Johanna Spyri: Heidi kann brauchen, was es gelernt hat 7. Wie es auf der Alp weitergeht Eben war die Sonne hinter den Felſen heraufgeſtiegen und warf nun ihre goldenen Strahlen über die Hütte und über das Tal hinab. Der Almöhi hatte, wie er jeden Morgen tat, ſtill und andächtig zugeſchaut, wie ringsum auf den Höhen und im Tal die leichten Nebel ſich lichteten und das Land aus dem Dämmerſchatten herausſchaute und zum neuen Tage erwachte. Heller und heller wurden oben die lichten Morgenwolken, bis jetzt die Sonne völlig heraustrat und Fels und Wald und Hügel mit goldenem Lichte übergoß. Jetzt trat der Öhi in ſeine Hütte zurück und ging leiſe die kleine Leiter hinauf. Klara hatte eben die Augen aufgeſchlagen und ſchaute in der höchſten Verwunderung auf die hellen Sonnenſtrahlen, die durch das runde Loch hereindrangen und auf ihrem Bette tanzten und blitzten. Sie wußte gar nicht, was ſie ſah und wo ſie war. Doch jetzt erblickte ſie das ſchlafende Heidi an ihrer Seite, und nun ertönte auch die freundliche Stimme des Großvaters: „Gut geſchlafen? Nicht müde?“ Klara verſicherte, ſie ſei nicht müde, und, einmal eingeſchlafen, ſei ſie auch die ganze Nacht nicht mehr erwacht. Das gefiel dem Großvater, und nun fing er gleich an und beſorgte die Klara ſo gut und ſo verſtändnisvoll, als wäre es geradezu ſein Beruf, kranke Kinder zu beſorgen und es ihnen bequem zu machen. Das Heidi hatte ſeine Augen jetzt auch aufgemacht und ſah auf einmal mit Erſtaunen, wie der Großvater die ſchon fertig gerüſtete Klara auf den Arm nahm und forttrug. Da mußte es doch dabeiſein. Blitzſchnell ging ſeine Ausrüſtung vor ſich. Dann ging's die Leiter hinunter, und nun war auch das Heidi aus der Tür und ſtand draußen, mit großer Verwunderung betrachtend, was der Großvater jetzt wieder ausführte. Er hatte am Abend vorher, als die Kinder ſchon oben auf ihrem Lager angekommen waren, überlegt, wo der breite Rollſtuhl unter Dach gebracht werden könnte. Die Tür der Hütte war ja viel zu ſchmal, hier konnte er nie eingefahren werden. Da war ihm ein Gedanke gekommen. Er machte hinten am Schopf zwei große Laden los, ſo daß da eine breite Öffnung entſtand. Der Stuhl wurde hineingeſtoßen und die hohen Bretter wieder an ihre Stelle gebracht, wenn auch nicht feſtgemacht. Das Heidi kam eben an, nachdem der Großvater Klara drinnen in ihren Stuhl geſetzt, dann die Bretter weggenommen hatte und nun mit ihr aus dem Schopf in den Morgenſonnenſchein herausgefahren kam. Mitten auf dem Platze ließ er den Stuhl ſtehen und ging dem Geißenſtall zu. Das Heidi ſprang an Klaras Seite. Der friſche Morgenwind wehte um die Geſichter der Kinder, und ein würziger Tannenduft kam mit jedem neuen Windeswehen herüber und durchſtrömte die ſonnige Morgenluft. Klara zog tiefe Züge ein und lehnte ſich in ihren Stuhl zurück, in einem Gefühl des Wohlſeins, wie ſie es nie empfunden hatte. Noch nie in ihrem Leben hatte ſie ja auch friſche Morgenluft draußen in der freien Natur eingeatmet, und nun wehte die reine Alpenluft um ſie ſo kühl und erfriſchend, daß jeder Atemzug ein Genuß war. Dazu der helle, ſüße Sonnenſchein, der gar nicht heiß war hier oben und ſo lieblich warm auf ihren Händen lag und an dem trockenen Grasboden zu ihren Füßen. Daß es ſo auf der Alp ſein könnte, das hatte ſich Klara gar nicht vorſtellen können. „O Heidi, wenn ich nur immer, immer hier oben bei dir bleiben könnte!“ ſagte ſie jetzt, ſich ganz wohlig hin und her wendend in ihrem Stuhl, um ſo recht von allen Seiten Luft und Sonne einzutrinken. „Jetzt ſiehſt du, daß es ſo iſt, wie ich dir geſagt habe“, entgegnete das Heidi erfreut, „daß es am ſchönſten auf der ganzen Welt beim Großvater auf der Alm iſt.“ Eben trat dieſer aus dem Stalle heraus zu den Kindern heran. Er brachte zwei Schüſſelchen voll ſchäumender, ſchneeweißer Milch und reichte eins der Klara, das andere dem Heidi. „Das wird dem Töchterchen wohltun“, ſagte er, Klara zunickend. „Sie iſt vom Schwänli, die gibt Kraft. Zum Wohlſein! Nur zu!“ Klara hatte noch nie Milch von einer Geiß getrunken, ſie hatte erſt zur Sicherheit ein wenig daran riechen müſſen. Als ſie nun aber ſah, mit welcher Begier das Heidi ſeine Milch heruntertrank, ohne ein einziges Mal abzuſetzen — ſo erſtaunlich gut ſchmeckte ſie ihm —, da ſetzte Klara auch an und trank und trank, und wahrhaftig, ſie war ſo ſüß und kräftig, als wäre Zucker und Zimmet darin, und Klara trank zu, bis nichts mehr im Schüſſelchen war. „Morgen nehmen wir zwei“, ſagte der Großvater, der mit Befriedigung zugeſehen hatte, wie Klara Heidis Beiſpiel gefolgt war. Jetzt erſchien der Peter mit ſeiner Schar, und während das Heidi durch die allſeitigen Morgenbegrüßungen gleich mitten in die Herde hineingedrängt wurde, nahm der Öhi den Peter ein wenig auf die Seite, damit dieſer verſtehen könne, was er ihm zu ſagen hatte, denn die Geißen meckerten immer, eine ſtärker als die andere, vor lauter Freude und Freundſchaftsbezeugungen, ſobald ſie das Heidi in ihrer Mitte hatten. „Jetzt hör zu und paß auf“, ſagte der Öhi. „Von heut an läſſeſt du dem Schwänli ſeinen Willen. Es hat die Fühlung, wo die kräftigſten Kräutlein ſind; alſo wenn es hinauf will, ſo gehſt du nach, den anderen tut's ja auch gut, und wenn es höher will, als du ſonſt mit ihnen gehſt, ſo gehſt du wieder und hältſt es nicht zurück, hörſt du! Wenn du auch ein wenig klettern mußt, ſchad't nichts, du gehſt, wo es will, denn in dieſer Sache iſt es vernünftiger als du, und es muß nur noch vom Beſten bekommen, daß es eine Prachtmilch gibt. Warum guckſt du dort hinüber, wie wenn du einen verſchlucken wollteſt? Es wird dir niemand im Wege ſein. So, jetzt vorwärts, und denk daran!“ Der Peter war gewohnt, dem Öhi aufs Wort zu folgen. Er trat gleich ſeinen Marſch an; man konnte aber ſehen, daß er noch etwas im Hinterhalt hatte, denn er drehte immer den Kopf um und rollte mit den Augen. Die Geißen folgten und drängten das Heidi noch eine Strecke mit vorwärts. Das war dem Peter eben recht. „Du mußt mit“, rief er jetzt drohend in den Geißenrudel hinein, „du mußt mit, wenn man dem Schwänli nachmuß.“ „Nein, ich kann nicht“, rief das Heidi zurück, „und ich kann jetzt lange, lange nicht mitkommen, ſolange die Klara bei mir iſt. Aber einmal kommen wir dann miteinander hinauf, der Großvater hat es uns verſprochen.“ Unter dieſen Worten hatte das Heidi ſich aus den Geißen herausgewunden und ſprang nun zu Klara zurück. Jetzt machte der Peter mit beiden Fäuſten eine ſo drohende Gebärde gegen den Rollſtuhl hinunter, daß die Geißen auf die Seite ſprangen. Er ſprang aber auf der Stelle nach und ohne Aufenthalt eine ganze Strecke weit hinauf, bis er außer Sicht war, denn er dachte, der Öhi könnte ihn etwa geſehen haben, und er wollte lieber nicht wiſſen, was für einen Eindruck das Fauſten dem Öhi gemacht habe. Klara und Heidi hatten für heute ſo viel im Sinn, daß ſie gar nicht wußten, wo anfangen. Das Heidi ſchlug vor, zuerſt den Brief an die Großmama zu ſchreiben, den hatten ſie ja beſtimmt verſprochen, und ſo für jeden Tag einen neuen. Die Großmama war doch ihrer Sache nicht ſo ganz ſicher, wie es in die Länge da droben der Klara behagen und auch, wie es mit ihrer Geſundheit gehen würde, und ſo hatte ſie den Kindern das Verſprechen abgenommen, ihr jeden Tag einen Brief zu ſchreiben und alles zu erzählen, was ſie erlebten. So konnte die Großmama auch ſogleich wiſſen, wenn ſie oben nötig werden ſollte, und bis dahin ruhig unten bleiben. „Müſſen wir in die Hütte hinein zum Schreiben?“ fragte Klara, die wohl dafür war, der Großmama Bericht zu geben; aber da draußen war es ihr ſo wohl, daß ſie gar nicht weg mochte. Aber das Heidi wußte ſich einzurichten. Augenblicklich rannte es in die Hütte hinein und kam mit ſeinen ſämtlichen Schulſachen und dem niedrigen Dreibeinſtühlchen beladen wieder zurück. Nun legte es ſein Leſebuch und Schreibheft der Klara auf den Schoß, daß ſie darauf ſchreiben konnte, und es ſelbſt ſetzte ſich an die Bank hin auf ſein Stühlchen, und nun begannen ſie beide der Großmama zu erzählen. Aber nach jedem Satze, den Klara geſchrieben hatte, legte ſie ihren Bleiſtift wieder hin und ſchaute um ſich. Es war gar zu ſchön. Der Wind war nicht mehr ſo kühl; nur lieblich fächelnd wehte er um ihr Geſicht, und drüben in den Tannen flüſterte er leiſe. In der klaren Luft tanzten und ſummten die kleinen, fröhlichen Mücken, und weit umher lag eine große Stille auf dem ganzen ſonnigen Gefilde. Groß und ſtill ſchauten die hohen Felſenberge herüber, und das ganze weite Tal hinab lag alles wie im ſtillen Frieden. Nur dann und wann ſchallte das frohe Jauchzen eines Hirtenbuben durch die Luft, und leiſe gab das Echo die Töne in den Felſen wieder. Der Morgen war dahin, die Kinder wußten nicht, wie, und ſchon kam der Großvater mit der dampfenden Schüſſel daher, denn er ſagte, mit dem Töchterchen bleibe man nun draußen, ſolang ein Lichtſtrahl am Himmel ſei. So wurde das Mittagsmahl wie geſtern vor der Hütte aufgeſtellt und mit Vergnügen eingenommen. Dann rollte das Heidi den Stuhl ſamt der Klara unter die Tannen hinüber, denn die Kinder hatten ausgemacht, den Nachmittag wollten ſie dort in dem ſchönen Schatten ſitzen und einander alles erzählen, was ſich zugetragen, ſeit das Heidi Frankfurt verlaſſen hatte. Wenn auch da alles im gewohnten Geleiſe weitergegangen war, ſo hatte Klara doch allerlei Beſonderes zu berichten von den Menſchen, die im Hauſe Seſemann lebten und die dem Heidi ja ſo gut bekannt waren. So ſaßen die Kinder nebeneinander unter den alten Tannen, und je eifriger ſie im Erzählen wurden, deſto lauter pfiffen die Vögel oben in den Zweigen, denn das Geplauder da unten freute ſie, und ſie wollten auch mithalten. So flog die Zeit dahin, und unverſehens war es Abend geworden, und ſchon kam das Geißenheer heruntergeſtürmt, der Anführer hintendrein mit Stirnrunzeln und grimmiger Miene. „Gute Nacht, Peter!“ rief ihm das Heidi zu, als es ſah, daß er nicht im Sinne hatte ſtillzuſtehen. „Gute Nacht, Peter!“ rief auch Klara freundlich hinüber. Er gab keinen Gruß zurück und jagte ſchnaubend die Geißen weiter. Als Klara jetzt ſah, wie der Großvater das ſaubere Schwänli zum Melken nach dem Stalle führte, da ergriff ſie auf einmal ein ſolches Verlangen nach der gewürzigen Milch, daß ſie es faſt nicht erwarten konnte, bis der Großvater damit kommen würde. Sie mußte ſelbſt erſtaunen darüber. „Das iſt aber einmal kurios, Heidi“, ſagte ſie. „Solange ich weiß, habe ich nur gegeſſen, weil ich mußte, und alles, was ich bekam, ſchmeckte nach Fiſchtran, und tauſendmal habe ich gedacht: Wenn man nur nie eſſen müßte! Und jetzt kann ich es faſt nicht erwarten, bis der Großvater kommt mit der Milch.“ „Ja, ich weiß ſchon, was das iſt“, entgegnete das Heidi ganz verſtändnisvoll, denn es gedachte der Tage in Frankfurt, da ihm alles im Halſe ſteckenblieb und nicht hinunter wollte. Klara aber begriff die Sache doch nicht. Sie hatte aber, ſolange ſie lebte, noch nie einen Tag lang in der freien Luft geſeſſen wie heute, und nun gar in dieſer hohen, belebenden Bergluft. Als der Großvater mit ſeinen Schüſſelchen herankam, erfaßte Klara ſchnell dankend das ihrige, und in durſtigen Zügen trank ſie hintereinander und war diesmal noch vor dem Heidi zu Ende. „Darf ich noch ein wenig haben?“ fragte ſie, dem Großvater das Schüſſelchen hinhaltend. Er nickte wohlgefällig, nahm auch Heidis Gefäß wieder in Empfang und ging zur Hütte zurück. Als er wiederkam, brachte er auf jedem Schüſſelchen einen hohen Deckel mit, der war aber von anderem Stoff, als die Deckel gewöhnlich ſind. Der Großvater hatte am Nachmittag einen Gang nach dem grünen Maienſäß hinüber gemacht, zu der Sennhütte, wo die ſüße, hellgelbe Butter gemacht wird. Von dort hatte er einen ſchönen runden Ballen mitgebracht. Jetzt hatte er zwei feſte Schnitten Brot genommen und die ſüße Butter ſchön dick daraufgeſtrichen. Dieſe ſollten nun die Kinder zu ihrem Nachteſſen haben. Gleich biſſen auch alle beide ſo tief in die appetitlichen Schnitten hinein, daß der Großvater ſtehenblieb und zuſchaute, wie das weitergehen würde, denn das gefiel ihm. Als Klara nachher auf ihrem Lager wieder nach den ſchimmernden Sternen ſchauen wollte, ging es ihr wie dem Heidi an ihrer Seite: Die Augen fielen ihr auf der Stelle zu, und es kam ein ſo feſter, geſunder Schlaf über ſie, wie ſie ihn niemals gekannt hatte. In dieſer erfreulichen Weiſe verging auch der folgende Tag und dann noch einer, und dann folgte eine große Überraſchung für die Kinder. Es kamen zwei kräftige Träger den Berg heraufgeſtiegen; jeder trug auf ſeinem Reff ein hohes Bett, fertig aufgerüſtet in der Bettſchaft, beide ganz gleich bedeckt mit einer weißen Decke, ſauber und nagelneu. Auch hatten die Männer einen Brief von der Großmama abzugeben. Da ſtand darin, daß dieſe Betten für Klara und Heidi ſeien, daß das Heu- und Deckenlager nun aufgehoben werden ſolle und daß von nun an das Heidi immer in einem richtigen Bette ſchlafen müſſe, denn im Winter ſolle das eine der beiden ins Dörfli heruntergeſchafft werden, das andere aber oben bleiben, damit Klara es immer vorfinde, wenn ſie wiederkomme. Dann lobte die Großmama die Kinder um ihrer langen Briefe willen und ermunterte ſie, täglich ſo fortzufahren, damit ſie immer alles mitleben könne, als ob ſie bei ihnen wäre. Der Großvater war hineingegangen, hatte den Inhalt von Heidis Lager auf den großen Heuhaufen geworfen und die Decken weggelegt. Nun kam er wieder, um mit Hilfe der Männer die beiden Betten dort hinauf zu transportieren. Dann rückte er ſie hart aneinander, damit von beiden Kopfkiſſen aus die Ausſicht durch das Loch dieſelbe bliebe, denn er kannte die Freude der Kinder an dem Morgen- und Abendſchein, der da hereinglänzte. Unterdeſſen ſaß die Großmama unten im Bade Ragaz und war hocherfreut über die vortrefflichen Nachrichten, die täglich von der Alp zu ihr heruntergelangten. Das Entzücken über ihr neues Leben ſteigerte ſich bei Klara noch von Tag zu Tag, und ſie wußte nicht genug zu ſagen von der Güte und ſorglichen Pflege des Großvaters und wie luſtig und kurzweilig das Heidi ſei, noch viel mehr als in Frankfurt, und wie ſie jeden Morgen beim Erwachen immer zuerſt denke: O gottlob; ich bin noch auf der Alp! Über dieſe ausnehmend erfreulichen Berichte war die Großmama jeden Tag aufs neue froh. Sie fand auch, da alles ſo ſtand, ſo könne ſie ihren Beſuch auf der Alp gar wohl noch ein wenig verſchieben, was ihr nicht unlieb war, denn der Ritt den ſteilen Berg hinauf und wieder herunter war ihr doch etwas beſchwerlich vorgekommen. Der Großvater mußte eine ganz beſondere Teilnahme für ſeinen Pflegling gefaßt haben, denn es verging kein Tag, an welchem er nicht irgend etwas Neues zu ſeiner Kräftigung ausdachte. Er machte jetzt jeden Nachmittag weitere Gänge in die Felſen hinauf, immer höher, und jedesmal brachte er ein Bündelchen mit zurück, das duftete ſchon von weitem durch die Luft wie gewürzige Nelken und Thymian, und kehrten die Geißen am Abend heim, ſo fingen ſie alle zu meckern und zu ſpringen an und wollten alle miteinander in den Stall eindringen, wo das Bündelchen lag, denn ſie kannten den Geruch. Aber der Öhi hatte die Tür gut zugemacht, denn er kletterte den ſeltenen Kräuterchen nicht nach, hoch an die Felſen hinauf, damit die Geißenſchar ohne Mühe zu einer guten Mahlzeit komme. Die Kräutlein waren alle für das Schwänli beſtimmt, damit es immer noch kräftigere Milch hergebe. Man konnte auch gut ſehen, wie die außerordentliche Pflege bei ihm anſchlug, denn es warf den Kopf immer lebendiger in die Höhe und machte ganz feurige Augen dazu. So war nun ſchon die dritte Woche gekommen, ſeit Klara auf der Alp war. Seit einigen Tagen hatte der Großvater des Morgens, wenn er ſie heruntertrug, um ſie in ihren Stuhl zu ſetzen, jedesmal geſagt: „Will das Töchterchen nicht einmal probieren, ein wenig auf dem Boden zu ſtehen?“ Klara hatte dann wohl verſucht, ihm den Gefallen zu tun, aber ſie hatte immer gleich geſagt: „Oh, 's tut zu weh!“ und hatte ſich an ihn feſtgeklammert; er ließ ſie aber jeden Tag ein wenig länger probieren. Ein ſo ſchöner Sommer war ſeit Jahren nicht auf der Alp geweſen. Jeden Tag zog die ſtrahlende Sonne durch den wolkenloſen Himmel hin, und alle kleinen Blumen machten ihre Kelche weit auf und glühten und dufteten zu ihr empor, und am Abend warf ſie ihr Purpur- und Roſenlicht auf die Felſenhörner und das Schneefeld hinüber und tauchte dann in ein golden flammendes Meer hinab. Davon erzählte das Heidi ſeiner Freundin Klara immer wieder, denn nur oben auf der Weide konnte man das alles ſo recht ſehen, und von der Stelle oben am Abhange erzählte es mit beſonderem Feuer, wie dort jetzt die großen Scharen der glitzernden, goldenen Weideröschen ſtehen und Blauglöckchen ſo viele, daß man meine, dort ſei das Gras blau geworden, und daneben ganze Büſche von den braunen Kolbenblümchen, die ſo ſchön riechen, daß man nur auf den Boden ſitzen müſſe zu ihnen und gar nicht mehr fort wolle. Eben jetzt, unter den Tannen ſitzend, hatte das Heidi aufs neue von den Blumen dort oben und der Abendſonne und den leuchtenden Felſen erzählt, und dabei war ein ſolches Verlangen in ihm aufgeſtiegen, wieder einmal dorthin zu kommen, daß es mit einemmal aufſprang und davonrannte, dem Großvater zu, der im Schopf auf ſeinem Schnitzſtuhl ſaß. „O Großvater“, rief es ſchon von weitem hinüber, „kommſt du morgen mit uns auf die Weide? Oh, jetzt iſt es ſo ſchön dort oben!“ „Es bleibt dabei“, ſagte der Großvater zuſtimmend, „aber dann muß mir das Töchterchen auch einen Gefallen tun: Es muß mir heut abend das Stehen noch einmal recht probieren.“ Frohlockend kam das Heidi mit ſeiner Nachricht zu Klara zurück, und dieſe verſprach gleich, ſovielmal verſuchen zu wollen, auf ihren Füßen zu ſtehen, als der Großvater nur wolle, denn ſie freute ſich ganz ungeheuer, dieſe Reiſe nach der ſchönen Geißenweide hinauf zu machen. Das Heidi war ſo voller Jubel, daß es gleich dem Peter entgegenrief, ſobald es ihn am Abend beim Herunterkommen erblickte: „Peter! Peter! Morgen kommen wir auch mit und bleiben den ganzen Tag dort oben.“ Als Antwort brummte der Peter wie ein gereizter Bär und ſchlug mit Wut nach dem unſchuldigen Diſtelfink, der neben ihm trabte. Aber der flinke Diſtelfink hatte die Bewegung zur rechten Zeit wahrgenommen. Er machte einen hohen Satz über das Schneehöppli weg, und der Hieb ſauſte in die Luft hinaus. Klara und Heidi beſtiegen heute voll herrlicher Erwartungen ihre zwei ſchönen Betten, und ſo erfüllt waren ſie von ihren Plänen für morgen, daß ſie beſchloſſen, die ganze Nacht wach zu bleiben und immerfort davon zu ſprechen, bis ſie wieder aufſtehen durften. Kaum lagen ſie aber auf ihren guten Kiſſen, ſo hörten die Geſpräche plötzlich auf, und Klara ſah im Traume ein großes, großes Feld vor ſich, das war ganz himmelblau anzuſehen, ſo dicht beſät war es von lauter Glockenblumen; und das Heidi hörte den Raubvogel oben in den Höhen, wie er herunterſchrie: „Kommt! Kommt! Kommt!“ 8. Es geſchieht, was keiner erwartet hat