohen Pforte überreicht werden ſollten. Dieſe abwechſelnde Auftritte gaben immer neuen Stof zu neuen lebhaften Abhandlungen; wenn ſie ſich aber ausdiſputirt hatten; herrſchte eine ſo unausſtehliche Langeweile unter ihnen, daß die Alte ſich eines Tages unterſtand, folgende Frage aufzuwerfen: Ich möchte wohl wiſſen, was ſchlimmer iſt, hundertmal von Moriſchen Seeräubern geſchändet zu werden, ſein halbes Hinterkaſtell ſich abnehmen zu laſſen, bei den Bulgaren Spiesruten zu laufen, bei einem Autodafé geſtäupt und aufgehängt zu werden, ſich ſeziren zu laſſen, als Sklav auf den Galeeren zu rudern, kurz all’ das Elend auszuſtehn, das wir insgeſamt erlitten haben, oder ſein ganzes Leben, die Händ’ im Schooſſe, ſo hier zuzubringen. Eine wichtige Frage! ſagte {Kandide}. Dieſe Frage brachte neue Betrachtungen auf die Bahn, und {Martin} zumahl nahm Anlas hieraus zu folgern, der Menſch ſei dazu geboren, ſein Leben entweder in beſtändigen, krampfartigen Regen und Bewegen zuzubringen, oder in der unthätigſten, ſchlaraffenhafteſten Langenweile. {Kandide} war ganz andrer Meinung, die er aber nicht äuſſerte. {Panglos} räumte zwar ein, er habe ſtets das gräslichſte Elend erduldet; verfocht aber demungeachtet ſein einmal angenommnes Syſtem: Dieſe Welt iſt doch die beſte, auf’s eifrigſte, ohn’ im geringſten daran zu glauben. Jetzt eräugnete ſich ein Vorfall, der {Martinen} völlig in ſeinen verdammlichen Grundſäzen befeſtigte, {Kandiden} ſchwankender machte, denn je, und {Pangloſen} nicht wenig in die Klemme trieb. Eines Tages kam nämlich {Gertrud} mit dem Bruder {Viola} in ihren Hof gewandert. Sie waren beide im äuſſerſten Elende. Die dreitauſend Piaſter hatten ſie über Hals über Kopf durch die Gurgel gejagt, ſich darauf getrennt, wieder ausgeſöhnt, von neuem überworfen, im Gefängnis geſeſſen, ſich daraus geflüchtet, und endlich war Bruder {Viola} Türke geworden. Wo ſie hingekommen waren, da hatte {Gertrud} ihr Handwerk fortgeſezt, ohne damit was vor ſich bringen zu können. Ich ſah’s wohl voraus, daß Ihre Geſchenke bald zerrinnen, und daß die Leute unglüklicher werden würden, denn zuvor, ſagte {Martin}. Sie und Ihr {Kakambo} hatten Piaſter zu Scheffeln, und waren deshalb doch nicht glüklicher, wie Bruder {Viola} und {Gertrude}. Haha! ſagte {Panglos} zu {Gertruden}. So führt Dich doch der Himmel wieder zu uns, herziges Kind. Weiſſt Du wohl, daß Du mich um die halbe Naſe, um Ein Auge und ein Ohr gebracht haſt … O wie du ausſiehſt! … Doch das iſt alles der Welt Lauf. Über dieſen Vorfall fingen ſie ſtärker an zu philoſophiren, denn je. Sie hatten in der Nachbarſchaft einen weit berühmten Derviſch, der für den beſten Philoſophen in der ganzen Türkei gehalten wurde; zu dem gingen ſie und fragten ihn um Rat. {Panglos} war Sprecher. Wir kommen zu Dir Meiſter, um von Dir zu erfahren, wozu das ſonderbare Geſchöpf, Menſch genant, iſt geſchaffen worden? Was kümmert Dich das? ſagte der {Derviſch}. Iſt das {Deine} Sache? Allein wohlehrwürdiger Vater, hub {Kandide} an, es gibt gräsliches Elend auf Erden. Ob Elend oder Glük, gleichviel! antwortete der {Derviſch}. Wenn Ihro Kaiſerliche Majeſtät ein Schif nach Ägypten ſendet, kümmert Sie ſich wohl darum, ob’s den Ratten und Mäuſen im Schifsboden behäglich ergeht, oder nicht? Was ſoll man alſo machen? fragte {Panglos}. Schweigen! erwiederte der {Derviſch}. „Ich machte mir Hofnung, über Wirkungen und Urſachen, über die {beſte} der möglichſten Welten, über den Urſprung des Übels, über die Beſchaffenheit der Seele und der vorherbeſtimmten Harmonie mich mit Dir zu unterreden.“ Bei dieſer Rede vom {Panglos} warf der {Derviſch} ihnen die Thüre vor der Naſe zu. Während dieſer Unterredung erſcholl das Gerücht, daß zu Konſtantinopel zwei Weſſire des Divans und der Mufti ſein erdroſſelt, und viele ihrer Freunde angepfählt worden. Dieſer tragiſche Vorfall gab einige Stunden lang nicht wenig Gemunkel. Wie {Kandide}, {Panglos} und {Martin} wieder nach ihrem Vorwerkchen zurükkehrten, fanden ſie einen wakkern Greis in einer Pomeranzlaube vor ſeiner Thür ſizen, um der Kühle zu genieſſen. {Panglos}, der ein eben ſo neugieriges als diſputirſüchtiges Geſchöpf war, fragte ihn, wie der ebenerdroſſelte Mufti hieſſe. Das weis ich nicht, antwortete der ehrliche {Alte}, ich hab’ mein Lebstage nicht gewuſſt, wie irgendein Mufti oder ein Weſſir heiſſt; habe kein Sterbenswort von der ganzen Hiſtorie gehört. Ich denke, all’ die politiſchen Kannengieſſer und Pfannenflikker mit dem Maul und in der That reiten gemeiniglich am Ende gar übel an, und ’s kann ihnen gar nicht ſchaden. Ich meines Parts erkundige mich niemals, was in Konſtantinopel vorgeht, ſchikke meine ſelbſtgepflanzten Gartenfrüchte h’nein und damit holla! Wie er dies geſagt hatte, führt’ er die Fremden in ſein Haus; ſeine beiden Töchter und beiden Söhne ſezten ihnen vielerlei ſelbſtverfertigte Sorbets vor. Sie beſtanden aus Kaimak, dem man durch eingemachte Cedratſchaale, Pomeranzen, Zitronen, Limonien, Ananas, Piſtazien einen herben Geſchmak gegeben hatte; aus Mokkaſchen Kaffee, unvermiſcht mit dem elenden Bataviſchen und Inſulaniſchen. Hierauf beräucherten die beiden Töchter des guten Muſelmans {Kandiden}, {Pangloſen} und {Martinen} die Bärte. Sie müſſen ein recht groſſes und prächtiges Landgut haben, ſagte {Kandide} zum {Türken}. Weiter nichts als zwanzig Hufen, antwortete der {Alte}. Die bau’ ich mit meinen Kindern an. Arbeit verſcheucht die drei ſchlimmſten Feinde von uns, die Langeweile, das Laſter und den Mangel. {Kandide} behielt dieſe Rede des {Türken}, und bewegte ſie in ſeinem Herzen. Ha, ſagt’ er zum {Panglos} und {Martin}, dieſer gute Greis ſcheint ſich ein Loos verſchaft zu haben, das dem Looſe der ſechs Könige, mit denen wir die Ehre gehabt zu ſpeiſen, weit vorzuziehen iſt. Nichts gefährlicher in der Welt als Gröſſe! ſagte {Panglos}. Hierin ſtimmen alle Philoſophen überein. Denn ſchlüslich ward {Eglon}, der König der Moabiter, durch {Ehud} gemeuchelmordet; {Abſalon} an den Haaren aufgehängt, und mit drei Spieſſen durchſtochen; König {Nadab}, der Sohn {Jerobeam}, ward durch {Baeſa} getödtet; König {Ella} durch {Simri}; und König {Joram} und {Ahasja} durch {Jehu}; Königin {Athalja} durch den Prieſter {Jojada}; die Könige {Jojakim}, {Jojachin} und {Zedekia} wurden Sklaven. Ihr wiſſt das elende Ende von {Kröſus}, {Aſtyages}, {Darius}, {Dionys} von {Syrakus}, {Pyrrhus}, {Perſeus}, {Hannibal}, {Jugurtha}, {Arioviſt}, {Cäſar}, {Pompejus}, {Nero}, {Otto}, {Vitellius}, {Domitian}, {Richard} dem {Zweiten} von England, {Eduard} dem {Zweiten}, {Heinrich} dem {Sechſten}, den drei {Richards}, {Marie Stuart}, {Karl} dem {Erſten}, den drei {Heinrichen} von Frankreich, vom Kaiſer {Heinrich} dem {Vierten}? Ihr wiſſt — — Ich weis auch, ſagte {Kandide}, daß unſer Garten mus angebaut werden. Da haben Sie Recht, ſagte {Panglos}; denn wie Gott den Menſchen in den Garten Eden ſezte, ſezte er ihn deshalb herein, [ut operaretur eum], daß er ihn bebaute. Der beſte Beweis, daß der Menſch nicht zur Ruhe geſchaffen iſt. Laſſt uns arbeiten, ohne alle Vernünfteleien, ſagte {Martin}. Das iſt das einzige Mittel, ſich das Leben erträglich zu machen. Dies lobenswürdige Vorhaben unterſtüzte die kleine Geſellſchaft thätig. Das kleine Gütchen trug viel ein. {Kunegunde} war grundhäslich, wuſſte aber ganz trefliche Paſteten zu bakken; {Trudchen} ſtikte und nähte; die {Alte} beſorgte die Wäſche. Sogar Bruder {Viola} blieb kein unnüzes Rad am Wagen; er wurde ein ſehr guter Tiſcher, ja ſogar ein rechtſchafner Mann. Und {Panglos} ſagte manchmal zu {Kandide}: Jegliche Begebenheit im menſchlichen Leben gehört in die Kette der Dinge. Denn wären Sie nicht Barones {Kunegundens} halber mit derben Fustritten aus dem ſchönſten aller Schlöſſer gejagt, von der Inquiſition nicht eingezogen worden, hätten Sie nicht Amerika zu Fuſſe durchwandert, dem Herrn {Baron} nicht einen tüchtigen Stos mit dem Degen verſezt, nicht all’ ihre Hämmel aus dem guten Lande Eldorado eingebüſſt, ſo würden Sie jetzt nicht hier eingemachten Cedrat und Piſtazien eſſen. Gut geſagt! recht gut! ſagte {Kandide}, allein wir müſſen unſern Garten bearbeiten.