Voltaire: Kandide oder der Optimismus 20. Zwanzigſtes Kapitel. // Seeabenteuer {Kandidens} und {Martin’s}. Der alte Gelehrte, der {Martin} hies, ſchifte ſich alſo mit {Kandiden} nach {Bordeaux} ein. Beide hatten viel geſehn, viel erlitten, und wäre das Schif von Surinam aus über das Vorgebürge der guten Hofnung nach Japan gegangen, ſo würd’ es ihnen doch nicht an Stof gefehlt haben, ſich die ganze Reiſe hindurch mit dem phyſiſchen und moraliſchen Übel zu unterhalten. Indes hatte {Kandide} einen groſſen Vortheil über {Martin}, er hofte noch immer Barones {Gundchen} wieder zu ſehn, und {Martin} hatte gar keine Hofnung mehr; überdies beſas jener Gold und Diamanten, und ob er gleich hundert dikke rote Hämmel mit den gröſſten Schäzen der Erde beladen, verloren hatte, ob ihm gleich des Holländiſchen Schifspatrons Prellerei noch in’s Herz ſchnitt, ſo ſchwankt’ er dennoch, wenn er an den Inhalt ſeiner Taſchen dachte, oder von ſeinem {Gundchen} ſprach und zumahl, wenn er die Gläſer klingen hörte, nach {Pangloſens} Syſtem hin. Aber was denken Sie von alle dem, lieber {Martin}? ſagte er. Was halten Sie vom phyſiſchen und moraliſchen Übel? {Martin}. Lieber {Kandide}, die Paſtoren dort klagten mich als Sozinianer an, aber die rechte Wahrheit zu ſagen, ich bin ein Manichäer. {Kandide}. Haben Sie mich nicht zum Beſten. Es giebt ja keine Manichäer mehr in der Welt. {Martin}. So bin ich der Einzige, ich kann nun einmal nicht anders denken. {Kandide}. So mus der Teufel in Sie gefahren ſein Herr. {Martin}. Leicht möglich! ſo wie der hienieden allenthalben herumſpuhkt und ſein Weſen hat, kann er’s auch in meinem Leibe. Ich mus Ihnen geſtehn, wenn ich ſo einen Blik auf die Erdkugel, oder vielmehr auf dies winzige Erdkügelchen werfe, daß mir der Gedanke nicht aus dem Kopf will: Gott habe einem böſen Geiſte die Macht eingeräumt, eignes Beliebens damit zu ſchalten und zu gebaren; Eldorado nem’ ich hiervon aus. Ich habe keine Stadt geſehn, die nicht nach dem Untergang ihrer Nachbarin dürſtete, keine Familie, die nicht nach der Ausrottung einer andern lechzte; ich ſeh’ allenthalben, wie die Schwachen die Mächtigen verabſcheuen, vor welchen ſie kriechen müſſen, und wie dieſe jenen als einer Heerde begegnen, der Woll’ und Fleiſch feil iſt; ſehe wie eine Million eingeregimenteter Schnapphähne Europa von einem Winkel zum andern durchſtrömt, mordet und ſtraſſenraubt, und das alles mit der ſchärfſten Mannszucht, blos um ein Stükchen Brod zu verdienen, das er auf keine ehrenvollere Art zu verdienen weis. Und in Städten, die im völligſten Genus des Friedens zu ſein ſcheinen, worin Künſt’ und Wiſſenſchaften blühen, martert, reibt die Einwohner Eiferſucht, Gram und Kummer weit mehr auf, als alle Drangſale und Schrekniſſe der Hungersnot und Verzweiflung in einer belagerten Stadt es thun können. Herzenskummer iſt noch härter, marternder, als das allgemeine Elend. Mit Einem Wort, ich habe ſo viel geſehn, ſo viel erlitten, daß ich Manichäer geworden bin. {Kandide}. Doch giebt’s noch viel Gutes in der Welt. {Martin}. Kann ſein, bis dato iſt mir’s aber noch nicht zu Geſicht gekommen. In dem Gekrette, das ſich hierüber anſpann, waren ſie noch nicht weit, als ſie einige Kanonenſchüſſe hörten. Jeden Augenblik wurden die Schüſſe heftiger. Sie namen ihre Sehröhre, und wurden in einer Entfernung von ungefähr drei Meilen zwei Schiffe gewahr, die auf einander losfeuerten. Der Wind führte ſie alle beide dem Franzöſiſchen Schiffe ſo nahe, daß man das Treffen ganz gemächlich anſehn konnte. Endlich gab das eine Schif dem andern ſo die volle Lage, daß es gleich unterſank. {Kandide} und {Martin} erblikten auf dem Verdek des untergehenden Schifs hundert Menſchen, die unter erbärmlichem Zetergeſchrei die Hände gen Himmel emporhuben, und im Hui war alles verſchlungen. Nun ſehn Sie, ſo handelt der Menſch gegen ſeinen Bruder! ſagte {Martin}. Wirklich dies Verfahren hat was Teufliſches! verſetzte {Kandide}. Bei dieſen Worten ward er etwas glänzendrotes gewahr, das auf ſein Schif zugeſchwommen kam. Man machte die Schaluppe los, um zu ſehn, was es ſei. Es war einer von {Kandiden’s} Hämmeln. Ein Fund, der ihn mehr freute, als ihn der Verluſt von hundert, wohlbepakt mit Eldoradoſchen Diamanten geſchmerzt hatte. Der Franzöſiſche Hauptmann hatte gar bald die Bemerkung gemacht, daß der Hauptmann des niederbohrenden Schifs ein Spanier war, und der Befehlshaber des Niedergebohrten ein Holländiſcher Seeräuber; eben der, der {Kandiden} beſtohlen hatte. All’ die unermeslichen Reichthümer, worin der ſpizköpfige Bube ſeine Klauen geſchlagen hatte, wurden mit ihm in der Tiefe des Meers begraben, und weiter nichts geborgen als Ein Hammel. Sehn Sie, ſagte {Kandide} zu {Martin}, das Laſter wird bisweilen beſtraft; dieſer Schurke von Holländiſchem Schifspatron hat ſeinen verdienten Lohn erhalten. Recht gut! weshalb muſſten aber die Paſſagiere, die auf ſeinem Schiffe waren, mit untergehn? entgegnete {Martin}. Ich kann mir’s nicht anders erklären, als daß Gott den Spizbuben beſtraft, und der Teufel die übrigen erſäuft hat. Indes ging das Franzöſiſche und das Spaniſche Schif jedes ſeinen Gang, und {Kandiden’s} und {Martins} Unterredung den ihrigen. Vierzehn Tage hintereinander hatten ſie ſich herumdiſputirt, und waren am vierzehnten Tage noch nicht weiter als am erſten. Es half wenigſtens ſo viel, daß ſie nicht ſtumm geweſen waren, ſich ihre Gedanken mitgetheilt, und einander getröſtet hatten. {Kandide} liebherzte ſeinen Hammel. Da ich Dich wiedergefunden habe, ſagt’ er, werd’ ich auch wohl noch mein {Gundchen} wiederfinden. 21. Ein und zwanzigſtes Kapitel. // {Kandide} und {Martin} nähern ſich den Franzöſiſchen Küſten. Wovon ſie ſich unterhalten.