Voltaire: Kandide oder der Optimismus 1. Erſtes Kapitel. // Was maaſſen {Kandide} in einem ſchönen Schloſſe erzogen, und aus demſelben fortgejagt wird. Im Herzogthum Weſtphalen auf dem Schloſſe des Herrn Baron von {Donnerſtrunkshauſen} ward mit der jungen Herrſchaft zugleich ein junger Menſch erzogen, ein gar liebes, ſanftes Geſchöpf, aus deſſen kleinſten Geſichtszuge Sanftheit hervorblikte. An Kopf fehlt’ es ihm gar nicht, und doch war er ſo offen, ſo rund, ſo ohn’ alles Arg, wie unſr’ Ahnen. Eben deswegen, glaub’ ich, nannte ihn Barones {Engeline}, Schweſter des Herrn Barons, {Kandide}. Wie hätte eine Dame, die anderthalb Jahr zu Berlin in einer Franzöſiſchen Penſion geweſen, ſich auf einen Teutſchen Namen beſinnen, oder wenn ſie ſich ja darauf beſonnen, ihn goutiren können? {Kandide} war — munkelten die alten Bedienten im Hauſe, — eine heimliche Liebesfrucht von ebenbeſagter Schweſter des Herrn Barons und einem guten ehrlichen Schlage von Landjunker aus der Nachbarſchaft. Zum Gemal hatte ihn die gnädige Barones nie gemocht, weil der arme Schlukker ſeinen Adel mit nicht mehr als einundſiebenzig Ahnen belegen konnte, und weil der Reſt ſeines Stammbaums durch den ſcharfen Zahn der Zeit war aufgenagt worden. Der Herr Baron, {Hans, Joſt, Kurt von Donnerſtrunkshauſen} war einer der Matadore in Weſtphalen, denn ſein Schlos hatte Thür und Fenſter, ja ſogar einen austapezirten Saal. Seine Kettenhunde ſtellten, wenn Not an Mann kam, eine Jagdkuppel vor, ſeine Stallknechte die Jäger und der Prieſter im Dorfe den Oberſchloskapellan. Alt und Jung nennte den alten Herrn Ihro hochfreiherrliche Gnaden, und wollte vor Lachen berſten, wenn er etwas erzälte. Die Frau {Barones} ſtand in gar groſſem Anſehn, denn ſie wog richtig ihre dreihundert und funfzig Pfund, wo nicht noch mehr, und wußte die Honneurs mit einer Würde zu machen, die ihr noch gröſſre Hochachtung verſchafte. Ihre Tochter, die Barones {Kunegunde}, war ein munters, rundes, rothbäkkiges Ding, ſiebzehn Sommer alt, und gar lieblich anzuſchauen; Junker {Polde}, ihr Bruder, ein würdiges Ebenbild des gnädigen Herrn Papa. Magiſter {Panglos}, der Hofmeiſter der jungen Herrſchaft, ſtellte das Hausorakel vor. Der junge {Kandide} ſchlukte jegliche ſeiner Lehren mit der Treuherzigkeit hinter, die ſeinem Alter und Karakter gemäs war. {Panglos} lehrte die Metaphyſiko-theologo-kosmolo-nigologie; bewies mit der ſtärkſten philoſophiſchen Suade, daß ohne Urſach keine Wirkung ſein könne, und daß in dieſer beſten aller möglichen Welten das Schlos des gnädigen Herrn Barons das ſchönſte aller Schlöſſer ſei und die gnädige Frau die beſte aller möglichen Baroninnen. Es iſt bereits klärlich dargethan, hub er zu demonſtriren an, daß die Dinge nicht anders ſein können, als ſie ſind; denn alldieweil alles, was da iſt, zu einem Endzweck geſchaffen worden, ſo zielt nothwendig alles zu dem beſten Endzwek ab. Gebt nur Acht, und Ihr werdet dieſe Grundwahrheit durchgängig beſtätigt finden. Betrachtet zum Beiſpiel Eure Naſen. Sie wurden gemacht, um Brillen zu tragen, und man trägt auch welche. Eure Beine: Ihr empfingt ſie, um ſie zu beſtrümpfen und zu beſchuhen, und Ihr beſtrümpft und beſchuht ſie. Seht die Quaderſteine an! Sie wachſen, um zerſägt, behauen, und zum Bau der Palläſte verwandt zu werden, derohalben hat unſer gnädiger Herr Baron einen gar herrlichen Pallaſt von Quaderſteinen; der gröſſte Baron im ganzen Herzogthume mus die beſte, bequemſte Wohnung haben, und hat ſie auch. Die Schweine ſchuf Gott, damit der Menſch ſie äſſe; eſſen wir nicht Schweinfleiſch Jahr aus Jahr ein? Folglich iſt es Thorheit mit einigen zu behaupten, daß alles gut gemacht iſt; aufs Beſte iſt alles gemacht, muß man ſagen. Das fing der junge {Kandide} mit beiden ofnen Ohren auf, und glaubte es in ſeiner Herzenseinfalt ſteif weg, denn er fand Barones {Gundchen} auſſerordentlich ſchön, ob er gleich nie den Mut gehabt hatte, es ihr zu ſagen. Er ſchlos, die erſte Stufe irrdiſcher Glükſeligkeit wäre Freiherr auf und von {Donnerſtrunkshauſen}, die zweite Barones {Kunegunde} zu ſein, die dritte, ſie täglich zu ſehen, die vierte, den Magiſter {Panglos} zu hören, den gröſſten Philoſophen im ganzen Weſtphäliſchen Kreiſe, folglich auch in der ganzen Welt. Eines Tages, als Barones {Kunegunde} in dem kleinen Gehölze am Schloſſe ſpazieren ging, das man den hochfreiherrlichen Park nannte, erblikte ſie hinter dem Geſträuch den Herrn Magiſter {Panglos}, der mit ihrer Frau Mutter Kammerjungfer einem gar niedlichen und gar gefügen braunen Dirnchen, Verſuche aus der Experimentalphyſik anſtellte. Die {junge Barones} lauſcht’ und lauſchte mit dem leiſeſten Athemzuge, und beobachtete — denn ſie hatte ungemeine Anlage zu den Wiſſenſchaften — all’ die Experimente, die der {Magiſter} von Zeit zu Zeit wiederholte; ſahe {Pangloſens} zureichenden Grund, die Urſachen und Wirkungen gar deutlich, und ſchlich in tiefen Gedanken fort. Ihr war ſo wohl und ſo weh um’s Herz; ihre Seele war voll von der Begier gelehrt zu werden, und dem Gedanken: ſie könnte wohl des jungen {Kandide} zureichender Grund werden, und er der ihrige. Beim Hereintreten in’s Schlos, begegnete ihr {Kandide}! ſie ward rot, {Kandide} auch. Guten Morgen {Kandide}! ſtammelte ſie. Und {Kandide} ſchwazte mit ihr, ohne zu wiſſen was. Den folgenden Tag, nach aufgehobner Mittagstafel, befanden ſich {Kunegund’} und {Kandide} hinter einer Spaniſchen Wand; {Kunegunde} lies ihr Schnupftuch fallen, {Kandide} hob es auf; ſie nam ihn in aller Unſchuld bei der Hand, er, auch in aller Unſchuld, küßte der jungen {Baroneſſe} die ihrige, und das ſo warm, ſo herzlich! O es war keiner von Euren Theaterküſſen! Ihre Lippen begegneten einander, ihre Augen erglühten, ihre Kniee bebten, ihre Hände verirrten ſich. In eben dem Nu ging der Herr {Baron von Donnerſtrunkshauſen} bei dem Schirm vorbei. Da er dieſe Urſach’ und dieſe Wirkung erblikte, jagt’ er {Kandiden} mit derben Fustritten zum Schloſſe hinaus. {Gundchen} ſank in Ohnmacht; ſobald ſie ſich ein wenig erholt hatte, ward ſie von der geſtrengen Frau Mama wieder völlig in’s Leben zurückgeohrfeigt, und in dem ſchönſten und anmutigſten aller Schlöſſer herrſchte Beſtürzung über Beſtürzung. 2. Zweites Kapitel. // Wie’s {Kandiden} unter den Bulgaren geht.