Voltaire: Kandide oder der Optimismus 21. Ein und zwanzigſtes Kapitel. // {Kandide} und {Martin} nähern ſich den Franzöſiſchen Küſten. Wovon ſie ſich unterhalten. Endlich näherten ſie ſich den Franzöſiſchen Küſten. Sind Sie jemals in Frankreich geweſen, Herr {Martin}, fragte {Kandide}. {Martin}. Wohl bin ich’s; ich habe manche ſeiner Provinzen durchſtrichen, fand in der einen faſt lauter Haaſenfüſſe, in dieſer und jener und jener und dieſer lauter erzabgefeimte Schlauköpfe, in jener und der, den gröſſten Haufen lammfrom und ſchaafdumm, in noch andern pure pure ſchöne Geiſter. Das Hauptſtekkenpferd all’ dieſer Leute aber war Liebe, welches ſie mit zwei andern abwechſelten, Afterreden und Schnikſchnak genannt. {Kandide}. Haben Sie Paris geſehn, lieber {Martin}? {Martin}. Ich hab’s. Da finden Sie all’ den Schlag von Leuten in Einen Topf geworfen; es iſt ein wahres Chaos. Ein gedrangvoller, lermreicher Ort, worin Alt und Jung „nach dem Ringe des Vergnügens rennt,“ und, meines Bemerkens, ihn niemand abſtöſſt. Lange hab’ ich mich dort nicht aufgehalten; kaum war ich angekommen, ſo hatten die Spizbuben auf den St. Germainsmarkte mir all’ mein Bischen Baarſchaft weggeſtohlen. Man hielt mich ſelbſt für einen Spizbuben; acht Tage lang muſſt’ ich im Gefängniſſe ſizen, hernach ward ich Korrektor, um mir nur ſo viel zu verdienen, daß ich [per pedes Apostolorum] wieder nach Holland konnte. Ich habe das ſchmierende, das kabalebrütende und das fanatiſche Geſindel kennen gelernt. Es ſoll aber noch recht brave artige Leute in der Stadt geben; ich will’s glauben. {Kandide}. Ich meines Theils finde gar keinen Trieb, Frankreich zu ſehn; Sie können leicht erachten, wenn man einen Monat lang in Eldorado geweſen, daß man weiter nichts zu ſehn wünſcht als Barones {Kunegunden}. Ich will ſie zu Venedig erwarten; wir wollen über Frankreich nach Italien gehn. Sie begleiten mich doch? {Martin}. Verſteht ſich. Zwar ſagt man, wäre Venedig nur für die [Nobili di Venezia], indes nimmt man auch Ausländer recht gut dort auf, wenn ſie viel aufgehn laſſen; ich kann’s nun nicht, aber Sie können’s, und darum zieh’ ich mit, wohin Sie wollen. {Kandide}. Sagen Sie mir doch Freund, glauben Sie was der dikke Quartante da von unſerm Schifskapitän behauptet, daß die Erde im Anbeginn ein Meer geweſen iſt? {Martin}. Platterdings nicht! ſo wenig als all’ die Alfanzereien, womit das Heer der Skribler ſeit einiger Zeit zu Markte gezogen kömmt. {Kandide}. Zu was Ende iſt denn die Welt erſchaffen worden? {Martin}. Damit wir alle ſollen raſend werden. {Kandide}. Wundern Sie ſich nicht über die Liebe der beiden Dirnen gegen die zwei Paviane, wovon ich Ihnen erzählt? {Martin}. Nicht im geringſten. Ich ſehe gar nicht, wo das Sonderbare dieſer Leidenſchaft ſitzt. Ich habe ſo viel Auſſerordentliches geſehn, daß mir jetzt gar nichts mehr auſſerordentlich vorkömmt. {Kandide}. Glauben Sie wohl, daß die Menſchen von jeher ſich niedergemetzelt haben, wie heut zu Tage? Daß ſie ſtets gelogen und betrogen haben, ſtets treuloſe, undankbare, räubriſche, flatterhafte, ſchurkiſche, neidiſche, praſſeriſche, trunkenbolde, geizige, ehrſüchtige, blutlechzende, verläumdriſche, hurende, ſchwärmende, und alberne Geſchöpfe geweſen ſind? {Martin}. Glauben Sie, daß die Sperber von jeher Tauben gefreſſen haben, wenn ſie ihrer habhaft werden können? {Kandide}. Wohl glaub' ich’s! {Martin}. Nun dann, wenn das immer der Karakter der Sperber geweſen iſt, warum ſollen grade die Menſchen ihren Karakter geändert haben? {Kandide}. Wohl diſtinguirt Sperber und Menſchen! denn Leztere haben ihren freien Willen, können … Unter dieſen Geſprächen waren ſie in Bourdeaux angekommen. 22. Zwei und zwanzigſtes Kapitel. // Was {Kandiden} und {Martinen} in Frankreich begegnet.