Johanna Spyri: Heidi kann brauchen, was es gelernt hat Hörbuch: https://archive.org/details/heidi_kann_brauchen_sk_librivox 1. Reiſezurüſtungen Der freundliche Herr Doktor, der den Entſcheid gegeben hatte, daß das Kind Heidi wieder in ſeine Heimat zurückgebracht werden ſollte, ging eben durch die breite Straße dem Hauſe Seſemann zu. Es war ein ſonniger Septembermorgen, ſo licht und lieblich, daß man hätte denken können, alle Menſchen müßten ſich darüber freuen. Aber der Herr Doktor ſchaute auf die weißen Steine zu ſeinen Füßen, ſo daß er den blauen Himmel über ſich nicht einmal bemerken konnte. Es lag eine Traurigkeit auf ſeinem Geſichte, die man vorher nie da geſehen hatte, und ſeine Haare waren viel grauer geworden ſeit dem Frühjahr. Der Doktor hatte eine einzige Tochter gehabt, mit der er ſeit dem Tode ſeiner Frau ſehr nahe zuſammen gelebt hatte und die ſeine ganze Freude geweſen war. Vor einigen Monaten war ihm das blühende Mädchen durch den Tod entriſſen worden. Seither ſah man den Herrn Doktor nie mehr ſo recht fröhlich, wie er vorher faſt immer geweſen war. Auf den Zug an der Hausglocke öffnete Sebaſtian mit großer Zuvorkommenheit die Eingangstür und machte gleich alle Bewegungen eines ergebenen Dieners; denn der Herr Doktor war nicht nur der erſte Freund des Hausherrn und deſſen Töchterchen, durch ſeine Freundlichkeit hatte er ſich, wie überall, die ſämtlichen Hausbewohner zu guten Freunden gemacht. „Alles beim alten, Sebaſtian?“ fragte der Herr Doktor wie gewohnt mit freundlicher Stimme und ging die Treppe hinauf, gefolgt von Sebaſtian, der nicht aufhörte, allerlei Zeichen der Ergebenheit zu machen, obſchon der Herr Doktor ſie eigentlich nicht ſehen konnte, denn er kehrte dem Nachfolgenden den Rücken. „Gut, daß du kommſt, Doktor“, rief Herr Seſemann dem Eintretenden entgegen. „Wir müſſen durchaus noch einmal die Schweizerreiſe beſprechen, ich muß von dir hören, ob du unter allen Umſtänden bei deinem Ausſpruche bleibſt, auch nachdem nun bei Klärchen entſchieden ein beſſerer Zuſtand eingetreten iſt.“ „Mein lieber Seſemann, wie kommſt du mir denn vor?“ entgegnete der Angekommene, indem er ſich zu ſeinem Freunde hinſetzte. „Ich möchte wirklich wünſchen, daß deine Mutter hier wäre; mit der wird alles gleich klar und einfach und kommt ins rechte Geleiſe. Mit dir aber iſt ja kein Fertigwerden. Du läſſeſt mich heute zum dritten Male zu dir kommen, damit ich dir immer noch einmal dasſelbe ſage. — „Ja, du haſt recht, die Sache muß dich ungeduldig machen, aber du mußt doch begreifen, lieber Freund“ — und Herr Seſemann legte ſeine Hand wie bittend auf die Schulter ſeines Freundes —, „es wird mir gar zu ſchwer, dem Kinde zu verſagen, was ich ihm ſo beſtimmt verſprochen hatte und worauf es ſich nun monatelang Tag und Nacht gefreut hat. Auch dieſe letzte ſchlimme Zeit hat das Kind ſo geduldig ertragen, immer in der Hoffnung, daß die Schweizerreiſe nahe ſei und daß es ſeine Freundin Heidi auf der Alp beſuchen könne; und nun ſoll ich dem guten Kinde, das ja ſonſt ſchon ſo vieles entbehren muß, die langgenährte Hoffnung mit einemmal wieder durchſtreichen — das iſt mir faſt nicht möglich.“ „Seſemann, das muß ſein“, ſagte ſehr beſtimmt der Herr Doktor, und als ſein Freund ſtillſchweigend und niedergeſchlagen daſaß, fuhr er nach einer Weile fort: „Bedenke doch, wie die Sache ſteht. Klara hat ſeit Jahren keinen ſo ſchlimmen Sommer gehabt, wie dieſer letzte war. Von einer ſo großen Reiſe kann keine Rede ſein, ohne daß wir die ſchlimmſten Folgen zu befürchten hätten. Dazu ſind wir nun in den September eingetreten, da kann es ja noch ſchön ſein oben auf der Alp, es kann aber auch ſchon ſehr kühl werden. Die Tage ſind nicht mehr lang, und oben bleiben und da die Nächte zubringen kann Klara doch nun gar nicht. So hätte ſie kaum ein paar Stunden oben zu verweilen. Der Weg von Bad Ragaz dort hinauf muß ja ſchon mehrere Stunden dauern, denn zur Alp hinauf muß ſie entſchieden im Seſſel getragen werden. Kurz, Seſemann, es kann nicht ſein! Aber ich will mit dir hineingehen und mit Klara reden, ſie iſt ja ein vernünftiges Mädchen, ich will ihr meinen Plan mitteilen. Im kommenden Mai ſoll ſie erſt nach Ragaz hinkommen; dort ſoll eine längere Badekur unternommen werden, ſo lange, bis es hübſch warm wird oben auf der Alp. Dann kann ſie dort von Zeit zu Zeit hinaufgetragen werden, da wird ſie dieſe Bergpartien erfriſcht und geſtärkt, wie ſie dann ſein wird, ganz anders genießen, als es jetzt geſchähe. Du begreifſt auch, Seſemann, wenn wir noch eine leiſe Hoffnung für den Zuſtand deines Kindes aufrechterhalten wollen, ſo haben wir die äußerſte Schonung und die ſorgfältigſte Behandlung zu beobachten.“ Herr Seſemann, der bis dahin ſchweigend und mit dem Ausdrucke trauriger Ergebung zugehört hatte, fuhr jetzt auf einmal empor: „Doktor“, rief er aus, „ſag es mir ehrlich: Haſt du wirklich noch Hoffnung auf eine Änderung dieſes Zuſtandes?“ Der Herr Doktor zuckte die Achſeln. „Wenig“, ſagte er halblaut. „Aber komm, denk einmal einen Augenblick an mich, lieber Freund! Haſt du nicht ein liebes Kind, das nach dir verlangt und ſich auf deine Heimkehr freut, wenn du weg biſt? Nie mußt du in ein verödetes Haus zurückkehren und dich allein an deinen Tiſch hinſetzen. Und dein Kind hat's auch gut daheim. Muß es auch vieles entbehren, was andere genießen können, ſo iſt es in manch anderem auch vor vielen bevorzugt. Nein, Seſemann, ihr ſeid nicht ſo ſehr zu beklagen, ihr habt es doch recht gut, ſo zuſammenzuſein; denk an mein einſames Haus!“ Herr Seſemann war aufgeſtanden und ging nun mit großen Schritten im Zimmer auf und ab, wie er immer zu tun pflegte, wenn ihn irgendeine Sache ſtark beſchäftigte. Auf einmal ſtand er vor ſeinem Freunde ſtill und klopfte ihm auf die Schulter. „Doktor, ich habe einen Gedanken: Ich kann dich nicht ſo ſehen, du biſt ja gar nicht mehr der alte. Du mußt ein wenig aus dir heraus, und weißt du, wie? Du ſollſt die Reiſe unternehmen und das Kind Heidi auf ſeiner Alp beſuchen in unſer aller Namen.“ Der Herr Doktor war ſehr überraſcht von dem Vorſchlage und wollte ſich dagegen wehren, aber Herr Seſemann ließ ihm keine Zeit. Er war ſo erfreut und erfüllt von ſeiner neuen Idee, daß er den Freund unter den Arm faßte und nach dem Zimmer ſeines Töchterchens hinüberzog. Der gute Herr Doktor war für die kranke Klara immer eine erfreuliche Erſcheinung, denn er hatte ſie von jeher mit einer großen Freundlichkeit behandelt und ihr jedesmal, wenn er kam, etwas Luſtiges und Erheiterndes zu erzählen gewußt. Warum er das jetzt nicht mehr konnte, wußte ſie wohl und hätte ſo gern ihn wieder froh gemacht. Sie ſtreckte ihm gleich die Hand entgegen, und er ſetzte ſich zu ihr hin. Herr Seſemann rückte ſeinen Stuhl auch heran, und indem er Klara bei der Hand faßte, fing er an von der Schweizerreiſe zu reden und wie er ſich ſelbſt darauf gefreut hatte. Über den Hauptpunkt aber, daß ſie nun unmöglich mehr ſtattfinden könnte, glitt er eilig hinweg, denn er fürchtete ſich ein wenig vor den kommenden Tränen. Dann ging er ſchnell auf den neuen Gedanken über und machte Klara darauf aufmerkſam, wie wohltätig es für ihren guten Freund wäre, wenn er dieſe Erholungsreiſe unternehmen würde. Die Tränen waren wirklich aufgeſtiegen und ſchwammen in den blauen Augen, wie ſehr ſich auch Klara Mühe gab, ſie niederzudrücken, denn ſie wußte, wie ungern der Papa ſie weinen ſah. Aber es war auch hart, daß nun alles aus ſein ſollte, und den ganzen Sommer hindurch war die Ausſicht auf die Reiſe zum Heidi ihre einzige Freude und ihr Troſt geweſen in all den langen, einſamen Stunden, die ſie durchlebt hatte. Aber Klara war nicht gewohnt zu markten, ſie wußte recht gut, daß der Papa ihr nur verſagte, was zum Böſen führen würde und darum nicht ſein durfte. Sie ſchluckte ihre Tränen hinunter und wandte ſich nun der einzigen Hoffnung zu, die ihr blieb. Sie nahm die Hand ihres guten Freundes und ſtreichelte ſie und bat flehentlich: „O bitte, Herr Doktor, nicht wahr, Sie gehen zum Heidi, und dann kommen Sie, um mir alles zu erzählen, wie es iſt dort oben und was das Heidi macht und der Großvater und der Peter und die Geißen, ich kenne ſie alle ſo gut! Und dann nehmen Sie mit, was ich dem Heidi ſchicken will, ich habe ſchon alles ausgedacht und auch etwas für die Großmutter. Bitte, Herr Doktor, tun Sie's doch; ich will auch gewiß unterdeſſen Fiſchtran nehmen, ſoviel Sie nur wollen.“ Ob dieſes Verſprechen der Sache den Ausſchlag gab, kann man nicht wiſſen, aber es iſt anzunehmen, denn der Herr Doktor lächelte und ſagte: „Dann muß ich ja wohl gehen, Klärchen, ſo wirſt du uns einmal rund und feſt, wie wir dich haben wollen, Papa und ich. Und wann muß ich denn reiſen, haſt du das ſchon beſtimmt?“ „Am liebſten gleich morgen früh, Herr Doktor“, entgegnete Klara. „Ja, ſie hat recht“, fiel hier der Vater ein; „die Sonne ſcheint, der Himmel iſt blau, es iſt keine Zeit zu verlieren, für jeden ſolchen Tag iſt es ſchade, den du noch nicht auf der Alp genießen kannſt.“ Der Herr Doktor mußte ein wenig lachen: „Nächſtens wirſt du mir vorwerfen, daß ich noch da bin, Seſemann; ſo muß ich wohl machen, daß ich fortkomme.“ Aber Klara hielt den Aufſtehenden feſt; erſt mußte ſie ihm ja noch alle Aufträge an das Heidi übergeben und ihm noch ſo vieles anempfehlen, das er recht betrachten und ihr dann davon erzählen ſollte. Die Sendung an das Heidi konnte ihm erſt ſpäter zugeſchickt werden, denn Fräulein Rottenmeier mußte erſt alles verpacken helfen; ſie war aber eben auf einer ihrer Wanderungen durch die Stadt begriffen, von denen ſie nicht ſo ſchnell zurückkehrte. Der Herr Doktor verſprach, alles genau auszurichten, die Reiſe, wenn nicht am Morgen früh, ſo doch womöglich noch im Laufe des folgenden Tages anzutreten und dann bei ſeiner Heimkehr getreulich Bericht zu erſtatten über alles, was er geſehen und erlebt haben würde. Die Diener eines Hauſes haben oft eine merkwürdige Gabe, die Dinge zu erfaſſen, die im Hauſe ihrer Herren vor ſich gehen, lange bevor dieſe dazu kommen, ihnen Mitteilung davon zu machen. Sebaſtian und Tinette mußten dieſe Gabe in hohem Grade beſitzen, denn eben, als der Herr Doktor, von Sebaſtian begleitet, die Treppe hinunterging, trat Tinette ins Zimmer der Klara ein, die nach dem Mädchen geſchellt hatte. „Holen Sie dieſe Schachtel voll ganz friſcher, weicher Kuchen, wie wir ſie zum Kaffee haben, Tinette“, ſagte Klara und deutete auf die Schachtel hin, die ſchon lange bereitgeſtanden hatte. Tinette erfaßte das bezeichnete Ding an einer Ecke und ließ es verächtlich an ihrer Hand baumeln. Unter der Türe ſagte ſie ſchnippiſch: „Es iſt wohl der Mühe wert.“ Als der Sebaſtian unten mit gewohnter Höflichkeit die Türe aufgemacht hatte, ſagte er mit einem Bückling: „Wenn der Herr Doktor wollten ſo freundlich ſein und dem Mamſellchen auch einen Gruß vom Sebaſtian beſtellen.“ „Ah, ſieh da, Sebaſtian“, ſagte der Herr Doktor freundlich; „ſo wiſſen Sie denn auch ſchon, daß ich reiſe?“ Sebaſtian mußte ein wenig huſten. „Ich bin... ich habe... ich weiß ſelbſt nicht mehr recht... ach ja, jetzt erinnere ich mich: Ich bin eben zufällig durch das Eßzimmer gegangen, da habe ich den Namen des Mamſellchens ausſprechen gehört, und wie es ſo geht, man hängt dann ſo einen Gedanken an den anderen an und ſo... und in der Weiſe...“ „Jawohl, jawohl“, lächelte der Herr Doktor, „und je mehr Gedanken einer hat, je mehr wird er inne. Auf Wiederſehen, Sebaſtian, der Gruß wird beſtellt.“ Jetzt wollte der Herr Doktor gerade durch die offene Haustür enteilen, aber er traf auf ein Hindernis: Der ſtarke Wind hatte Fräulein Rottenmeier verhindert, ihre Wanderung weiter fortzuſetzen; eben war ſie zurückgekehrt und wollte ihrerſeits durch die offene Tür eintreten. Der Wind hatte ihr weites Tuch, in das ſie ſich gehüllt hatte, aber dergeſtalt aufgebläht, daß es gerade ſo anzuſehen war, als habe ſie die Segel aufgeſpannt. Der Herr Doktor wich augenblicklich zurück. Aber gegen dieſen Mann hatte Fräulein Rottenmeier von jeher eine beſondere Anerkennung und Zuvorkommenheit an den Tag gelegt. Auch ſie wich mit ausgeſuchter Höflichkeit zurück, und eine Weile ſtanden die beiden mit rückſichtsvoller Gebärde da und machten einander gegenſeitig Platz. Jetzt aber kam ein ſo ſtarker Windſtoß, daß Fräulein Rottenmeier auf einmal mit vollen Segeln gegen den Doktor heranflog. Er konnte eben noch ausweichen; die Dame aber wurde noch ein gutes Stück über ihn hinausgetrieben, ſo daß ſie wieder zurückkehren mußte, um nun den Freund des Hauſes mit Anſtand zu begrüßen. Der gewalttätige Vorgang hatte ſie ein wenig verſtimmt, aber der Herr Doktor hatte eine Art und Weiſe, die ihr gekräuſeltes Gemüt bald glättete und eine ſanfte Stimmung darüber verbreitete. Er teilte ihr ſeinen Reiſeplan mit und bat ſie in der einnehmendſten Weiſe, ihm die Sendung an das Heidi ſo zu verpacken, wie nur ſie zu packen verſtehe. Dann empfahl ſich der Herr Doktor. Klara erwartete, daß ſie erſt einige Kämpfe mit Fräulein Rottenmeier zu beſtehen haben würde, bevor dieſe ihre Zuſtimmung zum Abſenden all der Gegenſtände geben werde, die Klara für das Heidi beſtimmt hatte. Aber diesmal hatte ſie ſich getäuſcht: Fräulein Rottenmeier war ausnehmend gut gelaunt. Sogleich räumte ſie alles weg, was auf dem großen Tiſche lag, um die Dinge alle, die Klara zuſammengebracht hatte, darauf auszubreiten und dann vor ihren Augen die Sendung zu verpacken. Es war keine leichte Arbeit, denn die Gegenſtände, die da zuſammengerollt werden ſollten, waren vielgeſtaltig. Erſt kam der kleine dicke Mantel mit der Kapuze, den Klara für das Heidi ausgeſonnen hatte, damit es im kommenden Winter die Großmutter beſuchen könnte, wann es wollte, und nicht warten müßte, bis der Großvater kommen konnte und es dann in den Sack eingewickelt werden mußte, damit es nicht erfriere. Dann kam ein dickes, warmes Tuch für die alte Großmutter, damit ſie ſich darin einhülle und nicht frieren müſſe, wenn der Wind wieder ſo ſchaurig um die Hütte klappern würde. Dann kam die große Schachtel mit den Kuchen; die war auch für die Großmutter beſtimmt, daß ſie zu ihrem Kaffee auch einmal etwas anderes als ein Brötchen zu eſſen habe. Jetzt folgte eine ungeheure Wurſt; die hatte Klara urſprünglich für den Peter beſtimmt, weil er doch nie etwas anderes als Käſe und Brot bekam. Aber ſie hatte ſich jetzt anders beſonnen, denn ſie fürchtete, der Peter könnte vor Freuden die ganze Wurſt auf einmal aufeſſen. Darum ſollte die Mutter Brigitte dieſe bekommen und erſt für ſich und die Großmutter einen guten Teil davon nehmen und dem Peter den ſeinigen in verſchiedenen Lieferungen abgeben. Jetzt kam noch ein Säckchen Tabak; der war für den Großvater, der ja ſo gern ein Pfeifchen rauchte, wenn er am Abend vor der Hütte ſaß. Zuletzt kam noch eine Anzahl geheimnisvoller Säckchen, Päckchen und Schächtelchen, welche Klara mit beſonderer Freude zuſammengekramt hatte, denn da ſollte das Heidi allerhand Überraſchungen finden, die ihm große Freude machen würden. Endlich war das Werk beendet, und ein ſtattlicher Ballen lag reiſefertig an der Erde. Fräulein Rottenmeier ſchaute darauf nieder, in tiefſinnige Betrachtungen über die Kunſt zu packen verſunken. Klara ihrerſeits warf Blicke froher Erwartung darauf hin, denn ſie ſah das Heidi vor ſich, wie es vor Überraſchung in die Höhe ſpringen und aufjauchzen würde, wenn das ungeheure Paket bei ihm anlangte. Jetzt trat Sebaſtian herein und hob mit einem ſtarken Schwung den Ballen auf ſeine Schulter, um ihn unverzüglich nach dem Hauſe des Herrn Doktors zu ſpedieren. 2. Ein Gaſt auf der Alm Das Frührot glühte über den Bergen, und ein friſcher Morgenwind rauſchte durch die Tannen und wogte die alten Äſte mächtig hin und her. Das Heidi ſchlug ſeine Augen auf, der Ton hatte es erweckt. Dieſes Rauſchen packte das Heidi immer im Innerſten ſeines Weſens und zog es mit Gewalt hinaus unter die Tannen. Es ſchoß von ſeinem Lager auf und hatte kaum Zeit, ſich fertigzumachen; das mußte aber doch ſein, denn Heidi wußte nun recht gut, daß man immer ſauber und ordentlich ausſehen muß. Jetzt kam es von dem Leiterchen herunter; des Großvaters Lager war ſchon leer; es ſprang hinaus. Draußen vor der Tür ſtand der Großvater und ſchaute den Himmel nach allen Seiten hin an, wie er jeden Morgen tat, um zu ſehen, wie der Tag werden wollte. Es zogen roſige Wölkchen oben hin, und mehr und mehr blaute der Himmel, und drüben floß es wie lauter Gold über die Höhen und das Weideland, denn eben kam droben die Sonne über die hohen Felſen heraufgeſtiegen. „O wie ſchön! O wie ſchön! Guten Tag, Großvater“, rief das Heidi heranſpringend. „So, ſind deine Augen auch ſchon hell?“ gab der Großvater zurück, dem Heidi die Hand zum Morgengruß hinhaltend. Jetzt lief das Heidi unter die Tannen und hüpfte vor Freuden über das Toſen und Sauſen da droben unter den wogenden Äſten herum, und bei jedem neuen Windſtoß und lauten Wipfelbrauſen jauchzte es auf vor Wonne und ſprang noch ein wenig höher. Unterdeſſen war der Großvater zum Stalle hingegangen und hatte dem Schwänli und Bärli die Milch abgenommen; dann hatte er beide ſchön geputzt und gewaſchen zur Bergreiſe und brachte ſie nun auf den Platz heraus. Als das Heidi ſeine Freunde erblickte, kam es herangeſprungen und faßte ſie beide um den Hals, begrüßte ſie zärtlich, und ſie meckerten fröhlich und zutraulich, und jede von den Geißen wollte dem Heidi mehr Zuneigung beweiſen und drückte ihren Kopf noch immer näher an ſeine Schultern heran, ſo daß es zwiſchen den zweien faſt zerdrückt wurde. Aber das Heidi hatte keine Furcht, und wenn das lebhafte Bärli gar zu arg bohrte und drängte mit ſeinem Kopfe, dann ſagte das Heidi: „Nein, Bärli, du ſtößt ja wie der große Türk“, und augenblicklich zog Bärli ſeinen Kopf zurück und ſtellte ſich ganz anſtändig hin, und das Schwänli hatte auch ſchon ſeinen Kopf in die Höhe gereckt und machte eine vornehme Gebärde, ſo daß man deutlich ſehen konnte, es dachte bei ſich: Das ſoll mir denn keiner nachſagen, daß ich mich benehme wie der Türk. Denn das ſchneeweiße Schwänli war noch ein wenig vornehmer als das braune Bärli. Jetzt hörte man von unten herauf die Pfiffe des Peter ertönen, und bald kamen ſie heraufgeſprungen, die luſtigen Geißen alle, voran der flinke Diſtelfink in hohen Sprüngen. Gleich war das Heidi wieder mitten in dem Rudel drin, und vor lauter ſtürmiſchen Begrüßungen wurde es hin- und hergeſchoben, und dann ſchob es wieder ein wenig, denn es wollte zu dem ſchüchternen Schneehöppli vordringen, das ja von den größeren immer wieder weggedrängt wurde, wenn es dem Heidi entgegenſtrebte. Nun kam der Peter heran und tat einen letzten, fürchterlichen Pfiff, der ſollte die Geißen aufſcheuchen und der Weide zujagen, denn er wollte Platz bekommen, um dem Heidi etwas zu ſagen. Die Geißen ſprangen ein wenig auſeinander auf den Pfiff hin; ſo konnte der Peter vorrücken und ſich nun vor das Heidi hinſtellen. „Du kannſt einmal wieder mitkommen heut“, war ſeine etwas ſtörrige Anrede. „Nein, das kann ich nicht, Peter“, entgegnete das Heidi. „Jeden Augenblick können ſie jetzt von Frankfurt kommen, und dann muß ich daheim ſein.“ „Das haſt du ſchon manchmal geſagt“, brummte der Peter. „Es gilt aber immer noch, und es gilt, bis ſie kommen“, gab das Heidi zurück. „Oder meinſt du etwa, ich müſſe nicht daheim ſein, wenn ſie von Frankfurt zu mir kommen? Meinſt du etwa ſo etwas, Peter?“ „Sie können zum Öhi kommen“, verſetzte der Peter knurrend. Jetzt ertönte von der Hütte her die kräftige Stimme des Großvaters: „Warum geht's nicht vorwärts mit der Armee? Fehlt's am Feldmarſchall oder an den Truppen?“ Augenblicklich machte der Peter kehrum, ſchwang ſeine Rute in der Luft, daß ſie ſauſte und alle Geißen, die den Ton wohl kannten, auf und davon rannten, der Peter hinter ihnen drein, alle miteinander in vollem Trabe den Berg hinan. Seit das Heidi wieder daheim beim Großvater war, kam ihm hier und da etwas in den Sinn, woran es vorher nicht gedacht hatte. So machte es jetzt alle Morgen mit großer Anſtrengung ſein Bett zurecht und ſtrich ſo lange daran herum, bis es ganz glatt ausſah. Dann lief es in der Hütte hin und her, ſtellte jeden Stuhl an ſeinen Ort, und was etwa da und dort herumlag oder -hing, das kramte es alles in den Schrank hinein. Dann holte es einen Lappen herbei, kletterte auf einen Stuhl hinauf und rieb ſo lange mit ſeinem Lappen auf dem Tiſche herum, bis dieſer ganz blank war. Wenn dann der Großvater wieder hereinkam, ſchaute er wohlgefällig um ſich und ſagte etwa: „Bei uns iſt's jetzt immer wie Sonntag, das Heidi iſt nicht vergebens in der Fremde geweſen.“ Auch heute hatte Heidi, nachdem der Peter fortgetrabt war und es mit dem Großvater gefrühſtückt hatte, ſich gleich an ſeine Geſchäfte gemacht, aber es wurde faſt nicht fertig damit. Draußen war es heut morgen gar ſo ſchön, und alle Augenblicke geſchah wieder etwas, was das Kind in ſeiner Tätigkeit unterbrach. Jetzt kam durch das offene Fenſter ein Sonnenſtrahl ſo luſtig hereingeſchoſſen, und es war geradezu, als riefe er: „Komm heraus, Heidi, komm heraus!“ Da konnte es nicht mehr drinnen bleiben, es rannte hinaus. Da lag der funkelnde Sonnenſchein um die ganze Hütte herum, und auf allen Bergen glänzte er und weit, weit das Tal hinunter, und der Boden dort am Abhang ſah ſo goldig und trocken aus, es mußte ein wenig darauf niederſetzen und umherſchauen. Dann kam ihm auf einmal in den Sinn, daß das Dreibeinſtühlchen noch mitten in der Hütte ſtand und der Tiſch noch nicht geputzt war vom Morgeneſſen. Nun ſprang es ſchnell auf und lief in die Hütte zurück. Aber es währte gar nicht lange, ſo ſauſte es draußen ſo mächtig durch die Tannen, daß es dem Heidi in alle Glieder fuhr, es mußte ſchon wieder hinaus und ein wenig mithüpfen, wenn alle Zweige da droben hin und her wogten und rollten. Der Großvater hatte einſtweilen hinten im Schopf allerlei Arbeit zu verrichten; er trat von Zeit zu Zeit unter die Tür hinaus und ſchaute lächelnd Heidis Sprüngen zu. Eben war er wieder zurückgetreten, als mit einemmal das Heidi laut aufſchrie: „Großvater, Großvater! Komm, komm!“ Er trat raſch wieder heraus, faſt erſchrocken, was mit dem Kinde ſei. Da ſah er, wie dieſes dem Abhange zulief, laut ſchreiend: „Sie kommen, ſie kommen! Und voran der Herr Doktor!“ Das Heidi ſtürzte ſeinem alten Freunde entgegen. Dieſer ſtreckte grüßend die Hand aus. Wie das Kind ihn erreicht hatte, umfaßte es zärtlich den ausgeſtreckten Arm und rief in voller Herzensfreude: „Guten Tag, Herr Doktor! Und ich danke auch noch vieltauſendmal!“ „Grüß Gott, Heidi! Und wofür dankſt du denn ſchon?“ fragte freundlich lächelnd der Herr Doktor. „Daß ich wieder heim konnte zum Großvater“, erklärte ihm das Kind. Dem Herrn Doktor ging's wie ein Sonnenſchein über das Geſicht. Dieſen Empfang auf der Alp hatte er nicht erwartet. Im Gefühl ſeiner Einſamkeit war er unter tiefſinnigen Gedanken den Berg hinaufgeſtiegen und hatte noch nicht einmal geſehen, wie ſchön es um ihn her war und daß es immer ſchöner wurde. Er hatte angenommen, das Kind Heidi werde ihn kaum mehr kennen; es hatte ihn ſo wenig geſehen, und er kam ſich vor wie einer, der kommt, den Leuten eine Enttäuſchung zu bereiten, und den ſie darum nicht anſehen mögen, weil er ja die erwarteten Freunde nicht mitbrachte. Statt deſſen leuchtete dem Heidi die helle Freude aus den Augen, und voller Dank und Liebe hielt es immer noch den Arm ſeines guten Freundes feſt. Mit väterlicher Zärtlichkeit nahm der Herr Doktor das Kind bei der Hand. „Komm, Heidi“, ſagte er in freundlichſter Weiſe, „führe mich nun zu deinem Großvater und zeige mir, wo du daheim biſt.“ Aber das Heidi blieb noch ſtehen und ſchaute verwundert den Berg hinunter. „Wo ſind denn Klara und die Großmama?“ fragte es jetzt. „Ja, nun muß ich dir's ſagen, was dir leid tun wird wie mir auch“, erwiderte der Herr Doktor. „Sieh, Heidi, ich komme allein. Klara war recht krank und konnte nicht mehr reiſen, und ſo kam auch die Großmama nicht mit. Aber dann im Frühjahr, wenn die Tage wieder warm und ſchön lang werden, dann kommen ſie ganz ſicher.“ Das Heidi ſtand ſehr betroffen da; es konnte gar nicht faſſen, daß es nun alles, was es ſo ſicher vor ſich geſehen hatte, auf einmal gar nicht mehr ſehen ſollte. Regungslos ſtand es eine Weile wie verwirrt von dem Unerwarteten. Schweigend ſtand der Herr Doktor vor ihm, und ringsum war alles ſtill, nur hoch oben hörte man den Wind durch die Tannen ſauſen. Da fiel es dem Heidi auf einmal wieder ein, warum es heruntergelaufen ſei und daß der Herr Doktor ja gekommen ſei. Es ſchaute zu ihm auf. Da lag etwas ſo Trauriges in den Augen, die zu ihm niederſchauten, wie es noch gar nicht geſehen hatte. So war es nie geweſen, wenn der Herr Doktor in Frankfurt es angeblickt hatte. Das ging dem Heidi zu Herzen; es konnte nicht ſehen, daß jemand traurig war, und nun gar der gute Herr Doktor. Gewiß war er ſo, weil Klara und die Großmama nicht hatten mitkommen können. Es ſuchte ſchnell nach einem Troſt und fand ihn. „Oh, es währt gewiß nicht lange, bis es wieder Frühling wird, und dann kommen ſie ja beſtimmt“, tröſtete das Heidi. „Bei uns währt es gar nie lange, und dann können ſie ja viel länger dableiben, das will die Klara gewiß noch lieber. Und jetzt wollen wir zum Großvater hinauf.“ Hand in Hand mit dem guten Freunde ſtieg es nun zu der Hütte hinan. Es war dem Heidi ſo ſehr daran gelegen, den Herrn Doktor wieder froh zu machen, daß es ihn noch einmal zu überzeugen anfing, es währe ſo wenig lange auf der Alm, bis die langen, warmen Sommertage wiederkommen, daß man es kaum merke, und dabei wurde das Heidi ſelbſt ſo überzeugt von ſeinem Troſt, daß es oben dem Großvater ganz fröhlich entgegenrief: „Sie ſind noch nicht da, aber es währt gar nicht lange, ſo kommen ſie auch.“ Für den Großvater war der Herr Doktor kein Fremder, das Kind hatte ja ſo viel von ihm geſprochen. Der Alte ſtreckte ſeinem Gaſte die Hand entgegen und bewillkommte ihn mit Herzlichkeit. Dann ſetzten ſich die Männer auf die Bank an der Hütte. Auch für das Heidi wurde da noch ein Plätzchen gemacht, und der Herr Doktor winkte ihm freundlich, daß es neben ihm ſitzen ſolle. Nun fing er an zu erzählen, wie Herr Seſemann ihn ermuntert habe, die Reiſe zu machen, und wie er auch ſelbſt gefunden, es möchte gut für ihn ſein, da er ſich ſeit langem nicht mehr recht friſch und rüſtig fühle. Dem Heidi ſagte er dann ins Ohr, es werde bald noch etwas den Berg heraufkommen, das aus Frankfurt mit hergereiſt ſei und ihm eine viel größere Freude machen werde als der alte Doktor. Das Heidi war ſehr geſpannt darauf zu erfahren, was das ſein könne. Der Großvater ermunterte den Herrn Doktor ſehr, die ſchönen Herbſttage noch auf der Alm zuzubringen oder wenigſtens an jedem ſchönen Tage heraufzukommen, denn hier oben zu bleiben, dazu konnte ihn der Almöhi nicht einladen, da war ja keine Gelegenheit, den Herrn zu logieren. Er riet aber ſeinem Gaſte, nicht bis nach Ragaz zurückzukehren, ſondern unten im Dörfli ein Zimmer zu beziehen, das er im dortigen Wirthauſe in einer einfachen, aber ganz ordentlichen Art finden werde. So könnte der Herr Doktor jeden Morgen nach der Alm heraufkommen, was ihm wohltun müßte, meinte der Öhi, auch würde er dann gern den Herrn noch auf allerlei Punkte führen, weiter hinauf in die Berge, wo es ihm gefallen ſollte. Dieſem gefiel der ganze Vorſchlag ſehr wohl, und es wurde feſtgeſetzt, daß er ausgeführt werden ſollte. Unterdeſſen war die Sonne in den Mittag gekommen; der Wind hatte ſich ſchon lange gelegt, und die Tannen waren ganz ſtill geworden. Die Luft war für die Höhe noch mild und lieblich und ſäuſelte erfriſchende Kühle um die ſonnenbeſchienene Bank. Jetzt ſtand der Almöhi auf und ging in die Hütte hinein, kam aber gleich wieder und brachte einen Tiſch heraus, den er vor die Bank hinſtellte. „So, Heidi, nun hol herbei, was wir zum Eſſen brauchen“, ſagte er. „Der Herr muß nun vorlieb nehmen; iſt unſere Küche auch einfach, ſo iſt das Eßzimmer doch anſtändig.“ „Das meine ich auch“, erwiderte der Herr Doktor, indem er auf das ſonnenbeleuchtete Tal hinunterſchaute, „und die Einladung nehme ich an, hier oben muß es ſchmecken.“ Das Heidi lief nun hin und her wie ein Wieſel und brachte herbei, was es nur drinnen im Schranke finden konnte, denn daß es den Herrn Doktor bewirten durfte, war ihm eine ungeheure Freude. Der Großvater bereitete unterdeſſen das Mahl und trat nun heraus mit dem dampfenden Milchkruge und dem goldig glänzenden Käſebraten. Dann ſchnitt er ſchöne, durchſichtige Schnitten von dem roſigen Fleiſch herunter, das er hier oben an der reinen Luft getrocknet hatte. Dem Herrn Doktor ſchmeckte ſein Mittagsmahl ſo gut wie das ganze Jahr durch noch kein einziges Mal. „Ja, ja, hierhin muß unſere Klara kommen“, ſagte er jetzt. „Da wird ſie zu ganz neuen Kräften gelangen, und wenn ſie eine Zeitlang ißt wie ich heute, ſo wird ſie rund und feſt werden, wie ſie in ihrem Leben noch nie war.“ Jetzt kam von unten herauf einer angeſtiegen, der hatte einen großen Ballen auf dem Rücken. Wie er oben bei der Hütte ankam, warf er ſeine Laſt auf den Boden hin und zog ein paar gute Züge von der friſchen Almluft ein. „Ah, da kommt, was mit mir von Frankfurt hergereiſt iſt“, ſagte der Herr Doktor aufſtehend, und das Heidi mit ſich ziehend, trat er an den Ballen hin und fing an, ihn aufzulöſen. Als die erſte ſchwere Hülle weg war, ſagte er: „So, Kind, nun fahr weiter fort und hol dir deine Schätze ſelbſt heraus.“ Das Heidi tat ſo, und wie nun alles auſeinanderrollte, ſchaute es mit großen, verwunderten Augen auf die Dinge hin. Erſt als der Herr Doktor wieder herzutrat und von der großen Schachtel den Deckel weghob, dem Heidi bedeutend: „Sieh, was die Großmutter zum Kaffee bekommt“, da ſchrie es auf vor Freuden: „Oh! Oh! Jetzt kann die Großmutter einmal ſchöne Kuchen eſſen!“ und ſprang rings um die Schachtel herum und wollte gleich alles zuſammenpacken und zur Großmutter hinuntereilen. Aber der Großvater ſagte, gegen Abend wollten ſie dann miteinander den Herrn Doktor begleiten und die Sachen mitnehmen. Jetzt fand das Heidi auch das ſchöne Säckchen Tabak und brachte es ſchnell dem Großvater herüber. Das gefiel ihm ſehr wohl. Er füllte gleich ſein Pfeifchen damit, und die beiden Männer ſprachen nun, auf der Bank ſitzend und große Rauchwolken von ſich blaſend, über allerhand Dinge, während das Heidi hin und her ſprang von einem ſeiner Schätze zum andern. Auf einmal kam es wieder zu der Bank zurück, ſtellte ſich vor den Gaſt hin, und ſowie die erſte Pauſe im Geſpräch entſtand, ſagte es ſehr beſtimmt: „Nein, das andere hat mir nicht mehr Freude gemacht als der alte Herr Doktor.“ Die beiden Männer mußten ein wenig lachen, und der Herr Doktor ſagte, das hätte er nicht gedacht. Als die Sonne halb hinter die Berge hinabſteigen wollte, ſtand der Gaſt auf, um ſeine Rückreiſe nach dem Dörfli anzutreten und dort Quartier zu nehmen. Der Großvater packte die Kuchenſchachtel, die große Wurſt und das Tuch unter ſeinen Arm, der Herr Doktor nahm das Heidi an die Hand, und ſo wanderten ſie den Berg hinunter bis zur Geißenpeter-Hütte. Hier mußte das Heidi Abſchied nehmen. Es ſollte drinnen bei der Großmutter warten, bis es wieder abgeholt würde vom Großvater, welcher ſeinen Gaſt nach dem Dörfli hinunter geleiten wollte. Als der Herr Doktor dem Heidi die Hand zum Abſchied bot, fragte es: „Wollen Sie etwa gern morgen mit den Geißen auf die Weide hinaufgehen?“, denn das war das Schönſte, was es kannte. „Es bleibt dabei, Heidi“, erwiderte er, „wir gehen zuſammen.“ Nun gingen die Männer weiter, und das Heidi trat bei der Großmutter ein. Erſt ſchleppte es mit Anſtrengung die Kuchenſchachtel mit, dann mußte es wieder hinaus, um die Wurſt zu holen, denn der Großvater hatte alles vor der Tür niedergelegt. Nachher mußte es erſt noch einmal hinaus, das große Tuch zu holen. Es brachte alles ſo nahe an die Großmutter heran als nur möglich, damit ſie recht alles berühren könne und wiſſe, was es ſei. Das Tuch legte es ihr auf die Knie. „Es iſt alles aus Frankfurt, von der Klara und der Großmama“, berichtete es der hocherſtaunten Großmutter und der verwunderten Brigitte, der die Überraſchung ſo in die Glieder gefahren war, daß ſie unbeweglich zugeſchaut hatte, wie das Heidi mit der größten Anſtrengung die ſchweren Gegenſtände hereingeſchleppt und nun alles vor ihren Augen ausgebreitet hatte. „Aber gelt, Großmutter, die Kuchen freuen dich furchtbar ſtark? Sieh nur, wie weich ſie ſind!“ rief das Heidi immer wieder, und die Großmutter beſtätigte: „Ja, ja, gewiß, Heidi, was ſind das auch für gute Leute!“ Dann ſtrich ſie wieder mit der Hand über das warme, weiche Tuch und ſagte: „Aber das iſt etwas Herrliches für den kalten Winter! Das iſt etwas ſo Prächtiges, daß ich nie geglaubt hätte, ich könnte in meinem Leben dazu kommen.“ Das Heidi aber mußte ſich ſehr verwundern, daß die Großmutter an dem grauen Tuch noch mehr Freude haben konnte als an den Kuchen. Die Brigitte ſtand immer noch vor der Wurſt, die auf dem Tiſche lag, und ſchaute ſie faſt mit Verehrung an. In ihrem ganzen Leben hatte ſie nie eine ſolche Rieſenwurſt geſehen, und dieſe ſollte ſie nun ſelbſt beſitzen und einmal ſogar anſchneiden; das kam ihr unglaublich vor. Sie ſchüttelte den Kopf und ſagte zaghaft: „Man wird doch noch den Öhi fragen müſſen, wie das gemeint ſei.“ Aber das Heidi ſagte ganz ohne Zweifel: „Das iſt zum Eſſen gemeint und gar nicht anders.“ Jetzt kam der Peter hereingeſtolpert: „Der Almöhi kommt hinter mir drein, das Heidi ſoll...“; er konnte nicht mehr weiter. Seine Blicke waren auf den Tiſch gefallen, wo die Wurſt lag, und der Anblick hatte ihn ſo überwältigt, daß er kein Wort mehr fand. Aber das Heidi hatte ſchon gemerkt, was kommen ſollte, und gab ſchnell der Großmutter die Hand. Der Almöhi ging zwar jetzt nie mehr an der Hütte vorbei, ohne ſchnell hereinzutreten und die Großmutter zu grüßen, und ſie freute ſich auch immer, wenn ſie ſeinen Schritt hörte, denn er hatte jedesmal ein ermunterndes Wort für ſie; aber heute war es ſpät geworden für das Heidi, das alle Morgen mit der Sonne draußen war. Der Großvater aber ſagte: „Das Kind muß ſeinen Schlaf haben“, und dabei blieb er. So rief er durch die offene Tür der Großmutter nur eine gute Nacht zu und nahm das heranſpringende Heidi bei der Hand, und unter dem flimmernden Sternenhimmel hin wanderten die beiden ihrer friedlichen Hütte zu. 3. Eine Vergeltung Am anderen Morgen in der Frühe ſtieg der Herr Doktor vom Dörfli den Berg hinan in der Geſellſchaft des Peter und ſeiner Geißen. Der freundliche Herr verſuchte ein paarmal mit dem Geißbuben ein Geſpräch anzuknüpfen, aber es gelang ihm nicht, kaum daß er als Antwort auf einleitende Fragen unbeſtimmte, einſilbige Worte zu hören bekam. Der Peter ließ ſich nicht ſo leicht in ein Geſpräch ein. So wanderte die ganze ſchweigende Geſellſchaft bis hinauf zur Almhütte, wo ſchon erwartend das Heidi ſtand mit ſeinen beiden Geißen, alle drei munter und fröhlich wie der frühe Sonnenſchein auf allen Höhen. „Kommſt mit?“ fragte der Peter, denn als Frage oder als Aufforderung ſprach er jeden Morgen dieſen Gedanken aus. „Freilich, natürlich, wenn der Herr Doktor mitkommt“, gab das Heidi zurück. Der Peter ſah den Herrn ein wenig von der Seite an. Jetzt trat der Großvater hinzu, das Mittagsbrotſäckchen in der Hand. Erſt grüßte er den Herrn mit aller Ehrerbietung, dann trat er zum Peter hin und hing ihm das Säckchen um. Es war ſchwerer als ſonſt, denn der Öhi hatte ein ſchönes Stück von dem rötlichen Fleiſche hineingelegt. Er hatte gedacht, vielleicht gefalle es dem Herrn droben auf der Weide und er nehme dann gern ſein Mittagsmahl gleich dort mit den Kindern ein. Der Peter lächelte faſt von einem Ohr bis zum andern, denn er ahnte, daß da drinnen etwas Ungewöhnliches verſteckt ſei. Nun wurde die Bergfahrt angetreten. Das Heidi wurde ganz von ſeinen Geißen umringt, jede wollte zunächſt bei ihm ſein, und eine ſchob die andere immer ein wenig ſeitwärts. So wurde es eine Zeitlang mitten in dem Rudel mit fortgeſchoben. Aber jetzt ſtand es ſtill und ſagte ermahnend: „Nun müßt ihr artig vorauslaufen, aber dann nicht immer wiederkommen und mich drängen und ſtoßen. Ich muß jetzt ein wenig mit dem Herrn Doktor gehen.“ Dann klopfte es dem Schneehöppli, das ſich immer am nächſten zu ihm hielt, zärtlich auf den Rücken und ermahnte es noch beſonders, nun recht folgſam zu ſein. Dann arbeitete es ſich aus dem Rudel heraus und ging nun neben dem Herrn Doktor her, der es gleich bei der Hand faßte und feſthielt. Er mußte jetzt nicht mit Mühe nach einem Geſpräch ſuchen wie vorher, denn das Heidi fing gleich an und hatte ihm ſo viel zu erzählen von den Geißen und ihren merkwürdigen Einfällen und von den Blumen oben und den Felſen und Vögeln, daß die Zeit unvermerkt dahinging und ſie ganz unerwartet oben auf der Weide anlangten. Der Peter hatte im Hinaufgehen öfters ſeitwärts auf den Herrn Doktor Blicke geworfen, die dieſem einen rechten Schrecken hätten beibringen können; er ſah ſie aber glücklicherweiſe nicht. Oben angelangt, führte das Heidi ſeinen guten Freund gleich auf die ſchönſte Stelle, wohin es immer ging und ſich auf den Boden ſetzte und umherſchaute, denn da gefiel es ihm am beſten. Es tat, wie es gewohnt war, und der Herr Doktor ließ ſich gleich auch neben Heidi auf den ſonnigen Weideboden nieder. Ringsum leuchtete der goldene Herbſttag über die Höhen und das weite grüne Tal. Von den unteren Alpen tönten überall die Herdenglocken herauf, ſo lieblich und wohltuend, als ob ſie weit und breit den Frieden einläuteten. Auf dem großen Schneefelde drüben blitzten funkelnd und flimmernd goldene Sonnenſtrahlen hin und her, und der graue Falknis hob ſeine Felſentürme in alter Majeſtät hoch in den dunkelblauen Himmel hinauf. Der Morgenwind wehte leiſe und wonnig über die Alp und bewegte nur ſachte die letzten blauen Glockenblümchen, die noch übriggeblieben waren von der großen Schar des Sommers und nun noch wohlig ihre Köpfchen im warmen Sonnenſcheine wiegten. Obenhin flog der große Raubvogel in weiten Bogen umher, aber er krächzte heute nicht. Mit ausgebreiteten Flügeln ſchwamm er ruhig durch die Bläue und ließ ſich's wohl ſein. Das Heidi guckte dahin und dorthin. Die luſtig nickenden Blumen, der blaue Himmel, der fröhliche Sonnenſchein, der vergnügte Vogel in den Lüften, alles war ſo ſchön, ſo ſchön! Heidis Augen funkelten vor Wonne. Nun ſchaute es nach ſeinem Freunde, ob er auch alles recht ſehe, was ſo ſchön war. Der Herr Doktor hatte bis jetzt ſtill und gedankenvoll um ſich geblickt. Wie er nun den freudeglänzenden Augen des Kindes begegnete, ſagte er: „Ja, Heidi, es könnte ſchön ſein hier, aber was meinſt du? Wenn einer ein trauriges Herz hierher brächte, wie müßte er es wohl machen, daß er an all dem Schönen ſich freuen könnte?“ „Oh, oh!“ rief das Heidi ganz fröhlich aus. „Hier hat man gar nie ein trauriges Herz, nur in Frankfurt.“ Der Herr Doktor lächelte ein wenig, aber das ging ſchnell vorüber. Dann ſagte er wieder: „Und wenn einer käme und alles Traurige aus Frankfurt mit hier heraufbrächte, Heidi; weißt du da auch noch etwas, das ihm helfen könnte?“ „Man muß nur alles dem lieben Gott ſagen, wenn man gar nicht mehr weiß, was machen“, ſagte das Heidi ganz zuverſichtlich. „Ja, das iſt ſchon ein guter Gedanke, Kind“, bemerkte der Herr Doktor. „Wenn es aber von ihm ſelbſt kommt, was ſo ganz traurig und elend macht, was kann man da dem lieben Gott ſagen?“ Das Heidi mußte nachdenken, was dann zu machen ſei; es war aber ganz zuverſichtlich, daß man für alle Traurigkeit eine Hilfe vom lieben Gott erhalten könne. Es ſuchte ſeine Antwort in ſeinen eigenen Erlebniſſen. „Dann muß man warten“, ſagte es nach einer Weile mit Sicherheit, „und nur immer denken: jetzt weiß der liebe Gott ſchon etwas Freudiges, das dann nachher aus dem anderen kommt, man muß nur noch ein wenig ſtill ſein und nicht fortlaufen. Dann kommt auf einmal alles ſo, daß man ganz gut ſehen kann, der liebe Gott hatte die ganze Zeit nur etwas Gutes im Sinn gehabt; aber weil man das vorher noch nicht ſo ſehen kann, ſondern immer nur das furchtbar Traurige, ſo denkt man, es bleibe dann immer ſo.“ „Das iſt ein ſchöner Glaube, den mußt du feſthalten, Heidi“, ſagte der Herr Doktor. Eine Weile ſchaute er ſchweigend auf die mächtigen Felſenberge hinüber und in das ſonnenleuchtende grüne Tal hinab, dann ſagte er wieder: „Siehſt du, Heidi, es könnte einer hier ſitzen, der einen großen Schatten auf den Augen hätte, ſo daß er das Schöne gar nicht aufnehmen könnte, das ihn hier umgibt. Dann möchte doch wohl das Herz traurig werden hier, doppelt traurig, wo es ſo ſchön ſein könnte. Kannſt du das verſtehen?“ Jetzt ſchoß dem Heidi etwas Schmerzliches in ſein frohes Herz. Der große Schatten auf den Augen brachte ihm die Großmutter in Erinnerung, die ja nie mehr die helle Sonne und all das Schöne hier oben ſehen konnte. Das war ein Leid in Heidis Herzen, das immer neu erwachte, ſobald die Sache ihm wieder ins Bewußtſein kam. Es ſchwieg eine Weile ganz ſtill, denn das Weh hatte es ſo mitten in die Freude hineingetroffen. Dann ſagte es ernſthaft: „Ja, das kann ich ſchon verſtehen. Aber ich weiß etwas: Dann muß man die Lieder der Großmutter ſagen, die machen einem wieder ein wenig helle und manchmal ſo hell, daß man ganz fröhlich wird. Das hat die Großmutter geſagt.“ „Welche Lieder, Heidi?“ fragte der Herr Doktor. „Ich kann nur das von der Sonne und dem ſchönen Garten und noch von dem andern langen die Verſe, die der Großmutter lieb ſind, denn die muß ich immer dreimal leſen“, erwiderte das Heidi. „So ſag mir einmal dieſe Verſe, die möchte ich auch hören“, und der Herr Doktor ſetzte ſich zurecht, um aufmerkſam zuzuhören. Heidi legte ſeine Hände ineinander und beſann ſich noch ein Weilchen: „Soll ich dort anfangen, wo die Großmutter ſagt, daß einem wieder eine Zuverſicht ins Herz kommt?“ Der Herr Doktor nickte bejahend. Jetzt begann Heidi: „Ihn, ihn laß tun und walten, // Er iſt ein weiſer Fürſt // Und wird es ſo geſtalten, // Daß du dich wundern wirſt, // Wenn er, wie ihm gebühret, // Mit wunderbarem Rat // Das Werk hinausgeführet, // Das dich bekümmert hat. Er wird zwar eine Weile // Mit ſeinem Troſt verziehn // Und tun an ſeinem Teile, // Als hätt' in ſeinem Sinn // Er deiner ſich begeben, // Als ſollt'ſt du für und für // In Angſt und Nöten ſchweben, // Als fragt' er nichts nach dir. Wird's aber ſich begeben, // Daß du ihm treu verbleibſt, // So wird er dich erheben, // Da du's am mind'ſten gläubſt. // Er wird dein Herz erlöſen // Von der ſo ſchweren Laſt, // Die du zu keinem Böſen // Bisher getragen haſt.“ Heidi hielt plötzlich inne, es war nicht ſicher, daß der Herr Doktor auch noch zuhöre. Er hatte die Hand über ſeine Augen gebreitet und ſaß unbeweglich da. Es dachte, er ſei vielleicht ein wenig eingeſchlafen; wenn er dann wieder erwachte und noch mehr Verſe hören wollte, würde er es ſchon ſagen. Jetzt war alles ſtill. Der Herr Doktor ſagte nichts, aber er ſchlief doch nicht. Er war in eine längſt vergangene Zeit zurückverſetzt. Da ſtand er als ein kleiner Junge neben dem Seſſel ſeiner lieben Mutter; die hatte ihren Arm um ſeinen Hals gelegt und ſagte ihm das Lied vor, das er eben von Heidi hörte und das er ſo lange nicht mehr vernommen hatte. Jetzt hörte er die Stimme ſeiner Mutter wieder und ſah ihre guten Augen ſo liebevoll auf ihm ruhen, und als die Worte des Liedes verklungen waren, hörte er die freundliche Stimme noch andere Worte zu ihm ſprechen. Die mußte er gern hören und ihnen weit nachgehen in ſeinen Gedanken, denn noch lange Zeit ſaß er ſo da, das Geſicht in ſeine Hand gelegt, ſchweigend und regungslos. Als er ſich endlich aufrichtete, ſah er, wie das Heidi in Verwunderung nach ihm blickte. Er nahm die Hand des Kindes in die ſeinige. „Heidi, dein Lied war ſchön“, ſagte er, und ſeine Stimme klang froher, als ſie bis jetzt geklungen hatte. „Wir wollen wieder hierherkommen, dann ſagſt du mir's noch einmal.“ Während dieſer ganzen Zeit hatte der Peter genug zu tun gehabt, ſeinem Ärger Luft zu machen. Da war das Heidi ſeit vielen Tagen nicht mit auf der Weide geweſen, und nun, da es endlich einmal wieder mit war, ſaß der alte Herr die ganze Zeit neben ihm, und der Peter konnte gar nicht an das Heidi herankommen. Das verdroß ihn ſehr ſtark. Er ſtellte ſich in einiger Entfernung hinter dem ahnungsloſen Herrn auf, ſo daß dieſer ihn nicht ſehen konnte, und hier machte er erſt eine große Fauſt und ſchwang ſie drohend in der Luft herum, und nach einiger Zeit machte er zwei Fäuſte, und je länger das Heidi neben dem Herrn ſitzen blieb, je ſchrecklicher ballte der Peter ſeine Fäuſte und ſtreckte ſie immer höher und drohender in die Luft hinauf hinter dem Rücken des Bedrohten. Unterdeſſen war die Sonne dahin gekommen, wo ſie ſteht, wenn man zu Mittag eſſen muß; das kannte der Peter genau. Auf einmal ſchrie er aus allen Kräften zu den zweien hinüber: „Man muß eſſen!“ Heidi ſtand auf und wollte den Sack herbeiholen, damit der Herr Doktor auf dem Platze, wo er ſaß, ſein Mittagsmahl abhalten könne. Aber er ſagte, er habe keinen Hunger, er wünſche nur ein Glas Milch zu trinken, dann wolle er gern noch ein wenig auf der Alp umhergehen und etwas weiter hinaufſteigen. Da fand das Heidi, dann habe es auch keinen Hunger und wolle auch nur Milch trinken, und nachher wolle es den Herrn Doktor hinaufführen zu den großen, moosbedeckten Steinen hoch oben, wo der Diſtelfink einmal faſt hinuntergeſprungen wäre und wo alle die würzigen Kräutlein wuchſen. Es lief zum Peter hinüber und erklärte ihm alles und daß er nun erſt eine Schale Milch vom Schwänli nehmen müſſe für den Herrn Doktor und dann noch eine, die wolle es für ſich haben. Der Peter ſchaute erſt eine Weile ſehr erſtaunt das Heidi an, dann fragte er: „Wer muß haben, was im Sack iſt?“ „Das kannſt du haben, aber zuerſt mußt du die Milch geben, und hurtig“, war Heidis Antwort. So raſch hatte der Peter in ſeinem Leben noch keine Tat vollendet, als er nun dieſe fertigbrachte, denn er ſah immer den Sack vor ſich und wußte noch nicht, wie das ausſah, was drinnen war und ihm gehörte. Sobald drüben die beiden ruhig ihre Milch tranken, öffnete der Peter den Sack und tat einen Blick hinein. Als er das wundervolle Stück Fleiſch gewahr wurde, da ſchüttelte es den ganzen Peter vor Freude, und er tat noch einen Blick hinein, um ſich zu verſichern, daß es auch wahr ſei. Dann fuhr er mit der Hand in den Sack hinein, um die erwünſchte Gabe zum Genuß herauszuholen. Aber auf einmal zog er die Hand wieder zurück, als ob er nicht zugreifen dürfe. Es war dem Peter in den Sinn gekommen, wie er dort hinter dem Herrn geſtanden und gegen ihn gefauſtet hatte, und nun ſchenkte ihm derſelbe Herr ſein ganzes unvergleichliches Mittagseſſen. Jetzt reute den Peter ſeine Tat, denn es war ihm gerade ſo, wie wenn ſie ihn verhinderte, ſein ſchönes Geſchenk herauszunehmen und ſich daran zu erlaben. Auf einmal ſprang er in die Höhe und lief zurück auf die Stelle hin, wo er geſtanden hatte. Da ſtreckte er ſeine beiden Hände ganz flach in die Luft hinauf, zum Zeichen, daß das Fauſten nicht mehr gelte, und ſo blieb er eine gute Weile ſtehen, bis er das Gefühl hatte, die Sache ſei nun wieder ausgeglichen. Dann kam er in großen Sprüngen zu dem Sack zurück, und nun, da das gute Gewiſſen hergeſtellt war, konnte er mit vollem Vergnügen in ſein ungewöhnlich leckeres Mittagsmahl beißen. Der Herr Doktor und das Heidi waren lange miteinander herumgewandert und hatten ſich ſehr gut unterhalten. Jetzt aber fand der Herr, es ſei Zeit für ihn zurückzukehren, und meinte, das Kind wolle nun auch gern noch ein wenig bei ſeinen Geißen bleiben. Aber das kam dem Heidi nicht in den Sinn, denn dann mußte ja der Herr Doktor mutterſeelenallein die ganze Alp hinuntergehen. Bis zur Hütte vom Großvater wollte es ihn durchaus begleiten und auch noch ein Stück darüber hinaus. Es ging immer Hand in Hand mit ſeinem guten Freunde und hatte auf dem ganzen Wege ihm noch genug zu erzählen und ihm alle Stellen zu zeigen, wo die Geißen am liebſten weideten und wo es im Sommer am meiſten von den glänzenden gelben Weideröschen und vom roten Tauſendgüldenkraut und noch anderen Blumen gebe. Die wußte es nun alle zu benennen, denn der Großvater hatte ihm den Sommer durch alle ihre Namen beigebracht, ſo, wie er ſie kannte. Aber zuletzt ſagte der Herr Doktor, nun müſſe es zurückkehren. Sie nahmen Abſchied, und der Herr ging den Berg hinunter, doch kehrte er ſich von Zeit zu Zeit noch einmal um. Dann ſah er, wie das Heidi immer noch auf derſelben Stelle ſtand und ihm nachſchaute und mit der Hand ihm nachwinkte. So hatte ſein eigenes, liebes Töchterchen getan, wenn er von Hauſe fortging. Es war ein klarer, ſonniger Herbſtmonat. Jeden Morgen kam der Herr Doktor zur Alp herauf, und dann ging es gleich weiter auf eine ſchöne Wanderung. öfters zog er mit dem Almöhi aus, hoch in die Felſenberge hinauf, wo die alten Wettertannen herunternickten und der große Vogel in der Nähe hauſen mußte, denn da ſchwirrte er manchmal ſauſend und krächzend ganz nahe an den Köpfen der beiden Männer vorbei. Der Herr Doktor hatte ein großes Wohlgefallen an der Unterhaltung ſeines Begleiters, und er mußte ſich immer mehr verwundern, wie gut der Öhi alle Kräutlein ringsherum auf ſeiner Alp kannte und wußte, wozu ſie gut waren, und wieviel koſtbare und gute Dinge er da droben überall herauszufinden wußte; ſo in den harzigen Tannen und in den dunklen Fichtenbäumen mit den duftenden Nadeln, in dem gekräuſelten Moos, das zwiſchen den alten Baumwurzeln emporſproß, und in all den feinen Pflänzchen und unſcheinbaren Blümchen, die noch ganz hoch oben dem kräftigen Alpenboden entſprangen. Ebenſo genau kannte der Alte auch das Weſen und Treiben aller Tiere da oben, der großen und der kleinen, und er wußte dem Herrn Doktor ganz luſtige Dinge von der Lebensweiſe dieſer Bewohner der Felſenlöcher, der Erdhöhlen und auch der hohen Tannenwipfel zu erzählen. Dem Herrn Doktor verging die Zeit auf dieſen Wanderungen, er wußte gar nicht, wie, und oftmals, wenn er am Abend dem Öhi herzlich die Hand zum Abſchiede ſchüttelte, mußte er von neuem ſagen: „Guter Freund, von Ihnen gehe ich nie fort, ohne wieder etwas gelernt zu haben.“ An vielen Tagen aber, und gewöhnlich an den allerſchönſten, wünſchte der Herr Doktor mit dem Heidi auszuziehen. Dann ſaßen die beiden öfter miteinander auf dem ſchönen Vorſprunge der Alp, wo ſie am erſten Tage geſeſſen hatten, und das Heidi mußte wieder ſeine Liederverſe ſagen und dem Herrn Doktor erzählen, was es nur wußte. Dann ſaß der Peter öfter hinter ihnen an ſeinem Platze, aber er war jetzt ganz zahm und fauſtete nie mehr. So ging der ſchöne Septembermonat zu Ende. Da kam der Herr Doktor eines Morgens und ſah nicht ſo fröhlich aus, wie er ſonſt immer ausgeſehen hatte. Er ſagte, es ſei ſein letzter Tag, er müſſe nach Frankfurt zurückkehren; das mache ihm große Mühe, denn er habe die Alp ſo liebgewonnen, als wäre ſie ſeine Heimat. Dem Almöhi tat die Nachricht ſehr leid, denn auch er hatte ſich überaus gern mit dem Herrn Doktor unterhalten, und das Heidi hatte ſich ſo daran gewöhnt, alle Tage ſeinen liebevollen Freund zu ſehen, daß es gar nicht begreifen konnte, wie das nun mit einem Male ein Ende nehmen ſollte. Es ſchaute fragend und ganz verwundert zu ihm auf. Aber es war wirklich ſo. Der Herr Doktor nahm Abſchied vom Großvater und fragte dann, ob das Heidi ihn noch ein wenig begleiten werde. Es ging an ſeiner Hand den Berg hinunter, aber es konnte immer noch nicht recht faſſen, daß er ganz fortgehe. Nach einer Welle ſtand der Herr Doktor ſtill und ſagte, nun ſei das Heidi weit genug gekommen, es müſſe zurückkehren. Er fuhr ein paarmal zärtlich mit ſeiner Hand über das krauſe Haar des Kindes hin und ſagte: „Nun muß ich fort, Heidi! Wenn ich dich nur mit mir nach Frankfurt nehmen und bei mir behalten könnte!“ Dem Heidi ſtand auf einmal ganz Frankfurt vor den Augen, die vielen, vielen Häuſer und ſteinernen Straßen und auch Fräulein Rottenmeier und die Tinette, und es antwortete ein wenig zaghaft: „Ich wollte doch lieber, daß Sie wieder zu uns kämen.“ „Nun ja, ſo wird's beſſer ſein. So leb wohl, Heidi“, ſagte freundlich der Herr Doktor und hielt ihm die Hand hin. Das Kind legte die ſeinige hinein und ſchaute zu dem Scheidenden auf. Die guten Augen, die zu ihm niederblickten, füllten ſich mit Waſſer. Jetzt wandte ſich der Herr Doktor raſch und eilte den Berg hinunter. Das Heidi blieb ſtehen und rührte ſich nicht. Die liebevollen Augen und das Waſſer, das es darinnen geſehen hatte, arbeiteten ſtark in ſeinem Herzen. Auf einmal brach es in ein lautes Weinen aus, und mit aller Macht ſtürzte es dem Forteilenden nach und rief, von Schluchzen unterbrochen, aus allen Kräften: „Herr Doktor! Herr Doktor!“ Er kehrte um und ſtand ſtill. Jetzt hatte ihn das Kind erreicht. Die Tränen ſtrömten ihm die Wangen herunter, während es herausſchluchzte: „Ich will gewiß auf der Stelle mit nach Frankfurt kommen und will bei Ihnen bleiben, ſo lang Sie wollen, ich muß es nur noch geſchwind dem Großvater ſagen.“ Der Herr Doktor ſtreichelte beruhigend das erregte Kind. „Nein, mein liebes Heidi“, ſagte er mit dem freundlichſten Tone, „nicht jetzt auf der Stelle; du mußt noch unter den Tannen bleiben, du könnteſt mir wieder krank werden. Aber komm, ich will dich etwas fragen: Wenn ich einmal krank und allein bin, willſt du dann zu mir kommen und bei mir bleiben? Kann ich denken, daß ſich dann noch jemand um mich kümmern und mich liebhaben will?“ „Ja, ja, dann will ich ſicher kommen, noch am gleichen Tag, und Sie ſind mir auch faſt ſo lieb wie der Großvater“, verſicherte das Heidi noch unter fortwährendem Schluchzen. Jetzt drückte ihm der Herr Doktor noch einmal die Hand, dann ſetzte er raſch ſeinen Weg fort. Das Heidi aber blieb auf derſelben Stelle ſtehen und winkte fort und fort mit ſeiner Hand, ſolange es nur noch ein Pünktchen von dem forteilenden Herrn entdecken konnte. Als dieſer zum letztenmal ſich umwandte und nach dem winkenden Heidi und der ſonnigen Alp zurückſchaute, ſagte er leiſe vor ſich hin: „Dort oben iſt's gut ſein, da können Leib und Seele geſunden, und man wird wieder ſeines Lebens froh.“ 4. Der Winter im Dörfli Um die Almhütte lag der Schnee ſo hoch, daß es anzuſehen war, als ſtänden die Fenſter auf dem flachen Boden, denn weiter unten war von der ganzen Hütte gar nichts zu ſehen, auch die Haustür war völlig verſchwunden. Wäre der Almöhi noch oben geweſen, ſo hätte er dasſelbe tun müſſen, was der Peter täglich ausführen mußte, weil es gewöhnlich über Nacht wieder geſchneit hatte. Jeden Morgen mußte dieſer jetzt aus dem Fenſter der Stube hinausſpringen, und war es nicht ſehr kalt, ſo daß über Nacht alles zuſammengefroren war, ſo verſank er dann ſo tief in dem weichen Schnee, daß er mit Händen und Füßen und mit dem Kopf auf alle Seiten ſtoßen und werfen und ausſchlagen mußte, bis er ſich wieder herausgearbeitet hatte. Dann bot ihm die Mutter den großen Beſen aus dem Fenſter, und mit dieſem ſtieß und ſcharrte der Peter nun den Schnee vor ſich weg, bis er zur Tür kam. Dort hatte er dann eine große Arbeit, denn da mußte aller Schnee abgegraben werden, ſonſt fiel entweder, wenn er noch weich war und die Tür aufging, die ganze große Maſſe in die Küche hinein, oder er fror zu, und nun war man ganz vermauert drinnen, denn durch dieſen Eisfelſen konnte man nicht dringen, und durch das kleine Fenſter konnte nur der Peter hinausſchlüpfen. Für dieſen brachte dann die Zeit des Gefrierens viele Bequemlichkeiten mit ſich. Wenn er ins Dörfli hinunter mußte, öffnete er nur das Fenſter, kroch durch und kam draußen zu ebener Erde auf dem feſten Schneefelde an. Dann ſchob ihm die Mutter den kleinen Schlitten durch das Fenſter nach, und der Peter hatte ſich nur daraufzuſetzen und abzufahren, wie und wo er wollte, er kam jedenfalls hinunter, denn die ganze Alm um und um war dann nur ein großer, ununterbrochener Schlittweg. Der Öhi war nicht auf der Alm den Winter; er hatte Wort gehalten. Sobald der erſte Schnee gefallen war, hatte er Hütte und Stall abgeſchloſſen und war mit dem Heidi und den Geißen nach dem Dörfli hinuntergezogen. Dort ſtand in der Nähe der Kirche und des Pfarrhauſes ein weitläufiges Gemäuer, das war in alter Zeit ein großes Herrenhaus geweſen, was man noch an vielen Stellen ſehen konnte, obſchon jetzt das Gebäude überall ganz oder halb zerfallen war. Da hatte einmal ein tapferer Kriegsmann gewohnt; der war in ſpaniſche Dienſte gegangen und hatte da viele tapfere Taten verrichtet und viele Reichtümer erbeutet. Dann war er heimgekommen nach dem Dörfli und hatte aus ſeiner Beute ein prächtiges Haus errichtet; darinnen wollte er nun wohnen. Aber es ging gar nicht lange, ſo konnte er es in dem ſtillen Dörfli nicht mehr aushalten vor Langweile, denn er hatte zu lange draußen in der lärmvollen Welt gelebt. Er zog wieder hinaus und kam gar niemals mehr zurück. Als man nach vielen, vielen Jahren ſicher wußte, daß er tot war, übernahm ein ferner Verwandter unten im Tal das Haus, aber es war ſchon am Verfallen, und der neue Beſitzer wollte es nicht mehr aufbauen. So zogen arme Leute in das Haus, die wenig dafür bezahlen mußten, und wenn ein Stück abfiel von dem Gebäude, ſo ließ man es liegen. Seit jener Zeit waren nun wieder viele Jahre darübergegangen. Schon als der Öhi mit ſeinem jungen Buben Tobias hergekommen war, hatte er das verfallene Haus bezogen und darin gelebt. Seither hatte es meiſtens leer geſtanden, denn wer nicht verſtand, vorweg dem Verfalle ein wenig zu begegnen und die Löcher und Lücken, wo ſie entſtanden, gleich irgendwie zu ſtopfen und zu flicken, der konnte da nicht bleiben. Der Winter droben im Dörfli war lang und kalt. Dann blies und wehte es von allen Seiten durch die Räume, daß die Lichter auslöſchten und die armen Leute vom Froſt geſchüttelt wurden. Aber der Öhi wußte ſich zu helfen. Gleich nachdem er zu dem Entſchluß gekommen war, den Winter im Dörfli zuzubringen, hatte er das alte Haus wieder übernommen und war den Herbſt durch öfter heruntergekommen, um darin alles ſo herzurichten, wie es ihm gefiel. Um die Mitte des Oktobermonats war er dann mit dem Heidi heruntergezogen. Kam man von hinten an das Haus heran, ſo trat man gleich in einen offenen Raum ein, da war auf einer Seite die ganze Wand und auf der anderen die halbe eingefallen. Über dieſer war noch ein Bogenfenſter zu ſehen, aber das Glas war längſt weg daraus, und dicker Efeu rankte ſich darum und hoch hinauf bis zur Decke, die noch zur Hälfte feſt war. Die war ſchön gewölbt, und man konnte gut ſehen, das war die Kapelle geweſen. Ohne Tür kam man weiter in eine große Halle hinein, da waren hier und da noch ſchöne Steinplatten auf dem Boden, und zwiſchendurch wuchs das Gras dicht empor. Da waren die Mauern auch alle halb weg und große Stücke der Decke dazu, und hätten da nicht ein paar dicke Säulen noch ein feſtes Stück der Decke getragen, ſo hätte man denken müſſen, dieſe könne jeden Augenblick auf die Köpfe derer niederfallen, die darunter ſtanden. Hier hatte der Öhi einen Bretterverſchlag ringsum gemacht und den Boden dick mit Streu belegt, denn hier in der alten Halle ſollten die Geißen logieren. Dann ging es durch allerlei Gänge, immer halb offen, daß einmal der Himmel hereinguckte und einmal wieder die Wieſe und der Weg draußen. Aber zuvörderſt, wo die ſchwere, eichene Tür noch feſt in den Angeln hing, kam man in eine große, weite Stube hinein, die war noch gut. Da waren noch die vier feſten Wände mit dem dunkeln Holzgetäfel ohne Lücken, und in der einen Ecke ſtand ein ungeheurer Ofen, der ging faſt bis an die Decke hinauf, und auf die weißen Kacheln waren große, blaue Bilder hingemalt. Da waren alte Türme darauf, mit hohen Bäumen ringsum, und unter den Bäumen ging ein Jäger dahin mit ſeinen Hunden. Dann war wieder ein ſtiller See unter weitſchattigen Eichen, und ein Fiſcher ſtand daran und hielt ſeine Rute weit in das Waſſer hinaus. Um den ganzen Ofen herum ging eine Bank, ſo daß man da gleich hinſetzen und die Bilder ſtudieren konnte. Hier gefiel es dem Heidi ſogleich. Sowie es mit dem Großvater in die Stube eingetreten war, lief es auf den Ofen zu, ſetzte ſich auf die Bank und fing an die Bilder zu betrachten. Aber wie es, auf der Bank weiter gleitend, bis hinter den Ofen gelangte, nahm eine neue Erſcheinung ſeine ganze Aufmerkſamkeit in Beſchlag: In dem ziemlich großen Raume zwiſchen dem Ofen und der Wand waren vier Bretter aufgeſtellt, ſo wie zu einem Apfelbehälter. Darinnen lagen aber nicht Äpfel, da lag unverkennbar Heidis Bett, ganz ſo, wie es oben auf der Alm geweſen war: ein hohes Heulager mit dem Leintuch und dem Sack als Decke darauf. Das Heidi jauchzte auf: „Oh, Großvater, da iſt meine Kammer, o wie ſchön! Aber wo mußt du ſchlafen?“ „Deine Kammer muß nahe beim Ofen ſein, damit du nicht frierſt“, ſagte der Großvater, „die meine kannſt du auch ſehen.“ Das Heidi hüpfte durch die weite Stube dem Großvater nach, der auf der anderen Seite eine Tür aufmachte, die in einen kleinen Raum hineinführte, da hatte der Großvater ſein Lager errichtet. Dann kam aber wieder eine Tür. Das Heidi machte ſie geſchwind auf und ſtand ganz verwundert ſtill, denn da ſah man in eine Art von Küche hinein, die war ſo ungeheuer groß, wie es noch nie in ſeinem Leben eine geſehen hatte. Da war viel Arbeit für den Großvater geweſen, und es blieb auch noch immer viel zu tun übrig, denn da waren Löcher und weite Spalten in den Mauern auf allen Seiten, wo der Wind hereinpfiff, und doch waren ſchon ſo viele mit Holzbrettern vernagelt worden, daß es ausſah, als wären ringsum kleine Holzſchränke in der Mauer angebracht. Auch die große, uralte Tür hatte der Großvater wieder mit vielen Drähten und Nägeln feſtzumachen verſtanden, ſo daß man ſie ſchließen konnte, und das war gut, denn nachher ging es in lauter verfallenes Gemäuer hinaus, wo dickes Geſtrüpp emporwuchs und Scharen von Käfern und Eidechſen ihre Wohnungen hatten. Dem Heidi gefiel es wohl in der neuen Behauſung, und ſchon am anderen Tage, als der Peter kam, um zu ſehen, wie es in der neuen Wohnung zugehe, hatte es alle Winkel und Ecken ſo genau ausgeguckt, daß es ganz daheim war und den Peter überall herumführen konnte. Es ließ ihm auch durchaus keine Ruhe, bis er ganz gründlich alle die merkwürdigen Dinge betrachtet hatte, die der neue Wohnſitz enthielt. Das Heidi ſchlief vortrefflich in ſeinem Ofenwinkel, aber am Morgen meinte es doch immer, es ſollte auf der Alp erwachen und es müſſe gleich die Hüttentür aufmachen, um zu ſehen, ob die Tannen darum nicht rauſchten, weil der hohe, ſchwere Schnee darauf liege und die Äſte niederdrücke. So mußte es jeden Morgen zuerſt lange hin und her ſchauen, bis es ſich wieder beſinnen konnte, wo es war, und jedesmal fühlte es etwas auf ſeinem Herzen liegen, das es würgte und drückte, wenn es ſah, daß es nicht daheim ſei auf der Alp. Aber wenn es dann den Großvater reden hörte draußen mit dem Schwänli und dem Bärli und dann die Geißen ſo laut und luſtig meckerten, als wollten ſie ihm zurufen: „Mach doch, daß du einmal kommſt, Heidi“, dann merkte es, daß es doch daheim war, und ſprang fröhlich aus ſeinem Bette und dann ſo ſchnell als möglich in den großen Geißenſtall hinaus. Aber am vierten Tage ſagte das Heidi ſorglich: „Heute muß ich gewiß zur Großmutter hinauf, ſie kann nicht ſo lange allein ſein.“ Aber der Großvater war nicht einverſtanden. „Heute nicht und morgen auch noch nicht“, ſagte er. „Die Alm hinauf liegt der Schnee klaftertief, und immer noch ſchneit es fort; kaum kann der feſte Peter durchkommen. Ein Kleines wie du, Heidi, wäre auf der Stelle eingeſchneit und zugedeckt und nicht mehr zu finden. Wart noch ein wenig, bis es friert, dann kannſt du bequem über die Schneedecke hinaufſpazieren.“ Das Warten machte zuerſt dem Heidi ein wenig Kummer. Aber die Tage waren jetzt ſo angefüllt von Arbeit, daß immer einer unverſehens dahin war und ein anderer kam. Jeden Morgen und jeden Nachmittag ging das Heidi jetzt in die Schule im Dörfli und lernte ganz eifrig, was da zu lernen war. Den Peter ſah es aber faſt nie in der Schule, denn meiſtens kam er nicht. Der Lehrer war ein milder Mann, der nur dann und wann ſagte: „Es ſcheint mir, der Peter ſei wieder nicht da. Die Schule täte ihm doch gut, aber es liegt auch gar viel Schnee dort hinauf, er wird wohl nicht durchkommen.“ Aber gegen Abend, wenn die Schule aus war, kam der Peter meiſtens durch und machte ſeinen Beſuch beim Heidi. Nach einigen Tagen kam die Sonne wieder hervor und warf ihre Strahlen über den weißen Boden hin, aber ſie ging ganz früh wieder hinter die Berge hinab, ſo als gefalle es ihr lange nicht ſo gut herunterzuſchauen wie im Sommer, wenn alles grünte und blühte. Aber am Abend kam der Mond ganz hell und groß herauf und leuchtete die ganze Nacht über die weiten Schneefelder hin, und am anderen Morgen glitzerte und flimmerte die ganze Alp von oben bis unten wie ein Kriſtall. Als der Peter wie die Tage vorher aus ſeinem Fenſter in den tiefen Schnee hinabſpringen wollte, ging es ihm, wie er nicht erwartet hatte. Er nahm einen Satz hinaus, aber anſtatt ins Weiche hinab zu kommen, ſchlug es ihn auf dem unerwartet harten Boden gleich um, und unverſehens fuhr er ein gutes Stück den Berg hinunter wie ein herrenloſer Schlitten. Sehr verwundert kam er ſchließlich wieder auf ſeine Füße, und nun ſtampfte er mit aller Macht auf den Schneeboden, um ſich zu verſichern, daß auch wirklich möglich ſei, was ihm ſoeben begegnet war. Es war richtig: Wie er auch ſtampfte und einſchlug mit den Abſätzen, kaum konnte er ein kleines Eisſplitterchen herausſchlagen. Die ganze Alm war ſteinhart zugefroren. Das war dem Peter eben recht: Er wußte, daß dieſer Zuſtand der Dinge nötig war, damit das Heidi einmal wieder da heraufkommen konnte. Schleunig kehrte er um, ſchluckte ſeine Milch hinunter, welche die Mutter eben auf den Tiſch geſtellt hatte, ſteckte ſein Stücklein Brot in die Taſche und ſagte eilig: „Ich muß in die Schule.“ „Ja, ſo geh und lern auch brav“, ſagte die Mutter beiſtimmend. Der Peter kroch zum Fenſter hinaus — denn nun war man eingeſperrt um des Eisberges willen vor der Türe —, zog ſeinen kleinen Schlitten nach ſich, ſetzte ſich darauf und ſchoß den Berg hinunter. Es ging wie der Blitz, und als er beim Dörfli da ankam, wo es gleich weiter hinab gegen Maienfeld hin ging, fuhr der Peter weiter, denn es kam ihm ſo vor, als müßte er ſich und dem Schlitten Gewalt antun, wenn er auf einmal den Lauf einhalten wollte. So fuhr er zu, bis er ganz unten in der Ebene ankam und es von ſelbſt nicht mehr weiterging. Dann ſtieg er ab und ſchaute ſich um. Die Gewalt der Niederfahrt hatte ihn noch ziemlich über Maienfeld hinausgejagt. Jetzt bedachte er, daß er jedenfalls zu ſpät in die Schule käme, da ſie ſchon lange begonnen hatte, er aber zum Hinaufſteigen faſt eine Stunde brauchte. So konnte er ſich alle Zeit laſſen zur Rückkehr. Das tat er denn auch und kam gerade oben im Dörfli wieder an, als das Heidi aus der Schule zurückgekehrt war und ſich mit dem Großvater an den Mittagstiſch ſetzte. Der Peter trat herein, und da er diesmal einen beſonderen Gedanken mitzuteilen hatte, ſo lag ihm dieſer obenauf, und er mußte ihn gleich beim Eintreten loswerden. „Es hat ihn“, ſagte der Peter, mitten in der Stube ſtillſtehend. „Wen? Wen? General! Das tönt ziemlich kriegeriſch“, ſagte der Öhi. „Den Schnee“, berichtete Peter. „Oh! Oh! jetzt kann ich zur Großmutter hinauf!“ frohlockte das Heidi, das die Ausdrucksweiſe des Peter gleich verſtanden hatte. „Aber warum biſt du denn nicht in die Schule gekommen? Du konnteſt ja gut herunterſchlittern“, ſetzte es auf einmal vorwurfsvoll hinzu, denn dem Heidi kam es vor, das ſei nicht in der Ordnung, ſo draußen zu bleiben, wenn man doch gut in die Schule gehen könnte. „Bin zu weit gekommen mit dem Schlitten, war zu ſpät“, gab der Peter zurück. „Das nennt man deſertieren“, ſagte der Öhi, „und Leute, die das tun, nimmt man bei den Ohren, hörſt du?“ Der Peter riß erſchrocken an ſeiner Kappe herum, denn vor keinem Menſchen auf der Welt hatte er einen ſo großen Reſpekt wie vor dem Almöhi. „Und dazu ein Anführer, wie du einer biſt, der muß ſich doppelt ſchämen, ſo auszureißen“, fuhr der Öhi fort. „Was meinſt, wenn einmal deine Geißen eine da und die andere dort hinausliefen und ſie wollten dir nicht mehr folgen und nicht tun, was gut iſt für ſie, was würdeſt du dann machen?“ „Sie hauen“, entgegnete der Peter kundig. „Und wenn einmal ein Bub ſo täte wie eine ungebärdige Geiß und er würde ein wenig durchgehauen, was würdeſt du dann ſagen?“ „Geſchieht ihm recht“, war die Antwort. „So, jetzt weißt was, Geißenoberſt: Wenn du noch einmal auf deinem Schlitten über die Schule hinausfährſt zu einer Zeit, da du hinein ſollteſt, ſo komm dann nachher zu mir und hol dir, was dir dafür gehört.“ Jetzt verſtand der Peter den Zuſammenhang der Rede und daß er mit dem Buben gemeint ſei, der fortlaufe wie eine ungebärdige Geiß. Er war ganz getroffen von dieſer Ähnlichkeit und ſchaute ein wenig bänglich in die Winkel hinein, ob ſo etwas zu entdecken ſei, wie er es in ſolchen Fällen für die Geißen gebrauchte. Aber ermunternd ſagte nun der Öhi: „Komm an den Tiſch jetzt und halt mit, dann geht das Heidi mit dir. Am Abend bringſt du's wieder heim, dann findeſt du dein Nachteſſen hier.“ Dieſe unerwartete Wendung der Dinge war dem Peter höchſt erfreulich. Sein Geſicht verzog ſich nach allen Seiten vor Vergnügen. Er gehorchte unverzüglich und ſetzte ſich neben das Heidi hin. Das Kind aber hatte ſchon genug und konnte gar nicht mehr ſchlucken vor Freude, daß es zur Großmutter gehen ſollte. Es ſchob die große Kartoffel und den Käſebraten, die noch auf ſeinem Teller lagen, dem Peter zu, der von der anderen Seite vom Öhi den Teller voll bekommen hatte, ſo daß ein ganzer Wall vor ihm aufgerichtet ſtand, aber der Mut zum Angriff fehlte ihm nicht. Das Heidi rannte an den Schrank und holte ſein Mäntelchen von der Klara hervor. Jetzt konnte es, ganz warm eingepackt, mit der Kapuze über dem Kopf, ſeine Reiſe machen. Es ſtellte ſich nun neben den Peter hin, und ſobald dieſer ſein letztes Stück eingeſchoben hatte, ſagte es: „Jetzt komm!“ Dann machten ſie ſich auf den Weg. Das Heidi hatte dem Peter ſehr viel zu erzählen vom Schwänli und Bärli, daß ſie beide am erſten Tage in dem neuen Stall gar nicht hatten freſſen wollen und daß ſie die Köpfe hatten hängen laſſen den ganzen Tag und keinen Ton von ſich gegeben hatten. Und es habe den Großvater gefragt, warum ſie ſo tun. Dann habe er geſagt: Sie tun ſo wie es in Frankfurt, denn ſie ſeien noch nie von der Alm heruntergekommen ihr Leben lang. Und das Heidi ſetzte hinzu: „Du ſollteſt nur einmal erfahren, wie das iſt, Peter.“ Die beiden waren ſo faſt oben angekommen, ohne daß der Peter ein einziges Wort geſagt hätte, und es war auch, als ob ihn ein tiefer Gedanke beſchäftigte, daß er nicht einmal recht zuhören konnte wie ſonſt. Als ſie nun bei der Hütte angekommen waren, ſtand der Peter ſtill und ſagte ein wenig ſtörriſch: „Dann will ich noch lieber in die Schule gehen, als beim Öhi holen, was er geſagt hat.“ Das Heidi war derſelben Meinung und beſtärkte den Peter ganz eifrig in ſeinem Vorſatz. Drinnen in der Stube ſaß die Mutter allein beim Flickwerk. Sie ſagte, die Großmutter müſſe die Tage im Bett bleiben, es ſei zu kalt für ſie, und dann ſei ihr auch ſonſt nicht recht. Das war dem Heidi etwas Neues; ſonſt ſaß die Großmutter immer an ihrem Platz in der Ecke. Es rannte gleich zu ihr in die Kammer hinein. Sie lag ganz von dem grauen Tuche umwickelt in ihrem ſchmalen Bett mit der dünnen Decke. „Gott Lob und Dank!“ ſagte die Großmutter gleich, als ſie das Heidi hereinſpringen hörte. Sie hatte ſchon den ganzen Herbſt durch eine geheime Angſt im Herzen gehabt, die ſie noch immer verfolgte, beſonders wenn das Heidi eine Zeitlang nicht kam. Der Peter hatte berichtet, wie ein fremder Herr aus Frankfurt gekommen ſei und immer mit auf die Weide komme und mit dem Heidi reden wolle, und die Großmutter meinte nicht anders, als der Herr ſei gekommen, das Heidi wieder mit fortzunehmen. Wenn er auch nachher ſchon allein abreiſte, ſo ſtieg die Angſt doch immer wieder in ihr auf, es könnte irgendein Abgeſandter von Frankfurt herkommen und das Kind wieder zurückholen. Das Heidi ſprang zu dem Bett der Kranken hin und fragte ſorglich: „Biſt du ſtark krank, Großmutter?“ „Nein, nein, Kind“, beruhigte die Alte, indem ſie das Heidi liebevoll ſtreichelte, „der Froſt iſt mir nur ein wenig in die Glieder gefahren.“ „Wirſt du dann auf der Stelle geſund, wenn es wieder warm iſt?“ fragte eindringlich das Heidi weiter. „Ja, ja, will's Gott, noch vorher, daß ich wieder an mein Spinnrad kann. Ich meinte ſchon heute, ich wolle es probieren, morgen wird's dann ſchon wieder gehen“, ſagte die Großmutter in zuverſichtlicher Weiſe, denn ſie hatte ſchon gemerkt, daß das Kind erſchrocken war. Ihre Worte beruhigten das Heidi, dem es ſehr angſt geweſen war, denn krank im Bett hatte es die Großmutter noch nie getroffen. Es betrachtete ſie jetzt ein wenig verwundert, dann ſagte es: „In Frankfurt legen ſie einen Schal an zum Spazierengehen. Haſt du etwa gemeint, man müſſe ihn anlegen, wenn man ins Bett geht, Großmutter?“ „Weißt du, Heidi“, entgegnete ſie, „ich nehme den Schal ſo um im Bett, daß ich nicht friere. Ich bin ſo froh darüber, die Decke iſt ein wenig dünn.“ „Aber Großmutter“, fing das Heidi wieder an, „bei deinem Kopf geht es bergab, wo es ganz bergauf gehen ſollte; ſo muß ein Bett nicht ſein.“ „Ich weiß ſchon, Kind, ich ſpüre es auch wohl“, und die Großmutter ſuchte auf dem Kiſſen, das wie ein dünnes Brett unter ihrem Kopfe lag, einen beſſeren Platz zu gewinnen. „Siehſt du, das Kiſſen war nie beſonders dick, und jetzt habe ich ſo viele Jahre darauf geſchlafen, daß ich es ein wenig flachgelegen habe.“ „O hätt ich nur in Frankfurt die Klara gefragt, ob ich nicht mein Bett mitnehmen könne“, ſagte jetzt das Heidi. „Da hatte es drei große, dicke Kiſſen aufeinander, daß ich gar nicht ſchlafen konnte und immer weiter herunterrutſchte, bis wo es flach war, und dann mußte ich wieder hinauf, weil man dort ſo ſchlafen muß. Könnteſt du ſo ſchlafen, Großmutter?“ „Ja freilich, das macht warm, und man bekommt den Atem ſo gut, wenn man ſo hoch liegen kann mit dem Kopf“, ſagte die Großmutter, ein wenig mühſam ihren Kopf aufrichtend, ſo wie um eine höhere Stelle zu finden. „Aber wir wollen jetzt nicht von dem reden, ich habe ja dem lieben Gott für ſo vieles zu danken, was andere Alte und Kranke nicht haben. Schon das gute Brötchen, das ich immer bekomme, und das ſchöne, warme Tuch hier und daß du ſo zu mir kommſt, Heidi. Willſt du mir auch wieder etwas leſen heute?“ Das Heidi lief hinaus und holte das alte Liederbuch herbei. Nun ſuchte es ein ſchönes Lied nach dem andern, denn es kannte ſie jetzt wohl, und es freute ſich ſelbſt, das alles wieder zu hören, es hatte ja ſeit vielen Tagen die Verſe alle, die ihm lieb waren, nicht mehr gehört. Die Großmutter lag mit gefalteten Händen da, und auf ihrem Geſichte, das erſt ſo bekümmert ausgeſehen hatte, lag jetzt ein ſo freudiges Lächeln, als wäre ihr eben ein großes Glück zuteil geworden. Das Heidi hielt auf einmal inne. „Großmutter, biſt du ſchon geſund geworden?“ fragte es. „Es iſt mir wohl, Heidi, es iſt mir wohl geworden darüber. Lies es noch fertig, willſt du?“ Das Kind las ſein Lied zu Ende, und als die letzten Worte kamen: „Wird mein Auge dunkler, trüber, // Dann erleuchte meinen Geiſt, // Daß ich fröhlich zieh' hinüber, // Wie man nach der Heimat reiſt“, da wiederholte ſie die Großmutter und dann noch einmal und noch einmal, und auf ihrem Geſicht lag jetzt eine große freudige Erwartung. Dem Heidi wurde ſo wohl dabei. Der ganze ſonnige Tag ſeiner Heimkehr ſtieg vor ihm auf, und voller Freude rief es aus: „Großmutter, ich weiß ſchon, wie es iſt, wenn man nach der Heimat reiſt.“ Sie antwortete nichts, aber ſie hatte die Worte wohl vernommen, und der Ausdruck, der dem Heidi ſo wohl getan hatte, blieb auf ihrem Geſicht. Nach einer Weile ſagte das Kind wieder: „Jetzt wird's dunkel, Großmutter, ich muß heim; aber ich bin ſo froh, daß es dir jetzt wieder wohl iſt.“ Die Großmutter nahm die Hand des Kindes in die ihrige und hielt ſie feſt; dann ſagte ſie: „Ja, ich bin auch wieder ſo froh; wenn ich auch noch liegen bleiben muß, ſo iſt es mir doch wohl. Siehſt du, das weiß niemand, der es nicht erfahren hat, wie das iſt, wenn man viele, viele Tage ſo ganz allein daliegt und hört kein Wort von einem andern Menſchen und kann nichts ſehen, nicht einen einzigen Sonnenſtrahl. Dann kommen ſo ſchwere Gedanken über einen, daß man manchmal meint, es könne nie mehr Tag werden und man könne nicht mehr weiter. Aber wenn man dann einmal wieder die Worte hört, die du mir vorgeleſen haſt, ſo iſt es, wie wenn einem ein Licht davon aufgehen würde im Herzen, an dem man ſich wieder freuen kann.“ Jetzt ließ die Großmutter die Hand des Kindes los, und nachdem es ihr gute Nacht geſagt, lief es in die Stube zurück und zog den Peter eilig hinaus, denn es war unterdeſſen Nacht geworden. Aber draußen ſtand der Mond am Himmel und ſchien hell auf den weißen Schnee, daß es war, als wolle der Tag ſchon wieder angehen. Der Peter zog ſeinen Schlitten zurecht, ſetzte ſich vorn darauf, das Heidi hinter ihn, und fort ſchoſſen ſie die Alm hinunter, nicht anders, als wären ſie zwei Vögel, die durch die Lüfte ſauſen. Als ſpäter das Heidi auf ſeinem ſchönen, hohen Heubette hinter dem Ofen lag, da kam ihm die Großmutter wieder in den Sinn, wie ſie ſo ſchlecht lag mit dem Kopfe, und dann mußte es an alles denken, was ſie geſagt hatte, und an das Licht, das ihr die Worte im Herzen anzünden. Und es dachte: Wenn die Großmutter nur alle Tage die Worte hören könnte, dann würde es ihr jeden Tag einmal wohl. Aber es wußte, nun konnte eine ganze Woche, oder vielleicht auch zwei, vergehen, ehe es wieder zu ihr hinauf durfte. Das kam dem Heidi ſo traurig vor, daß es immer ſtärker nachſinnen mußte, was es nur machen könnte, daß die Großmutter die Worte jeden Tag zu hören bekäme. Auf einmal fiel ihm die Hilfe ein, und es war ſo froh darüber, daß es meinte, es könne gar nicht erwarten, daß der Morgen wiederkomme und es ſeinen Plan ausführen könne. Auf einmal ſetzte das Heidi ſich wieder ganz gerade auf in ſeinem Bett, denn vor lauter Nachdenken hatte es ja ſein Nachtgebet noch nicht zum lieben Gott hinaufgeſchickt, und das wollte es doch nie mehr vergeſſen. Als es nun ſo recht von Herzen für ſich und den Großvater und die Großmutter gebetet hatte, fiel es auf einmal in ſein weiches Heu zurück und ſchlief ganz feſt und friedlich bis zum hellen Morgen. 5. Der Winter dauert fort Am andern Tage kam der Peter gerade zur rechten Zeit in die Schule heruntergefahren. Sein Mittageſſen hatte er in ſeinem Sack mitgebracht, denn da ging es ſo zu: Wenn um Mittag die Kinder im Dörfli nach Hauſe gingen, dann ſetzten ſich die einzelnen Schüler, die weit weg wohnten, auf die Klaſſentiſche, ſtemmten die Füße feſt auf die Bänke und breiteten auf den Knien die mitgebrachten Speiſen aus, um ſo ihr Mittagsmahl zu halten. Bis um ein Uhr konnten ſie ſich daran vergnügen, dann fing die Schule wieder an. Hatte der Peter einmal einen ſolchen Schultag mitgemacht, dann ging er am Schluß zum Öhi hinüber und machte ſeinen Beſuch beim Heidi. Als er heute nach Schulſchluß in die große Stube beim Öhi eintrat, ſchoß das Heidi gleich auf ihn zu, denn gerade auf ihn hatte es gewartet. „Peter, ich weiß etwas“, rief es ihm entgegen. „Sag's“, gab er zurück. „Jetzt mußt du leſen lernen“, lautete die Nachricht. „Hab's ſchon getan“, war die Antwort. „Ja, ja, Peter, ſo mein ich nicht“, eiferte jetzt das Heidi. „Ich meine ſo, daß du es nachher kannſt. „Kann nicht“, bemerkte der Peter. „Das glaubt dir jetzt kein Menſch mehr und ich auch nicht“, ſagte das Heidi ſehr entſchieden. „Die Großmama in Frankfurt hat ſchon gewußt, daß es nicht wahr iſt, und ſie hat mir geſagt, ich ſoll es nicht glauben.“ Der Peter ſtaunte über dieſe Nachricht. „Ich will dich ſchon leſen lehren, ich weiß ganz gut, wie“, fuhr das Heidi fort. „Du mußt es jetzt einmal erlernen, und dann mußt du alle Tage der Großmutter ein Lied leſen oder zwei.“ „Das iſt nichts“, brummte der Peter. Dieſer hartnäckige Widerſtand gegen etwas, das gut und recht war und dem Heidi ſo ſehr am Herzen lag, brachte es in Aufregung. Mit blitzenden Augen ſtellte es ſich jetzt vor den Buben hin und ſagte bedrohlich: „Dann will ich dir ſchon ſagen, was kommt, wenn du nie etwas lernen willſt: Deine Mutter hat ſchon zweimal geſagt, du müſſeſt auch nach Frankfurt, daß du allerhand lerneſt, und ich weiß ſchon, wo dort die Buben in die Schule gehen. Beim Ausfahren hat mir die Klara das furchtbar große Haus gezeigt. Aber dort gehen ſie nicht nur, wenn ſie Buben ſind, ſondern immerfort, wenn ſie ſchon ganz große Herren ſind, das habe ich ſelber geſehen. Und dann mußt du nicht meinen, daß nur ein einziger Lehrer da iſt wie bei uns, und ein ſo guter. Da gehen immer ganze Reihen, viele miteinander in das Haus hinein, und alle ſehen ganz ſchwarz aus, wie wenn ſie in die Kirche gingen, und haben ſo hohe ſchwarze Hüte auf den Köpfen“ — und das Heidi gab das Maß von den Hüten an vom Boden auf. Dem Peter fuhr ein Schauder den Rücken hinauf. „Und dann mußt du dort hinein unter alle die Herren“, fuhr das Heidi mit Eifer fort, „und wenn es dann an dich kommt, ſo kannſt du gar nicht leſen und machſt noch Fehler beim Buchſtabieren. Dann kannſt du nur ſehen, wie dich die Herren ausſpotten, das iſt dann noch viel ärger als die Tinette, und du ſollteſt nur wiſſen, wie es iſt, wenn dieſe ſpottet.“ „So will ich“, ſagte der Peter halb kläglich, halb ärgerlich. Im Augenblick war das Heidi beſänftigt. „So, das iſt recht, dann wollen wir gleich anfangen“, ſagte es erfreut, und geſchäftig zog es den Peter an den Tiſch hin und holte das nötige Werkzeug herbei. In dem großen Paket der Klara hatte ſich auch ein Büchlein befunden, das dem Heidi wohlgefiel, und ſchon geſtern nacht war es ihm in den Sinn gekommen, das könne es gut zu dem Unterricht für den Peter gebrauchen, denn das war ein Abc-Büchlein mit Sprüchen. Jetzt ſaßen die beiden am Tiſch, die Köpfe über das kleine Buch gebeugt, und die Lehrſtunde konnte beginnen. Der Peter mußte den erſten Spruch buchſtabieren und dann wieder und dann noch einmal, denn das Heidi wollte die Sache ſauber und geläufig haben. Endlich ſagte es: „Du kannſt's immer noch nicht, aber ich will dir ihn jetzt einmal hintereinander leſen; wenn du weißt, wie's heißen muß, kannſt du's dann beſſer zuſammenbuchſtabieren.“ Und das Heidi las: „Geht heut das A B C noch nicht, // Kommſt morgen du vors Schulgericht.“ „Ich geh nicht“, ſagte der Peter ſtörriſch. „Wohin?“ fragte das Heidi. „Vor das Gericht“, war die Antwort. „So mach, daß du einmal die drei Buchſtaben kennſt, dann mußt du ja nicht gehen“, bewies ihm das Heidi. Jetzt ſetzte der Peter noch einmal an und repetierte beharrlich die drei Buchſtaben ſo lange fort, bis das Heidi ſagte: „Jetzt kannſt du die drei.“ Da es aber nun bemerkt hatte, welch eine Wirkung der Spruch auf den Peter ausgeübt hatte, wollte es gleich noch ein wenig vorarbeiten für die folgenden Lehrſtunden. „Wart, ich will dir jetzt noch die anderen Sprüche leſen“, fuhr es fort, „dann wirſt du ſehen, was alles noch kommen kann.“ Und es begann ſehr klar und verſtändlich zu leſen: „D E F G muß fließend ſein, // Sonſt kommt ein Unglück hintendrein. Vergeſſen H I K, // Das Unglück iſt ſchon da. Wer am L M noch ſtottern kann, // Zahlt eine Buß und ſchämt ſich dann. Es gibt etwas, und wüßteſt's du, // Du lernteſt ſchnell N O P Q. Stehſt du noch an bei R S T, // Kommt etwas nach, das tut dir weh.“ Hier hielt das Heidi inne, denn der Peter war ſo mäuschenſtill, daß es einmal ſehen mußte, was er mache. Alle die Drohungen und geheimen Schreckniſſe hatten ihm ſo zugeſetzt, daß er kein Glied mehr bewegte und ſchreckensvoll das Heidi anſtarrte. Das rührte ſogleich ſein mitleidiges Herz, und tröſtend ſagte es: „Du mußt dich nicht fürchten, Peter; komm du jetzt nur jeden Abend zu mir, und wenn du dann lernſt wie heut, ſo kennſt du allemal zuletzt die Buchſtaben, und dann kommt ja das andere nicht. Aber nun mußt du alle Tage kommen, nicht ſo, wie du in die Schule gehſt; wenn es ſchon ſchneit, es tut dir ja nichts.“ Der Peter verſprach, ſo zu tun, denn der erſchreckende Eindruck hatte ihn ganz zahm und willig gemacht. Jetzt trat er ſeinen Heimweg an. Der Peter befolgte Heidis Vorſchrift pünktlich, und jeden Abend wurden mit Eifer die folgenden Buchſtaben einſtudiert und der Spruch beherzigt. Oft ſaß auch der Großvater in der Stube und hörte dem Exerzitium zu, indem er vergnüglich ſein Pfeifchen rauchte, während es öfter in ſeinen Mundwinkeln zuckte, ſo, als ob ihn von Zeit zu Zeit eine große Heiterkeit übernehmen wollte. Nach der großen Anſtrengung wurde der Peter dann meiſtens aufgefordert, noch dazubleiben und beim Abendeſſen mitzuhalten, was ihn alsbald für die ausgeſtandene Angſt, die der heutige Spruch mit ſich gebracht hatte, reichlich entſchädigte. So gingen die Wintertage dahin. Der Peter erſchien regelmäßig und machte wirklich Fortſchritte mit ſeinen Buchſtaben. Mit den Sprüchen hatte er aber täglich zu fechten. Man war jetzt beim U angelangt. Als das Heidi den Spruch las: „Wer noch das U in V verdreht, // Kommt dahin, wo er nicht gern geht“, da knurrte der Peter: „Ja, wenn ich ginge!“ Aber er lernte doch tüchtig zu, ſo, als ſtehe er unter dem Eindruck, es könnte ihn doch heimlich einer beim Kragen nehmen und dorthin bringen, wohin er nicht gern ginge. Am folgenden Abend las das Heidi: „Iſt dir das W noch nicht bekannt, // Schau nach dem Rütlein an der Wand.“ Da guckte der Peter hin und ſagte höhniſch: „Hat keins.“ „Ja, ja, aber weißt du, was der Großvater im Kaſten hat?“ fragte das Heidi. „Einen Stecken, faſt ſo dick wie mein Arm, und wenn man ihn herausnimmt, ſo kann man nur ſagen: ‚Schau nach dem Stecken an der Wand!‘“ Der Peter kannte den dicken Haſelſtock. Augenblicklich beugte er ſich über ſein W und ſuchte es zu erfaſſen. Am anderen Tage hieß es: „Willſt du noch das X vergeſſen, // Kriegſt du heute nix zu eſſen.“ Da ſchaute der Peter forſchend zu dem Schrank hinüber, wo das Brot und der Käſe darinlagen, und ſagte ärgerlich: „Ich habe ja gar nicht geſagt, daß ich das X vergeſſen wolle.“ „Es iſt recht, wenn du das nicht vergeſſen willſt, dann können wir auch gleich noch einen lernen“, ſchlug das Heidi vor, „dann haſt du morgen nur noch einen einzigen Buchſtaben.“ Der Peter war nicht einverſtanden. Aber ſchon las das Heidi: „Machſt du noch Halt beim Y, // Kommſt du mit Hohn und Spott davon.“ Da ſtiegen vor Peters Augen alle die Herren in Frankfurt auf mit den hohen ſchwarzen Hüten auf den Köpfen und Hohn und Spott in den Geſichtern. Augenblicklich warf er ſich auf das Ypſilon und ließ es nicht wieder los, bis er es ſo gut kannte, daß er die Augen zutun konnte und doch noch wußte, wie es ausſah. Am Tag darauf kam der Peter ſchon ein wenig hoch beim Heidi an, denn da war ja nur noch ein einziger Buchſtabe zu verarbeiten, und als ihm das Heidi gleich den Spruch las: „Wer zögernd noch beim Z bleibt ſtehn, // Muß zu den Hottentotten gehn!“, da höhnte der Peter: „Ja, wenn kein Menſch weiß, wo die ſind!“ „Freilich, Peter, das weiß der Großvater ſchon“, verſicherte das Heidi. „Wart nur, ich will ihn geſchwind fragen, wo ſie ſind, er iſt nur beim Herrn Pfarrer drüben.“ Und ſchon war das Heidi aufgeſprungen und wollte zur Tür hinaus. „Wart“, ſchrie jetzt der Peter in voller Angſt, denn ſchon ſah er in ſeiner Einbildung den Almöhi mitſamt dem Herrn Pfarrer daherkommen und wie ihn die zwei nun gleich anpacken und den Hottentotten überſenden würden, denn er hatte ja wirklich nicht mehr gewußt, wie das Z hieß. Sein Angſtgeſchrei ließ das Heidi ſtillſtehen. „Was haſt du denn?“ fragte es verwundert. „Nichts! Komm zurück! Ich will lernen“, ſtieß der Peter mit Unterbrechungen hervor. Aber das Heidi hätte jetzt ſelbſt gern gewußt, wo die Hottentotten ſeien, und es wollte durchaus den Großvater fragen. Der Peter ſchrie ihm aber ſo verzweifelt nach, daß es nachgab und zurückkam. Nun mußte er aber auch etwas tun dafür. Nicht nur wurde das Z ſo manchmal wiederholt, daß der Buchſtabe für alle Zeit in ſeinem Gedächtnis feſtſitzen mußte, ſondern das Heidi ging gleich noch zum Syllabieren über, und an dem Abend lernte der Peter ſo viel, daß er um einen ganzen Ruck vorwärts kam. So ging es weiter Tag für Tag. Der Schnee war wieder weich geworden, und darüberhin ſchneite es neuerdings einen Tag um den andern, ſo daß das Heidi wohl drei Wochen lang gar nicht zur Großmutter hinauf konnte. Um ſo eifriger war es in ſeiner Arbeit an dem Peter, daß er es erſetzen könne beim Liederleſen. So kam eines Abends der Peter heim vom Heidi, trat in die Stube ein und ſagte: „Ich kann's!“ „Was kannſt du, Peterli?“ fragte erwartungsvoll die Mutter. „Das Leſen“, antwortete er. „Iſt auch das möglich! Haſt du's gehört, Großmutter?“ rief die Brigitte aus. Die Großmutter hatte es gehört und mußte ſich auch ſehr verwundern, wie das zugegangen ſei. „Ich muß jetzt ein Lied leſen, das Heidi hat's geſagt“, berichtete der Peter weiter. Die Mutter holte hurtig das Buch herunter, und die Großmutter freute ſich, ſie hatte ſo lange kein gutes Wort gehört. Der Peter ſetzte ſich an den Tiſch hin und begann zu leſen. Seine Mutter ſaß aufhorchend neben ihm; nach jedem Verſe mußte ſie mit Bewunderung ſagen: „Wer hätte es auch denken können!“ Auch die Großmutter folgte mit Spannung einem Verſe nach dem andern, ſie ſagte aber nichts dazu. Am Tage nach dieſem Ereignis traf es ſich, daß in der Schule in Peters Klaſſe eine Leſeübung ſtattfand. Als die Reihe an den Peter kommen ſollte, ſagte der Lehrer: „Peter, muß man dich wieder übergehen, wie immer, oder willſt du einmal wieder — ich will nicht ſagen leſen, ich will ſagen: verſuchen, an einer Linie herumzuſtottern?“ Der Peter fing an und las hintereinander drei Linien, ohne abzuſetzen. Der Lehrer legte ſein Buch weg. Mit ſtummem Erſtaunen blickte er auf den Peter, ſo, als habe er desgleichen noch nie geſehen. Endlich ſprach er: „Peter, an dir iſt ein Wunder geſchehen! Solange ich mit unbeſchreiblicher Geduld an dir gearbeitet habe, warſt du nicht imſtande, auch nur das Buchſtabieren richtig zu erfaſſen. Nun ich, obwohl ungern, die Arbeit an dir als nutzlos aufgegeben habe, geſchieht es, daß du erſcheinſt und haſt nicht nur das Buchſtabieren, ſondern ein ordentliches, ſogar deutliches Leſen erlernt. Woher können zu unſerer Zeit denn noch ſolche Wunder kommen, Peter?“ „Vom Heidi“, antwortete dieſer. Höchſt verwundert ſchaute der Lehrer nach dem Heidi hin, das ganz harmlos auf ſeiner Bank ſaß, ſo daß nichts Beſonderes an ihm zu ſehen war. Er fuhr fort: „Ich habe überhaupt eine Veränderung an dir bemerkt, Peter. Während du früher oftmals die ganze Woche, ja mehrere Wochen hintereinander in der Schule gefehlt haſt, ſo biſt du in der letzten Zeit nicht einen Tag ausgeblieben. Woher kann eine ſolche Umwandlung zum Guten in dich gekommen ſein?“ „Vom Öhi“, war die Antwort. Mit immer größerem Erſtaunen blickte der Lehrer vom Peter auf das Heidi und von dieſem wieder auf den Peter zurück. „Wir wollen es noch einmal verſuchen“, ſagte er dann behutſam, und noch einmal mußte der Peter an drei Linien ſeine Kenntniſſe erproben. Es war richtig, er hatte leſen gelernt. Sobald die Schule zu Ende war, eilte der Lehrer zum Herrn Pfarrer hinüber, um ihm mitzuteilen, was vorgefallen war und in welcher erfreulichen Weiſe der Öhi und das Heidi in der Gemeinde wirkten. Jeden Abend las jetzt der Peter daheim ein Lied vor. So weit gehorchte er dem Heidi, weiter aber nicht, ein zweites unternahm er nie; die Großmutter forderte ihn aber auch nie dazu auf. Die Mutter Brigitte mußte ſich noch täglich verwundern, daß der Peter dieſes Ziel erreicht hatte, und an manchen Abenden, wenn die Vorleſung vorbei war und der Vorleſer in ſeinem Bett lag, mußte ſie wieder zur Großmutter ſagen: „Man kann ſich doch nicht genug freuen, daß der Peterli das Leſen ſo ſchön erlernt hat. Jetzt kann man gar nicht wiſſen, was noch aus ihm werden kann.“ Da antwortete einmal die Großmutter: „Ja, es iſt ſo gut für ihn, daß er etwas gelernt hat; aber ich will doch herzlich froh ſein, wenn der liebe Gott nun bald den Frühling ſchickt, daß das Heidi auch wieder heraufkommen kann. Es iſt doch, wie wenn es ganz andere Lieder läſe. Es fehlt ſo manchmal etwas in den Verſen, wenn ſie der Peter lieſt, und ich muß es dann ſuchen, und dann komme ich nicht mehr nach mit den Gedanken, und der Eindruck kommt mir nicht ins Herz, wie wenn mir das Heidi die Worte lieſt.“ Das kam aber daher, weil der Peter ſich beim Leſen ein wenig einrichtete, daß er's nicht zu unbequem hatte. Wenn ein Wort kam, das gar zu lang war oder ſonſt ſchlimm ausſah, ſo ließ er es lieber ganz aus, denn er dachte, um drei oder vier Worte in einem Verſe werde es der Großmutter wohl gleich ſein, es kommen ja dann noch viele. So kam es, daß es faſt keine Hauptwörter mehr hatte in den Liedern, die der Peter vorlas. 6. Die fernen Freunde regen ſich Der Mai war gekommen. Von allen Höhen ſtrömten die vollen Frühlingsbäche ins Tal herab. Ein warmer, lichter Sonnenſchein lag auf der Alp. Sie war wieder grün geworden; der letzte Schnee war weggeſchmolzen, und von den lockenden Sonnenſtrahlen geweckt, guckten ſchon die erſten Blümchen mit ihren hellen Augen aus dem friſchen Graſe heraus. Droben rauſchte der fröhliche Frühlingswind durch die Tannen und ſchüttelte ihnen die alten, dunkeln Nadeln fort, daß die jungen, hellgrünen herauskommen und die Bäume herrlich ſchmücken konnten. Hoch oben ſchwang wieder der alte Raubvogel ſeine Flügel in den blauen Lüften, und rings um die Almhütte lag der goldene Sonnenſchein warm am Boden und trocknete die letzten feuchten Stellen auf, daß man wieder hinſetzen konnte, wo man nur wollte. Das Heidi war wieder auf der Alp. Es ſprang dahin und dorthin und wußte gar nicht, wo es am ſchönſten war. Jetzt mußte es dem Winde lauſchen, wie er tief und geheimnisvoll oben von den Felſen herunterſauſte, immer näher und immer mächtiger, und jetzt ſchoß er in die Tannen und rüttelte und ſchüttelte ſie, und es war, als jauchze er vor Vergnügen, und das Heidi mußte auch aufjauchzen und wurde dabei hin und her geblaſen wie ein Blättlein. Dann lief es wieder auf das ſonnige Plätzchen vor der Hütte und ſetzte ſich auf den Boden und guckte in das kurze Gras hinein, zu entdecken, wie viele kleine Blumenkelche ſich öffnen wollten oder ſchon offen waren. Da hüpften und krochen und tanzten auch ſo viele luſtige Mücken und Käferchen in der Sonne herum und freuten ſich, und das Heidi freute ſich mit ihnen und ſog den Frühlingsduft, der aus dem friſch erſchloſſenen Boden emporſtieg, in langen Zügen ein und meinte, ſo ſchön ſei es noch nie auf der Alp geweſen. Den tauſend kleinen Tierlein mußte es ſo wohl ſein wie ihm, denn es war gerade, als ſummten und ſängen ſie in heller Freude alle durcheinander: „Auf der Alp! Auf der Alp! Auf der Alp!“ Vom Schopf hinter der Hütte hervor ertönte es hie und da wie ein eifriges Klopfen und Sägen, und das Heidi lauſchte auch einmal dorthin, denn das waren die alten, heimatlichen Töne, die es ſo gut kannte, die von Anfang an zum Leben auf der Alp gehört hatten. Jetzt mußte es aufſpringen und auch einmal dorthin rennen, denn es mußte doch wiſſen, was beim Großvater vorging. Vor der Schopftür ſtand ſchon fix und fertig ein ſchöner neuer Stuhl, und am zweiten arbeitete der Großvater mit geſchickter Hand. „Oh, ich weiß ſchon, was das gibt“, rief das Heidi in Freuden aus. „Das iſt nötig, wenn ſie von Frankfurt kommen. Der iſt für die Großmama und der, den du jetzt machſt, für die Klara, und dann... dann muß noch einer ſein“, fuhr das Heidi zögernd fort, „oder glaubſt du nicht, Großvater, daß Fräulein Rottenmeier auch mitkommt?“ „Das kann ich nun nicht ſagen“, meinte der Großvater, „aber es iſt ſicherer, einen Stuhl bereit zu haben, daß wir ſie zum Sitzen einladen können, wenn ſie kommt.“ Das Heidi ſchaute nachdenklich auf die hölzernen Stühlchen ohne Lehne hin und machte ſtill ſeine Betrachtungen darüber, wie Fräulein Rottenmeier und ein ſolches Stühlchen zuſammenpaſſen würden. Nach einer Weile ſagte es, bedenklich den Kopf ſchüttelnd: „Großvater, ich glaube nicht, daß ſie darauf ſitzt.“ „Dann laden wir ſie auf das Kanapee mit dem ſchönen grünen Raſenüberzug ein“, entgegnete ruhig der Großvater. Als das Heidi noch nachſann, wo das ſchöne Kanapee mit dem grünen Raſenüberzug ſei, erſcholl plötzlich von oben her ein Pfeifen und Rufen und Rutenſchwingen durch die Luft, daß das Heidi ſofort wußte, woran es war. Es ſchoß hinaus und war augenblicklich von den herabſpringenden Geißen umringt. Denen mußte es wohl ſein, wie es dem Heidi war, wieder auf der Alp zu ſein, denn ſie machten ſo hohe Sprünge und meckerten ſo lebensluſtig wie noch nie, und das Heidi wurde dahin und dorthin gedrängt, denn jede wollte ihm zunächſt kommen und ihre Freude bei ihm auslaſſen. Aber der Peter ſtieß ſie alle weg, eine rechts und die andere links, denn er hatte dem Heidi eine Botſchaft zu überbringen. Als er zu ihm vorgedrungen war, hielt er ihm einen Brief entgegen. „Da!“ ſagte er, die weitere Erklärung der Sache dem Heidi ſelbſt überlaſſend. Es war ſehr erſtaunt. „Haſt du denn auf der Weide einen Brief für mich bekommen?“ fragte es voller Verwunderung. „Nein“, war die Antwort. „Ja, wo haſt du ihn denn genommen, Peter?“ „Aus dem Brotſack.“ Das war richtig. Geſtern abend hatte der Poſtbeamte im Dörfli ihm den Brief an das Heidi mitgegeben. Den hatte der Peter in den leeren Sack gelegt. Am Morgen hatte er ſeinen Käſe und ſein Stück Brot darauf gepackt und war ausgezogen. Den Öhi und das Heidi hatte er wohl geſehen, als er ihre Geißen abholte, aber erſt als er um Mittag mit Brot und Käſe zu Ende war und noch die Krumen herausholen wollte, war der Brief wieder in ſeine Hand gekommen. Das Heidi las aufmerkſam ſeine Adreſſe ab, dann ſprang es zum Großvater in den Schopf zurück und ſtreckte ihm in hoher Freude den Brief entgegen: „Von Frankfurt! Von der Klara! Willſt du ihn gleich hören, Großvater?“ Das wollte dieſer ſchon gern, und auch der Peter, der dem Heidi gefolgt war, ſchickte ſich zum Zuhören an. Er ſtemmte ſich mit dem Rücken gegen den Türpfoſten an, um einen feſten Halt zu haben, denn ſo war es leichter, dem Heidi nachzukommen, wie es nun ſeinen Brief herunterlas: Liebes Heidi! Wir haben ſchon alles verpackt, und in zwei oder drei Tagen wollen wir abreiſen, ſobald Papa auch abreiſt, aber nicht mit uns, er muß zuerſt noch nach Paris reiſen. Alle Tage kommt der Herr Doktor und ruft ſchon unter der Tür: „Fort! Fort! Auf die Alp!“ Er kann es gar nicht erwarten, daß wir gehen. Du ſollteſt nur wiſſen, wie gern er ſelbſt auf der Alp war! Den ganzen Winter iſt er faſt jeden Tag zu uns gekommen; dann ſagte er immer, er komme zu mir, er müſſe mir wieder erzählen! Dann ſetzte er ſich zu mir hin und erzählte von allen Tagen, die er mit Dir und dem Großvater auf der Alp zugebracht hat, und von den Bergen und den Blumen und von der Stille ſo hoch oben über allen Dörfern und Straßen und von der friſchen, herrlichen Luft; und er ſagte oft: „Dort oben müſſen alle Menſchen wieder geſund werden.“ Er iſt auch ſelbſt wieder ſo anders geworden, als er eine Zeitlang war, ganz jung und fröhlich ſieht er wieder aus. Oh, wie freu ich mich, das alles zu ſehen und bei Dir auf der Alp zu ſein und auch den Peter und die Geißen kennenzulernen! Erſt muß ich in Ragaz etwa ſechs Wochen lang eine Kur machen, das hat der Herr Doktor befohlen, und dann ſollen wir im Dörfli wohnen nachher, und ich ſoll dann an ſchönen Tagen auf die Alp hinaufgefahren werden in meinem Stuhl und den Tag über bei Dir bleiben. Die Großmama kommt mit und bleibt bei mir; ſie freut ſich auch, zu Dir hinaufzukommen. Aber denk, Fräulein Rottenmeier will nicht mit. Faſt jeden Tag ſagt die Großmama einmal: „Wie iſt's mit der Schweizerreiſe, werte Rottenmeier? Genieren Sie ſich nicht, wenn Sie Luſt haben mitzukommen.“ Aber ſie dankt immer furchtbar höflich und ſagt, ſie wolle nicht unbeſcheiden ſein. Aber ich weiß ſchon, woran ſie denkt: Der Sebaſtian hat eine ſo erſchreckliche Beſchreibung von der Alp gemacht, als er von Deinem Begleit nach Hauſe kam, wie furchtbare Felſen dort herunterſtarren und man überall in Klüfte und Abgründe niederſtürzen könne und daß es ſo ſteil hinaufgehe, daß man auf jedem Tritt befürchten müſſe, wieder rücklings herunterzukommen, und daß wohl Ziegen, aber keine Menſchen ohne Lebensgefahr da hinaufklettern können. Sie hat ſehr geſchaudert vor dieſer Beſchreibung, und ſeither ſchwärmt ſie nicht mehr für Schweizerreiſen wie früher. Der Schrecken iſt auch in die Tinette gefahren, ſie will auch nicht mit. So kommen wir allein, Großmama und ich; nur Sebaſtian muß uns bis nach Ragaz begleiten, dann kann er wieder heimkehren. Ich kann es faſt nicht erwarten, bis ich zu Dir kommen kann. Lebe wohl, liebes Heidi, die Großmama läßt Dich tauſendmal grüßen. Deine treue Freundin Klara. Als der Peter dieſe Worte vernommen hatte, ſprang er von dem Türpfoſten weg und hieb mit ſeiner Rute nach rechts und links ſo rückſichtslos und wütend drein, daß die Geißen alle im höchſten Schrecken die Flucht ergriffen und den Berg hinunterrannten in ſo maßloſen Sprüngen, wie ſie noch ſelten gemacht hatten. Hinter ihnen her ſtürmte der Peter und hieb mit ſeiner Rute in die Luft hinein, als habe er an einem unſichtbaren Feinde einen unerhörten Grimm auszulaſſen. Dieſer Feind war die Ausſicht auf die Ankunft der Gäſte aus Frankfurt, welche den Peter ſo ſehr erbittert hatte. Das Heidi war ſo voller Glück und Freude, daß es durchaus am andern Tage der Großmutter einen Beſuch machen und ihr alles erzählen mußte, wer nun von Frankfurt kommen und beſonders auch, wer nicht kommen werde. Das mußte für die Großmutter ja von der größten Wichtigkeit ſein, denn ſie kannte die Perſonen alle ſo genau und lebte mit dem Heidi alles, was zu ſeinem Leben gehörte, immerfort mit der tiefſten Teilnahme durch. Es zog auch beizeiten aus am folgenden Nachmittag, denn jetzt konnte es ſeine Beſuche ſchon wieder allein unternehmen: Die Sonne ſchien ja wieder hell und blieb lange am Himmel ſtehen, und über den trockenen Boden hin war es ein herrliches Bergabrennen, während der luſtige Maiwind hinterherſauſte und das Heidi noch ein wenig ſchneller hinunterjagte. Die Großmutter lag nicht mehr zu Bett. Sie ſaß wieder in ihrer Ecke und ſpann. Es lag aber ein Ausdruck auf ihrem Geſicht, als habe ſie es mit ſchweren Gedanken zu tun. Das war ſo ſeit geſtern abend, und die ganze Nacht durch hatten dieſe Gedanken ſie verfolgt und nicht ſchlafen laſſen. Der Peter war in ſeinem großen Grimm heimgekommen, und ſie hatte aus ſeinen abgebrochenen Ausrufungen entnehmen können, daß eine Schar von Leuten aus Frankfurt nach der Almhütte hinaufkommen werde. Was dann weiter geſchehen ſollte, wußte er nicht, aber die Großmutter mußte weiterdenken, und das waren gerade die Gedanken, die ſie ängſtigten und ihr den Schlaf genommen hatten. Jetzt ſprang das Heidi herein und gerade auf die Großmutter zu, ſetzte ſich auf ſein Schemelchen, das immer daſtand, und erzählte ihr mit einem ſolchen Eifer alles, was es wußte, daß es ſelbſt noch immer mehr davon erfüllt wurde. Aber auf einmal hörte es mitten in ſeinem Satze auf und fragte beſorgt: „Was haſt du, Großmutter, freut dich alles gar kein bißchen?“ „Doch, doch, Heidi, es freut mich ſchon für dich, weil du eine ſo große Freude daran haben kannſt“, antwortete ſie und ſuchte ein wenig fröhlich auszuſehen. „Aber Großmutter, ich kann ganz gut ſehen, daß es dir angſt iſt. Meinſt du etwa, Fräulein Rottenmeier komme doch noch mit?“ fragte das Heidi, ſelber etwas ängſtlich. „Nein, nein! Es iſt nichts, es iſt nichts!“ beruhigte die Großmutter. „Gib mir ein wenig deine Hand, Heidi, daß ich recht ſpüren kann, daß du noch da biſt. Es wird ja doch zu deinem Beſten ſein, wenn ich es auch faſt nicht überleben kann.“ „Ich will nichts von dem Beſten, wenn du es faſt nicht überleben kannſt, Großmutter“, ſagte das Heidi ſo beſtimmt, daß dieſer mit einemmal eine neue Befürchtung aufſtieg. Sie mußte ja annehmen, daß die Leute aus Frankfurt kämen, das Heidi wiederzuholen, denn da es nun wieder geſund war, konnte es ja nicht anders ſein, als daß ſie es wiederhaben wollten. Das war die große Angſt der Großmutter. Aber ſie fühlte jetzt, daß ſie es vor dem Heidi nicht merken laſſen ſollte. Es war ja ſo mitleidig mit ihr, und da könnte es ſich vielleicht widerſetzen und nicht gehen wollen, und das durfte nicht ſein. Sie ſuchte nach einer Hilfe, aber nicht lange, denn ſie kannte nur eine. „Ich weiß etwas, Heidi“, ſagte ſie nun, „das macht mir wohl und bringt mir die guten Gedanken wieder. Lies mir das Lied, wo es gleich im Anfang heißt: ‚Gott will's machen.‘“ Das Heidi wußte jetzt ſo gut Beſcheid in dem alten Liederbuch, daß es auf der Stelle fand, was die Großmutter begehrte, und es las mit hellem Ton: „Gott will's machen, // Daß die Sachen // Gehen, wie es heilſam iſt. // Laß die Wellen // Immer ſchwellen, // Denk, wie du ſo ſicher biſt!“ „Ja, ja, das iſt's grad, was ich hören mußte“, ſagte die Großmutter erleichtert, und der Ausdruck der Bekümmernis verſchwand aus ihrem Geſichte. Das Heidi ſchaute ſie nachdenklich an, dann ſagte es: „Gelt, Großmutter, ‚heilſam‘ heißt, wenn alles heilt, daß es einem wieder ganz wohl wird?“ „Ja, ja, ſo wird's ſein“, nickte bejahend die Großmutter, „und weil der liebe Gott es ſo machen will, ſo kann man ja ſicher ſein, wie's auch kommt. Lies es noch einmal, Heidi, daß wir's ſo recht behalten können und nicht wieder vergeſſen.“ Das Heidi las ſeinen Vers gleich noch einmal und dann noch ein paarmal, denn die Sicherheit gefiel ihm auch ſo gut. Als ſo der Abend herangekommen war und das Heidi wieder den Berg hinaufwanderte, da kam über ihm ein Sternlein nach dem andern heraus und funkelte und leuchtete zu ihm herunter, und es war gerade, als wollte jedes wieder neu ihm eine große Freude ins Herz hineinſtrahlen, und alle Augenblicke mußte das Heidi wieder ſtille ſtehen und hinaufſchauen, und wie ſie alle ringsum am Himmel in immer hellerer Freude herunterblickten, da mußte es ganz laut hinaufrufen: „Ja, ich weiß ſchon, weil der liebe Gott alles ſo gut weiß, wie es heilſam iſt, kann man eine ſolche Freude haben und ganz ſicher ſein!“ Und die Sternlein alle ſchimmerten und glänzten und winkten dem Heidi zu mit ihren Augen fort und fort, bis es oben bei der Hütte angekommen war, wo der Großvater ſtand und auch zu den Sternen hinaufſchaute, denn ſo ſchön hatten ſie lange nicht mehr heruntergeſtrahlt. Nicht nur die Nächte, auch die Tage dieſes Maimonats waren ſo hell und klar wie ſeit vielen Jahren nicht mehr, und öfters ſchaute der Großvater am Morgen mit Erſtaunen zu, wie die Sonne mit derſelben Pracht am wolkenloſen Himmel wieder aufſtieg, wie ſie niedergegangen war, und er mußte wiederholt ſagen: „Das iſt ein apartes Sonnenjahr; das gibt beſondere Kraft in die Kräuter. Paß auf, Anführer, daß deine Springer nicht zu übermütig werden vom guten Futter!“ Dann ſchwang der Peter ganz kühn ſeine Rute in der Luft, und auf ſeinem Geſicht ſtand deutlich die Antwort geſchrieben: „Mit denen will ich's ſchon aufnehmen.“ So verfloß der grünende Mai, und es kam der Juni mit ſeiner noch wärmeren Sonne und den langen, langen lichten Tagen, die alle Blümlein auf der ganzen Alp herauslockten, daß ſie glänzten und glühten ringsum und die ganze Luft weit umher mit ihrem ſüßen Duft erfüllten. Schon ging auch dieſer Monat ſeinem Ende entgegen, als das Heidi eines Morgens aus der Hütte herausgeſprungen kam, wo es ſeine Morgengeſchäfte ſchon vollendet hatte. Es wollte ſchnell einmal unter die Tannen hinaus und dann ein wenig weiter hinauf, um zu ſehen, ob der ganze große Buſch von dem Tauſendgüldenkraut offenſtehe, denn die Blümchen waren ſo entzückend ſchön in der durchſcheinenden Sonne. Aber als das Heidi um die Hütte herumrennen wollte, ſchrie es auf einmal aus allen Kräften ſo gewaltig auf, daß der Öhi aus dem Schopf heraustrat, denn das war etwas Ungewöhnliches. „Großvater! Großvater!“ rief das Kind wie außer ſich. „Komm hierher! Komm hierher! Sieh! Sieh!“ Der Großvater erſchien auf den Ruf, und ſein Blick folgte dem ausgeſtreckten Arm des aufgeregten Kindes. Die Alm herauf ſchlängelte ſich ein ſeltſamer Zug, wie noch nie einer hier geſehen worden war. Zuerſt kamen zwei Männer mit einem offenen Tragſeſſel, darauf ſaß ein junges Mädchen, in viele Tücher eingehüllt. Dann kam ein Pferd, darauf ſaß eine ſtattliche Dame, die ſehr lebhaft nach allen Seiten blickte und ſich eifrig mit dem jungen Führer unterhielt, der ihr zur Seite ging. Dann kam ein leerer Rollſtuhl, von einem andern jungen Burſchen geſtoßen, denn die Kranke, die hineingehörte, wurde den ſteilen Berg hinan auf dem Tragſeſſel ſicherer transportiert. Zuletzt kam ein Träger, der hatte auf ſein Reff ſo viele Decken, Tücher und Pelze übereinandergehäuft, daß ſie oben noch hoch über ſeinen Kopf hinausragten. „Sie ſind's! Sie ſind's!“ ſchrie das Heidi und hüpfte hoch auf vor Freude. Sie waren es wirklich. Nun kamen ſie näher und näher, und nun waren ſie da. Die Träger ſetzten ihren Seſſel auf die Erde, das Heidi ſprang herzu, und die beiden Kinder begrüßten ſich mit ungeheurer Freude. Jetzt war auch die Großmama oben und ſtieg von ihrem Pferde herunter. Das Heidi rannte zu ihr hin und wurde mit großer Zärtlichkeit begrüßt. Dann wandte ſich die Großmama zum Almöhi um, der ſich genaht hatte, um ſie zu bewillkommnen. Da war gar keine Steifheit in der Begrüßung, denn ſie kannte ihn und er ſie ſo gut, als hätten ſie ſchon lange Zeit miteinander verkehrt. Gleich nach den erſten Worten der Begrüßung ſagte auch die Großmama mit großer Lebhaftigkeit: „Mein lieber Öhi, was haben Sie für einen Herrenſitz! Wer hätte das gedacht! Mancher König könnte Sie darum beneiden! Wie ſieht auch mein Heidi aus! Wie ein Monatsröschen!“ fuhr ſie fort, indem ſie das Kind an ſich zog und ihm die friſchen Backen ſtreichelte. „Was iſt das für eine Herrlichkeit um und um! Was ſagſt du, Klärchen, mein Kind, was ſagſt du!“ Klara ſchaute in völligem Entzücken um ſich. So etwas hatte ſie ja in ihrem ganzen Leben nicht gekannt, nicht geahnt. „Oh, wie ſchön iſt's da! Oh, wie ſchön iſt's da!“ rief ſie einmal ums andere aus. „So hab ich mir's nicht gedacht. O Großmama, hier möcht ich bleiben!“ Der Öhi hatte derweilen den Rollſtuhl herbeigerückt und einige der Tücher vom Reff heruntergenommen und hineingebettet. Jetzt trat er an den Tragſeſſel heran. „Wenn wir das Töchterchen nun in den gewohnten Stuhl ſetzten, ſo wäre es beſſer daran, der Reiſeſeſſel iſt ein wenig hart“, ſagte er, wartete aber nicht darauf, ob da jemand Hand anlegen werde, ſondern hob ſofort die kranke Klara mit ſeinen ſtarken Armen ſachte aus dem Strohſeſſel und ſetzte ſie mit der größten Sorgfalt auf den weichen Sitz hin. Dann legte er die Tücher über die Knie zurecht und bettete ihr die Füße ſo bequem auf die Polſter, als hätte der Öhi ſein Leben lang nichts getan, als Menſchen mit kranken Gliedern gepflegt. Die Großmama hatte im höchſten Erſtaunen zugeſchaut. „Mein lieber Öhi“, brach ſie jetzt aus, „wenn ich wüßte, wo Sie die Krankenpflege erlernt haben, noch heute ſchickte ich alle Wärterinnen, die ich kenne, dahin, daß ſie dasſelbe tun. Wie iſt denn ſo etwas möglich?“ Der Öhi lächelte ein wenig. „Es kommt mehr vom Probieren als vom Studieren“, entgegnete er, aber auf ſeinem Geſichte lag trotz des Lächelns ein Zug der Traurigkeit. Vor ſeinen Augen war aus längſt vergangener Zeit das leidende Antlitz eines Mannes aufgeſtiegen, der ſo in einen Stuhl gebettet daſaß und ſo verſtümmelt war, daß er kaum ein Glied mehr gebrauchen konnte. Das war ſein Hauptmann, den er in Sizilien nach dem heißen Gefechte ſo an der Erde gefunden und weggetragen hatte und der ihn nachher als einzigen Pfleger um ſich litt und nicht mehr von ſich gelaſſen hatte, bis ſeine ſchweren Leiden zu Ende waren. Der Öhi ſah ſeinen Kranken wieder vor ſich; es war ihm nicht anders, als ob es jetzt ſeine Sache ſei, die kranke Klara zu pflegen und ihr alle die erleichternden Dienſtleiſtungen zu erweiſen, die er ſo wohl kannte. Der Himmel lag dunkelblau und wolkenlos über der Hütte und über den Tannen und weit über die hohen Felſen weg, die grau ſchimmernd hineinragten. Klara konnte ſich gar nicht genug umſchauen, ſie war ganz voller Entzücken über alles, was ſie ſah. „O Heidi, wenn ich nur mit dir herumgehen könnte, hier rund um die Hütte und unter die Tannen!“ rief ſie ſehnſüchtig aus. „Wenn ich doch alles mit dir anſehen könnte, was ich ſchon ſo lange kenne und doch noch nie geſehen habe!“ Jetzt machte das Heidi eine große Anſtrengung, und richtig, es gelang, der Stuhl rollte ganz ſchön über den trockenen Grasboden hin bis unter die Tannen. Hier wurde haltgemacht. So etwas hatte ja Klara wieder in ihrem Leben nie geſehen, wie die hohen, alten Tannen waren, deren lange, breite Äſte bis auf den Boden herabwuchſen und da immer größer und dicker wurden. Auch die Großmama, die den Kindern gefolgt war, ſtand in hoher Bewunderung da. Sie wußte nicht, was das ſchönſte an den uralten Bäumen war, ob die vollen, rauſchenden Wipfel hoch oben im Blau oder die geraden, feſten Säulenſtämme, die mit ihren gewaltigen Äſten von ſo vielen, vielen Jahren erzählten, die ſie ſchon da oben geſtanden und auf das Tal niedergeſchaut hatten, wo die Menſchen kamen und gingen und immer wieder alles anders wurde, und ſie waren immer dieſelben geblieben. Unterdeſſen hatte das Heidi den Rollſtuhl vor den Geißenſtall hingeſchoben und hatte da die kleine Tür weit aufgeriſſen, damit Klara auch alles recht ſehen könne. Da war nun freilich für diesmal nicht ſehr viel zu ſehen, da die Bewohner nicht daheim waren. Ganz bedauerlich rief Klara zurück: „O Großmama, wenn ich doch nur Schwänli und Bärli noch erwarten könnte und alle die anderen Geißen und den Peter! Die kann ich ja alle gar nicht ſehen, wenn wir dann immer ſo früh fort müſſen, wie du geſagt haſt; das iſt ſo ſchade!“ „Liebes Kind, jetzt erfreuen wir uns an all dem Schönen, das da iſt, und denken nicht daran, was noch fehlen könnte“, berichtigte die Großmama, dem Stuhle folgend, der nun wieder weitergeſchoben wurde. „Oh, die Blumen!“ ſchrie Klara wieder auf. „Ganze Büſche ſo feine, rote Blümchen und alle die nickenden Blauglöckchen! Oh, wenn ich doch heraus könnte und ſie holen!“ Das Heidi rannte augenblicklich hin und brachte einen großen Strauß zurück. „Aber das iſt noch gar nichts, Klara“, ſagte es, die Blumen auf ihren Schoß legend. „Wenn du einmal mit uns auf die Weide hinaufkommſt, dann wirſt du erſt etwas ſehen! Auf einem Platz zuſammen ſo viele, viele Büſche von dem roten Tauſendgüldenkraut und noch viel, viel mehr blaue Glockenblümchen als hier und ſo viele tauſend von den hellen, gelben Weideröschen, daß es iſt wie lauter Gold, das am Boden glänzt. Und dann ſind erſt noch die mit den großen Blättern, der Großvater ſagt, ſie heißen Sonnenaugen, und dann ſind noch die braunen, weißt du, mit den runden Köpfchen, die riechen ſo gut, und da iſt es ſo ſchön! Wenn man da ſitzt, dann kann man gar nicht mehr aufſtehen, ſo ſchön iſt es!“ Heidis Augen funkelten vor Verlangen wiederzuſehen, was es beſchrieb, und Klara war wie angezündet davon, und aus ihren ſanften blauen Augen leuchtete ein völliger Widerſchein von Heidis feurigem Verlangen auf. „O Großmama, kann ich wohl dahin kommen? Glaubſt du, ich kann ſo hoch hinauf?“ fragte ſie ſehnſüchtig. „Oh, wenn ich nur gehen könnte, Heidi, und ſo mit dir auf der Alp herumſteigen, überallhin!“ „Ich will dich ſchon ſtoßen“, beruhigte ſie das Heidi und nahm nun zum Zeichen, wie leicht das gehe, einen ſolchen Anlauf um die Ecke herum, daß der Stuhl faſt den Berg hinuntergeflogen wäre. Da ſtand aber der Großvater in der Nähe und hielt ihn eben noch rechtzeitig auf in ſeinem Lauf. Während der Beſuch unter den Tannen ſtattgefunden hatte, war der Großvater nicht müßig geweſen. Bei der Bank vor der Hütte ſtand jetzt der Tiſch und die nötigen Stühle, und alles lag ſchon bereit, damit hier das ſchöne Mittagsmahl eingenommen werden konnte, das noch in der Hütte drinnen im Keſſel dampfte und an der großen Gabel über den Gluten ſchmorte. Es währte aber gar nicht lange, ſo hatte der Großvater alles auf den Tiſch geſetzt, und fröhlich ſaß nun die ganze Geſellſchaft beim Mahle. Die Großmama war in hellem Entzücken über dieſen Speiſeſaal, von dem aus man weit, weit hinab ins Tal und über alle Berge weg in den blauen Himmel hinein ſchauen konnte. Ein milder Wind fächelte den Tiſchgenoſſen liebliche Kühlung zu und ſäuſelte drüben in den Tannen ſo anmutig, als wäre er eine eigens zum Feſte beſtellte Tafelmuſik. „So etwas iſt mir noch nicht vorgekommen. Es iſt eine wahre Herrlichkeit!“ rief die Großmama wieder und wieder aus. „Aber was ſeh ich“, ſetzte ſie jetzt in höchſter Bewunderung hinzu, „ich glaube gar, du biſt an einem zweiten Stück Käſebraten angekommen, Klärchen?“ Wirklich lag das zweite golden glänzende Stück auf Klaras Brotſchnitte. „Oh, das ſchmeckt ſo gut, Großmama, beſſer als die ganze Tafel in Ragaz“, verſicherte Klara und biß mit großem Appetit in die gewürzige Speiſe hinein. „Nur zu! Nur zu!“ ſagte der Almöhi wohlgefällig. „Das iſt unſer Bergwind, der hilft nach, wo die Küche zurückbleibt.“ So nahm das fröhliche Mahl ſeinen Verlauf. Die Großmama und der Almöhi verſtanden ſich ausnehmend wohl, und ihr Geſpräch war immer lebhafter geworden. Sie ſtimmten in allerhand Meinungen über Menſchen und Dinge und den Verlauf der Welt ſo gut überein, daß es war, als hätten die beiden ſchon jahrelang in einem freundſchaftlichen Verkehr geſtanden. So ging eine gute Zeit dahin, und auf einmal ſchaute die Großmama gegen Abend hin und ſagte: „Wir müſſen uns bald rüſten, Klärchen, die Sonne iſt ſchon weit vorgerückt; die Leute müſſen bald wiederkommen mit Pferd und Seſſel.“ Aber auf das eben noch ſo fröhliche Geſicht der Klara kam ein ganz trauriger Ausdruck, und ſie bat eindringlich: „Oh, nur noch eine Stunde, Großmama, oder zwei! Wir haben ja die Hütte noch gar nicht geſehen und Heidis Bett und die ganze Einrichtung. Oh, wenn der Tag nur noch zehn Stunden hätte!“ „Das iſt nun nicht gut möglich“, meinte die Großmama, aber die Hütte wollte ſie auch gern noch anſehen. Man brach alſo gleich vom Tiſche auf, und der Öhi lenkte den Stuhl mit feſter Hand der Türe zu. Aber hier ging es nicht weiter, der Stuhl war viel zu breit, um durch die Öffnung eingehen zu können. Der Öhi beſann ſich nicht lange. Er hob Klara heraus und trug ſie auf ſeinem ſicheren Arm in die Hütte hinein. Hier lief die Großmama hin und her und beſah ſich genau die ganze Einrichtung und hatte ihren großen Spaß an der ganzen Häuslichkeit, die ſo hübſch aufgeräumt und wohlgeordnet ausſah. „Das iſt ja wohl dein Bett dort auf der Höhe, Heidi, nicht wahr?“ fragte ſie jetzt und ſtieg gleich unerſchrocken das Leiterchen hinauf zum Heuboden. „Oh, wie das hübſch duftet, das muß ein geſundes Schlafgemach ſein!“ Und die Großmama ging zu dem Loche hin und guckte durch, und ſchon ſtieg auch der Großvater mit der Klara auf dem Arm nach, und hinterdrein hüpfte das Heidi herauf. Jetzt ſtanden ſie alle um Heidis ſchön aufgerüſtetes Heubett herum, und ganz nachdenklich ſchaute die Großmama darauf hin und zog von Zeit zu Zeit in langen Atemzügen den würzigen Duft des friſchen Heues mit Behagen ein. Klara war von Heidis Schlafſtätte völlig hingeriſſen. „O Heidi, wie luſtig haſt du's doch! Vom Bett aus ſiehſt du gerade in den Himmel hinein und haſt einen ſo ſchönen Geruch um dich und hörſt die Tannen rauſchen draußen. Oh, ſo luſtig und kurzweilig hab ich noch gar kein Schlafzimmer geſehen!“ Der Öhi ſchaute jetzt zu der Großmama hinüber. „Ich hätte ſo meine Gedanken“, ſagte er, „wenn die Frau Großmama mir glauben wollte und ihr die Sache nicht widerſtrebte. Ich meine, wenn wir das Töchterchen ein wenig hier oben behielten, ſo könnte es zu neuen Kräften kommen. Es ſind da ſo allerhand Tücher und Decken mitgekommen, aus denen bereiten wir hier ein ganz apart weiches Bett, und um die Pflege des Töchterchens müßte die Frau Großmama keine Sorge haben, die übernehme ich.“ Klara und Heidi jauchzten miteinander auf wie zwei freigelaſſene Vögel, und über das Geſicht der Großmama kam ein ganzer Sonnenſchein. „Mein lieber Öhi, Sie ſind ein prächtiger Mann!“ brach ſie aus. „Was meinen Sie, was ich eben jetzt dachte? Ich ſagte im ſtillen: Müßte nicht ein Aufenthalt hier oben das Kind ganz beſonders ſtärken? Aber die Pflege! Die Sorge! Die Unbequemlichkeit für den Wirt! Und Sie kommen und ſprechen es aus, ſo als wäre da gar nichts dabei. Ich muß Ihnen danken, mein lieber Öhi, ich muß Ihnen von ganzem Herzen danken!“ Und die Großmama ſchüttelte dem Öhi die Hand ein Mal ums andere und immer wieder, und der Öhi ſchüttelte auch die ihrige mit einem ganz erfreuten Geſicht. Sofort ging der Öhi zur Tat über. Er trug Klara in ihren Seſſel vor die Hütte zurück, vom Heidi gefolgt, das nicht wußte, wie hoch es vor Freude ſpringen wollte. Dann lud er gleich die ſämtlichen Tücher und Pelzdecken auf ſeine Arme und ſagte wohlgefällig lächelnd: „Es iſt gut, daß die Frau Großmama ſo wie zu einem Winterfeldzug gerüſtet hatte: Das können wir brauchen.“ „Mein lieber Öhi“, antwortete die Herzutretende lebhaft, „Vorſicht iſt eine ſchöne Tugend und ſchützt vor manchem Ungemach. Wenn man auf den Reiſen über Ihre Gebirge ohne Sturm und Wind und Wolkenbrüche davonkommt, ſo kann man nur danken, und das wollen wir tun, und meine Schutzmittelchen ſind auch ſo noch gut zu gebrauchen; darin ſind wir einig.“ Während dieſes kleinen Geſpräches waren die beiden nach dem Heuboden hinaufgeſtiegen und begannen nun die Tücher über das Bett hinzubreiten, eins nach dem andern. Da waren ihrer ſo viele, daß das Bett zuletzt ausſah wie eine kleine Feſtung. „Jetzt ſoll mir noch ein einziger Heuhalm durchſtechen, wenn er kann“, ſagte die Großmama, indem ſie noch einmal mit der Hand auf allen Seiten eindrückte, aber die weiche Mauer war ſo undurchdringlich, daß wirklich keiner mehr durchſtach. Nun ſtieg ſie befriedigt die Leiter hinunter und trat zu den Kindern heraus, die mit ſtrahlenden Angeſichtern nahe zuſammenſaßen und ausmachten, was ſie nun tun wollten vom Morgen bis zum Abend, ſolange Klara auf der Alp bleiben durfte. Aber wie lange würde das ſein? Das war nun die große Frage, welche augenblicklich der Großmama vorgelegt wurde. Die ſagte, das wiſſe der Großvater am beſten, ihn müßten ſie fragen, und als dieſer eben herzutrat und nun die Frage an ihn gerichtet wurde, meinte er, vier Wochen ſeien gerade recht, um beurteilen zu können, ob die Alpluft ihre Schuldigkeit an dem Töchterchen tue oder nicht. Jetzt jubelten die Kinder erſt recht auf, denn die Ausſicht auf ſolches Zuſammenbleiben übertraf alle ihre Erwartungen. Nun ſah man von unten herauf wieder die Seſſelträger und den Pferdeführer mit ſeinem Tier heranrücken. Die erſteren konnten gleich wieder umkehren. Als die Großmama ſich anſchickte, ihr Pferd zu beſteigen, rief Klara fröhlich aus: „O Großmama, das iſt nun gar kein Abſchied, wenn du ſchon fortreiteſt, denn nun kommſt du von Zeit zu Zeit zu uns zum Beſuch auf die Alp, um zu ſehen, was wir machen, und das iſt dann ſo luſtig, nicht, Heidi?“ Heidi, das heute von einem Vergnügen ins andere fiel, konnte ſeine zuſtimmende Antwort nur durch einen hohen Freudenſprung ausdrücken. Nun beſtieg die Großmama das feſte Saumtier, und der Öhi ergriff den Zügel und führte das Pferd mit ſicherer Hand den ſteilen Berg hinunter. Wie auch die Großmama eiferte, er möchte doch nicht ſo weit mitgehen, es half nichts: Der Öhi erklärte, er werde ihr ſein Geleit bis zum Dörfli hinunter geben, da die Alp ſo ſteil und der Ritt nicht ohne Gefahr ſei. In dem einſamen Dörfli gedachte die Großmama, nun ſie allein war, nicht zu bleiben. Sie wollte nach Ragaz zurückkehren und von dort aus dann von Zeit zu Zeit ihre Alpenreiſe wiederholen. Noch bevor der Öhi wieder zurückgekehrt war, kam der Peter mit ſeinen Geißen dahergerannt. Als dieſe merkten, wo das Heidi war, ſtürzten ſie alle der Stelle zu. Im Augenblick war die Klara in ihrem Stuhle ſamt dem Heidi mitten in dem Rudel drinnen, und drängend und ſtoßend guckte immer eine der Geißen über die andere her, und jede wurde gleich vom Heidi der Klara genannt und vorgeſtellt. So kam es, daß dieſe in der kürzeſten Zeit die langerwünſchte Bekanntſchaft mit dem kleinen Schneehöppli, dem luſtigen Diſtelfink, den ſauberen Geißen des Großvaters, mit allen, allen bis hinauf zum großen Türk gemacht hatte. Der Peter aber ſtand derweilen abſeits und warf ſeltſam drohende Blicke auf die vergnügte Klara hin. Als nun die Kinder beide freundlich zu ihm hinüberriefen: „Gute Nacht, Peter!“, gab er durchaus keine Antwort, ſondern hieb mit ſeiner Rute ſo grimmig in die Luft hinein, als wollte er dieſe völlig entzweiſchlagen. Dann lief er davon und ſein Gefolge hinter ihm her. Zu allem Schönen, das Klara heute auf der Alp ſchon geſehen hatte, kam nun noch der Schluß. Als ſie oben auf dem Heuboden auf dem großen, weichen Bette lag, zu dem nun auch das Heidi emporkletterte, da ſchaute ſie durch das offene runde Loch gerade mitten in die ſchimmernden Sterne hinein, und voller Entzücken rief ſie aus: „O Heidi, ſieh, es iſt gerade, wie wenn wir auf einem hohen Wagen in den Himmel hineinfahren würden!“ „Ja, und weißt du, warum die Sterne ſo voller Freude ſind und uns ſo mit den Augen winken?“ fragte das Heidi. „Nein, das weiß ich nicht; was meinſt du denn?“ fragte Klara zurück. „Weil ſie droben im Himmel ſehen, wie der liebe Gott alles ſo gut einrichtet für die Menſchen, daß ſie gar keine Angſt haben müſſen und ganz ſicher ſein können, weil alles ſo kommt, wie es heilſam iſt. Das freut ſie ſo; ſieh, wie ſie winken, daß wir auch ſo fröhlich ſein ſollen! Aber weißt du, Klara, wir müſſen auch nicht vergeſſen zu beten, wir müſſen recht den lieben Gott bitten, daß er auch an uns denke, wenn er alles ſo ſchön einrichtet, daß wir auch immer ſo ſicher ſein können und uns vor gar nichts fürchten müſſen.“ Jetzt richteten ſich die Kinder noch einmal auf und ſagten jedes ſein Nachtgebet. Dann legte ſich das Heidi auf ſeinen runden Arm und ſchlief augenblicklich ein. Aber Klara blieb noch lange wach, denn etwas ſo Wunderbares wie dieſe Schlafſtätte im Sternenſchein hatte ſie noch in ihrem Leben nicht geſehen. Sie hatte ja überhaupt kaum je die Sterne geſehen, denn außer dem Hauſe war ſie des Nachts nie geweſen, und drinnen wurden die dichten Vorhänge längſt niedergelaſſen, bevor die Sterne kamen. Wenn ſie nun jetzt die Augen zumachen wollte, mußte ſie ſie gleich noch einmal aufſchlagen, um zu ſehen, ob denn die beiden großen, hellen Sterne immer noch hereinfunkelten und ſo merkwürdig winkten, wie das Heidi geſagt hatte. Und immer noch war es ſo, und Klara konnte es nicht genug bekommen, in das Flimmern und Leuchten hineinzuſchauen, bis endlich ihre Augen von ſelbſt zufielen und ſie nur im Traume noch die zwei großen, ſchimmernden Sterne ſah. 7. Wie es auf der Alp weitergeht Eben war die Sonne hinter den Felſen heraufgeſtiegen und warf nun ihre goldenen Strahlen über die Hütte und über das Tal hinab. Der Almöhi hatte, wie er jeden Morgen tat, ſtill und andächtig zugeſchaut, wie ringsum auf den Höhen und im Tal die leichten Nebel ſich lichteten und das Land aus dem Dämmerſchatten herausſchaute und zum neuen Tage erwachte. Heller und heller wurden oben die lichten Morgenwolken, bis jetzt die Sonne völlig heraustrat und Fels und Wald und Hügel mit goldenem Lichte übergoß. Jetzt trat der Öhi in ſeine Hütte zurück und ging leiſe die kleine Leiter hinauf. Klara hatte eben die Augen aufgeſchlagen und ſchaute in der höchſten Verwunderung auf die hellen Sonnenſtrahlen, die durch das runde Loch hereindrangen und auf ihrem Bette tanzten und blitzten. Sie wußte gar nicht, was ſie ſah und wo ſie war. Doch jetzt erblickte ſie das ſchlafende Heidi an ihrer Seite, und nun ertönte auch die freundliche Stimme des Großvaters: „Gut geſchlafen? Nicht müde?“ Klara verſicherte, ſie ſei nicht müde, und, einmal eingeſchlafen, ſei ſie auch die ganze Nacht nicht mehr erwacht. Das gefiel dem Großvater, und nun fing er gleich an und beſorgte die Klara ſo gut und ſo verſtändnisvoll, als wäre es geradezu ſein Beruf, kranke Kinder zu beſorgen und es ihnen bequem zu machen. Das Heidi hatte ſeine Augen jetzt auch aufgemacht und ſah auf einmal mit Erſtaunen, wie der Großvater die ſchon fertig gerüſtete Klara auf den Arm nahm und forttrug. Da mußte es doch dabeiſein. Blitzſchnell ging ſeine Ausrüſtung vor ſich. Dann ging's die Leiter hinunter, und nun war auch das Heidi aus der Tür und ſtand draußen, mit großer Verwunderung betrachtend, was der Großvater jetzt wieder ausführte. Er hatte am Abend vorher, als die Kinder ſchon oben auf ihrem Lager angekommen waren, überlegt, wo der breite Rollſtuhl unter Dach gebracht werden könnte. Die Tür der Hütte war ja viel zu ſchmal, hier konnte er nie eingefahren werden. Da war ihm ein Gedanke gekommen. Er machte hinten am Schopf zwei große Laden los, ſo daß da eine breite Öffnung entſtand. Der Stuhl wurde hineingeſtoßen und die hohen Bretter wieder an ihre Stelle gebracht, wenn auch nicht feſtgemacht. Das Heidi kam eben an, nachdem der Großvater Klara drinnen in ihren Stuhl geſetzt, dann die Bretter weggenommen hatte und nun mit ihr aus dem Schopf in den Morgenſonnenſchein herausgefahren kam. Mitten auf dem Platze ließ er den Stuhl ſtehen und ging dem Geißenſtall zu. Das Heidi ſprang an Klaras Seite. Der friſche Morgenwind wehte um die Geſichter der Kinder, und ein würziger Tannenduft kam mit jedem neuen Windeswehen herüber und durchſtrömte die ſonnige Morgenluft. Klara zog tiefe Züge ein und lehnte ſich in ihren Stuhl zurück, in einem Gefühl des Wohlſeins, wie ſie es nie empfunden hatte. Noch nie in ihrem Leben hatte ſie ja auch friſche Morgenluft draußen in der freien Natur eingeatmet, und nun wehte die reine Alpenluft um ſie ſo kühl und erfriſchend, daß jeder Atemzug ein Genuß war. Dazu der helle, ſüße Sonnenſchein, der gar nicht heiß war hier oben und ſo lieblich warm auf ihren Händen lag und an dem trockenen Grasboden zu ihren Füßen. Daß es ſo auf der Alp ſein könnte, das hatte ſich Klara gar nicht vorſtellen können. „O Heidi, wenn ich nur immer, immer hier oben bei dir bleiben könnte!“ ſagte ſie jetzt, ſich ganz wohlig hin und her wendend in ihrem Stuhl, um ſo recht von allen Seiten Luft und Sonne einzutrinken. „Jetzt ſiehſt du, daß es ſo iſt, wie ich dir geſagt habe“, entgegnete das Heidi erfreut, „daß es am ſchönſten auf der ganzen Welt beim Großvater auf der Alm iſt.“ Eben trat dieſer aus dem Stalle heraus zu den Kindern heran. Er brachte zwei Schüſſelchen voll ſchäumender, ſchneeweißer Milch und reichte eins der Klara, das andere dem Heidi. „Das wird dem Töchterchen wohltun“, ſagte er, Klara zunickend. „Sie iſt vom Schwänli, die gibt Kraft. Zum Wohlſein! Nur zu!“ Klara hatte noch nie Milch von einer Geiß getrunken, ſie hatte erſt zur Sicherheit ein wenig daran riechen müſſen. Als ſie nun aber ſah, mit welcher Begier das Heidi ſeine Milch heruntertrank, ohne ein einziges Mal abzuſetzen — ſo erſtaunlich gut ſchmeckte ſie ihm —, da ſetzte Klara auch an und trank und trank, und wahrhaftig, ſie war ſo ſüß und kräftig, als wäre Zucker und Zimmet darin, und Klara trank zu, bis nichts mehr im Schüſſelchen war. „Morgen nehmen wir zwei“, ſagte der Großvater, der mit Befriedigung zugeſehen hatte, wie Klara Heidis Beiſpiel gefolgt war. Jetzt erſchien der Peter mit ſeiner Schar, und während das Heidi durch die allſeitigen Morgenbegrüßungen gleich mitten in die Herde hineingedrängt wurde, nahm der Öhi den Peter ein wenig auf die Seite, damit dieſer verſtehen könne, was er ihm zu ſagen hatte, denn die Geißen meckerten immer, eine ſtärker als die andere, vor lauter Freude und Freundſchaftsbezeugungen, ſobald ſie das Heidi in ihrer Mitte hatten. „Jetzt hör zu und paß auf“, ſagte der Öhi. „Von heut an läſſeſt du dem Schwänli ſeinen Willen. Es hat die Fühlung, wo die kräftigſten Kräutlein ſind; alſo wenn es hinauf will, ſo gehſt du nach, den anderen tut's ja auch gut, und wenn es höher will, als du ſonſt mit ihnen gehſt, ſo gehſt du wieder und hältſt es nicht zurück, hörſt du! Wenn du auch ein wenig klettern mußt, ſchad't nichts, du gehſt, wo es will, denn in dieſer Sache iſt es vernünftiger als du, und es muß nur noch vom Beſten bekommen, daß es eine Prachtmilch gibt. Warum guckſt du dort hinüber, wie wenn du einen verſchlucken wollteſt? Es wird dir niemand im Wege ſein. So, jetzt vorwärts, und denk daran!“ Der Peter war gewohnt, dem Öhi aufs Wort zu folgen. Er trat gleich ſeinen Marſch an; man konnte aber ſehen, daß er noch etwas im Hinterhalt hatte, denn er drehte immer den Kopf um und rollte mit den Augen. Die Geißen folgten und drängten das Heidi noch eine Strecke mit vorwärts. Das war dem Peter eben recht. „Du mußt mit“, rief er jetzt drohend in den Geißenrudel hinein, „du mußt mit, wenn man dem Schwänli nachmuß.“ „Nein, ich kann nicht“, rief das Heidi zurück, „und ich kann jetzt lange, lange nicht mitkommen, ſolange die Klara bei mir iſt. Aber einmal kommen wir dann miteinander hinauf, der Großvater hat es uns verſprochen.“ Unter dieſen Worten hatte das Heidi ſich aus den Geißen herausgewunden und ſprang nun zu Klara zurück. Jetzt machte der Peter mit beiden Fäuſten eine ſo drohende Gebärde gegen den Rollſtuhl hinunter, daß die Geißen auf die Seite ſprangen. Er ſprang aber auf der Stelle nach und ohne Aufenthalt eine ganze Strecke weit hinauf, bis er außer Sicht war, denn er dachte, der Öhi könnte ihn etwa geſehen haben, und er wollte lieber nicht wiſſen, was für einen Eindruck das Fauſten dem Öhi gemacht habe. Klara und Heidi hatten für heute ſo viel im Sinn, daß ſie gar nicht wußten, wo anfangen. Das Heidi ſchlug vor, zuerſt den Brief an die Großmama zu ſchreiben, den hatten ſie ja beſtimmt verſprochen, und ſo für jeden Tag einen neuen. Die Großmama war doch ihrer Sache nicht ſo ganz ſicher, wie es in die Länge da droben der Klara behagen und auch, wie es mit ihrer Geſundheit gehen würde, und ſo hatte ſie den Kindern das Verſprechen abgenommen, ihr jeden Tag einen Brief zu ſchreiben und alles zu erzählen, was ſie erlebten. So konnte die Großmama auch ſogleich wiſſen, wenn ſie oben nötig werden ſollte, und bis dahin ruhig unten bleiben. „Müſſen wir in die Hütte hinein zum Schreiben?“ fragte Klara, die wohl dafür war, der Großmama Bericht zu geben; aber da draußen war es ihr ſo wohl, daß ſie gar nicht weg mochte. Aber das Heidi wußte ſich einzurichten. Augenblicklich rannte es in die Hütte hinein und kam mit ſeinen ſämtlichen Schulſachen und dem niedrigen Dreibeinſtühlchen beladen wieder zurück. Nun legte es ſein Leſebuch und Schreibheft der Klara auf den Schoß, daß ſie darauf ſchreiben konnte, und es ſelbſt ſetzte ſich an die Bank hin auf ſein Stühlchen, und nun begannen ſie beide der Großmama zu erzählen. Aber nach jedem Satze, den Klara geſchrieben hatte, legte ſie ihren Bleiſtift wieder hin und ſchaute um ſich. Es war gar zu ſchön. Der Wind war nicht mehr ſo kühl; nur lieblich fächelnd wehte er um ihr Geſicht, und drüben in den Tannen flüſterte er leiſe. In der klaren Luft tanzten und ſummten die kleinen, fröhlichen Mücken, und weit umher lag eine große Stille auf dem ganzen ſonnigen Gefilde. Groß und ſtill ſchauten die hohen Felſenberge herüber, und das ganze weite Tal hinab lag alles wie im ſtillen Frieden. Nur dann und wann ſchallte das frohe Jauchzen eines Hirtenbuben durch die Luft, und leiſe gab das Echo die Töne in den Felſen wieder. Der Morgen war dahin, die Kinder wußten nicht, wie, und ſchon kam der Großvater mit der dampfenden Schüſſel daher, denn er ſagte, mit dem Töchterchen bleibe man nun draußen, ſolang ein Lichtſtrahl am Himmel ſei. So wurde das Mittagsmahl wie geſtern vor der Hütte aufgeſtellt und mit Vergnügen eingenommen. Dann rollte das Heidi den Stuhl ſamt der Klara unter die Tannen hinüber, denn die Kinder hatten ausgemacht, den Nachmittag wollten ſie dort in dem ſchönen Schatten ſitzen und einander alles erzählen, was ſich zugetragen, ſeit das Heidi Frankfurt verlaſſen hatte. Wenn auch da alles im gewohnten Geleiſe weitergegangen war, ſo hatte Klara doch allerlei Beſonderes zu berichten von den Menſchen, die im Hauſe Seſemann lebten und die dem Heidi ja ſo gut bekannt waren. So ſaßen die Kinder nebeneinander unter den alten Tannen, und je eifriger ſie im Erzählen wurden, deſto lauter pfiffen die Vögel oben in den Zweigen, denn das Geplauder da unten freute ſie, und ſie wollten auch mithalten. So flog die Zeit dahin, und unverſehens war es Abend geworden, und ſchon kam das Geißenheer heruntergeſtürmt, der Anführer hintendrein mit Stirnrunzeln und grimmiger Miene. „Gute Nacht, Peter!“ rief ihm das Heidi zu, als es ſah, daß er nicht im Sinne hatte ſtillzuſtehen. „Gute Nacht, Peter!“ rief auch Klara freundlich hinüber. Er gab keinen Gruß zurück und jagte ſchnaubend die Geißen weiter. Als Klara jetzt ſah, wie der Großvater das ſaubere Schwänli zum Melken nach dem Stalle führte, da ergriff ſie auf einmal ein ſolches Verlangen nach der gewürzigen Milch, daß ſie es faſt nicht erwarten konnte, bis der Großvater damit kommen würde. Sie mußte ſelbſt erſtaunen darüber. „Das iſt aber einmal kurios, Heidi“, ſagte ſie. „Solange ich weiß, habe ich nur gegeſſen, weil ich mußte, und alles, was ich bekam, ſchmeckte nach Fiſchtran, und tauſendmal habe ich gedacht: Wenn man nur nie eſſen müßte! Und jetzt kann ich es faſt nicht erwarten, bis der Großvater kommt mit der Milch.“ „Ja, ich weiß ſchon, was das iſt“, entgegnete das Heidi ganz verſtändnisvoll, denn es gedachte der Tage in Frankfurt, da ihm alles im Halſe ſteckenblieb und nicht hinunter wollte. Klara aber begriff die Sache doch nicht. Sie hatte aber, ſolange ſie lebte, noch nie einen Tag lang in der freien Luft geſeſſen wie heute, und nun gar in dieſer hohen, belebenden Bergluft. Als der Großvater mit ſeinen Schüſſelchen herankam, erfaßte Klara ſchnell dankend das ihrige, und in durſtigen Zügen trank ſie hintereinander und war diesmal noch vor dem Heidi zu Ende. „Darf ich noch ein wenig haben?“ fragte ſie, dem Großvater das Schüſſelchen hinhaltend. Er nickte wohlgefällig, nahm auch Heidis Gefäß wieder in Empfang und ging zur Hütte zurück. Als er wiederkam, brachte er auf jedem Schüſſelchen einen hohen Deckel mit, der war aber von anderem Stoff, als die Deckel gewöhnlich ſind. Der Großvater hatte am Nachmittag einen Gang nach dem grünen Maienſäß hinüber gemacht, zu der Sennhütte, wo die ſüße, hellgelbe Butter gemacht wird. Von dort hatte er einen ſchönen runden Ballen mitgebracht. Jetzt hatte er zwei feſte Schnitten Brot genommen und die ſüße Butter ſchön dick daraufgeſtrichen. Dieſe ſollten nun die Kinder zu ihrem Nachteſſen haben. Gleich biſſen auch alle beide ſo tief in die appetitlichen Schnitten hinein, daß der Großvater ſtehenblieb und zuſchaute, wie das weitergehen würde, denn das gefiel ihm. Als Klara nachher auf ihrem Lager wieder nach den ſchimmernden Sternen ſchauen wollte, ging es ihr wie dem Heidi an ihrer Seite: Die Augen fielen ihr auf der Stelle zu, und es kam ein ſo feſter, geſunder Schlaf über ſie, wie ſie ihn niemals gekannt hatte. In dieſer erfreulichen Weiſe verging auch der folgende Tag und dann noch einer, und dann folgte eine große Überraſchung für die Kinder. Es kamen zwei kräftige Träger den Berg heraufgeſtiegen; jeder trug auf ſeinem Reff ein hohes Bett, fertig aufgerüſtet in der Bettſchaft, beide ganz gleich bedeckt mit einer weißen Decke, ſauber und nagelneu. Auch hatten die Männer einen Brief von der Großmama abzugeben. Da ſtand darin, daß dieſe Betten für Klara und Heidi ſeien, daß das Heu- und Deckenlager nun aufgehoben werden ſolle und daß von nun an das Heidi immer in einem richtigen Bette ſchlafen müſſe, denn im Winter ſolle das eine der beiden ins Dörfli heruntergeſchafft werden, das andere aber oben bleiben, damit Klara es immer vorfinde, wenn ſie wiederkomme. Dann lobte die Großmama die Kinder um ihrer langen Briefe willen und ermunterte ſie, täglich ſo fortzufahren, damit ſie immer alles mitleben könne, als ob ſie bei ihnen wäre. Der Großvater war hineingegangen, hatte den Inhalt von Heidis Lager auf den großen Heuhaufen geworfen und die Decken weggelegt. Nun kam er wieder, um mit Hilfe der Männer die beiden Betten dort hinauf zu transportieren. Dann rückte er ſie hart aneinander, damit von beiden Kopfkiſſen aus die Ausſicht durch das Loch dieſelbe bliebe, denn er kannte die Freude der Kinder an dem Morgen- und Abendſchein, der da hereinglänzte. Unterdeſſen ſaß die Großmama unten im Bade Ragaz und war hocherfreut über die vortrefflichen Nachrichten, die täglich von der Alp zu ihr heruntergelangten. Das Entzücken über ihr neues Leben ſteigerte ſich bei Klara noch von Tag zu Tag, und ſie wußte nicht genug zu ſagen von der Güte und ſorglichen Pflege des Großvaters und wie luſtig und kurzweilig das Heidi ſei, noch viel mehr als in Frankfurt, und wie ſie jeden Morgen beim Erwachen immer zuerſt denke: O gottlob; ich bin noch auf der Alp! Über dieſe ausnehmend erfreulichen Berichte war die Großmama jeden Tag aufs neue froh. Sie fand auch, da alles ſo ſtand, ſo könne ſie ihren Beſuch auf der Alp gar wohl noch ein wenig verſchieben, was ihr nicht unlieb war, denn der Ritt den ſteilen Berg hinauf und wieder herunter war ihr doch etwas beſchwerlich vorgekommen. Der Großvater mußte eine ganz beſondere Teilnahme für ſeinen Pflegling gefaßt haben, denn es verging kein Tag, an welchem er nicht irgend etwas Neues zu ſeiner Kräftigung ausdachte. Er machte jetzt jeden Nachmittag weitere Gänge in die Felſen hinauf, immer höher, und jedesmal brachte er ein Bündelchen mit zurück, das duftete ſchon von weitem durch die Luft wie gewürzige Nelken und Thymian, und kehrten die Geißen am Abend heim, ſo fingen ſie alle zu meckern und zu ſpringen an und wollten alle miteinander in den Stall eindringen, wo das Bündelchen lag, denn ſie kannten den Geruch. Aber der Öhi hatte die Tür gut zugemacht, denn er kletterte den ſeltenen Kräuterchen nicht nach, hoch an die Felſen hinauf, damit die Geißenſchar ohne Mühe zu einer guten Mahlzeit komme. Die Kräutlein waren alle für das Schwänli beſtimmt, damit es immer noch kräftigere Milch hergebe. Man konnte auch gut ſehen, wie die außerordentliche Pflege bei ihm anſchlug, denn es warf den Kopf immer lebendiger in die Höhe und machte ganz feurige Augen dazu. So war nun ſchon die dritte Woche gekommen, ſeit Klara auf der Alp war. Seit einigen Tagen hatte der Großvater des Morgens, wenn er ſie heruntertrug, um ſie in ihren Stuhl zu ſetzen, jedesmal geſagt: „Will das Töchterchen nicht einmal probieren, ein wenig auf dem Boden zu ſtehen?“ Klara hatte dann wohl verſucht, ihm den Gefallen zu tun, aber ſie hatte immer gleich geſagt: „Oh, 's tut zu weh!“ und hatte ſich an ihn feſtgeklammert; er ließ ſie aber jeden Tag ein wenig länger probieren. Ein ſo ſchöner Sommer war ſeit Jahren nicht auf der Alp geweſen. Jeden Tag zog die ſtrahlende Sonne durch den wolkenloſen Himmel hin, und alle kleinen Blumen machten ihre Kelche weit auf und glühten und dufteten zu ihr empor, und am Abend warf ſie ihr Purpur- und Roſenlicht auf die Felſenhörner und das Schneefeld hinüber und tauchte dann in ein golden flammendes Meer hinab. Davon erzählte das Heidi ſeiner Freundin Klara immer wieder, denn nur oben auf der Weide konnte man das alles ſo recht ſehen, und von der Stelle oben am Abhange erzählte es mit beſonderem Feuer, wie dort jetzt die großen Scharen der glitzernden, goldenen Weideröschen ſtehen und Blauglöckchen ſo viele, daß man meine, dort ſei das Gras blau geworden, und daneben ganze Büſche von den braunen Kolbenblümchen, die ſo ſchön riechen, daß man nur auf den Boden ſitzen müſſe zu ihnen und gar nicht mehr fort wolle. Eben jetzt, unter den Tannen ſitzend, hatte das Heidi aufs neue von den Blumen dort oben und der Abendſonne und den leuchtenden Felſen erzählt, und dabei war ein ſolches Verlangen in ihm aufgeſtiegen, wieder einmal dorthin zu kommen, daß es mit einemmal aufſprang und davonrannte, dem Großvater zu, der im Schopf auf ſeinem Schnitzſtuhl ſaß. „O Großvater“, rief es ſchon von weitem hinüber, „kommſt du morgen mit uns auf die Weide? Oh, jetzt iſt es ſo ſchön dort oben!“ „Es bleibt dabei“, ſagte der Großvater zuſtimmend, „aber dann muß mir das Töchterchen auch einen Gefallen tun: Es muß mir heut abend das Stehen noch einmal recht probieren.“ Frohlockend kam das Heidi mit ſeiner Nachricht zu Klara zurück, und dieſe verſprach gleich, ſovielmal verſuchen zu wollen, auf ihren Füßen zu ſtehen, als der Großvater nur wolle, denn ſie freute ſich ganz ungeheuer, dieſe Reiſe nach der ſchönen Geißenweide hinauf zu machen. Das Heidi war ſo voller Jubel, daß es gleich dem Peter entgegenrief, ſobald es ihn am Abend beim Herunterkommen erblickte: „Peter! Peter! Morgen kommen wir auch mit und bleiben den ganzen Tag dort oben.“ Als Antwort brummte der Peter wie ein gereizter Bär und ſchlug mit Wut nach dem unſchuldigen Diſtelfink, der neben ihm trabte. Aber der flinke Diſtelfink hatte die Bewegung zur rechten Zeit wahrgenommen. Er machte einen hohen Satz über das Schneehöppli weg, und der Hieb ſauſte in die Luft hinaus. Klara und Heidi beſtiegen heute voll herrlicher Erwartungen ihre zwei ſchönen Betten, und ſo erfüllt waren ſie von ihren Plänen für morgen, daß ſie beſchloſſen, die ganze Nacht wach zu bleiben und immerfort davon zu ſprechen, bis ſie wieder aufſtehen durften. Kaum lagen ſie aber auf ihren guten Kiſſen, ſo hörten die Geſpräche plötzlich auf, und Klara ſah im Traume ein großes, großes Feld vor ſich, das war ganz himmelblau anzuſehen, ſo dicht beſät war es von lauter Glockenblumen; und das Heidi hörte den Raubvogel oben in den Höhen, wie er herunterſchrie: „Kommt! Kommt! Kommt!“ 8. Es geſchieht, was keiner erwartet hat In aller Frühe trat der Öhi am andern Morgen aus der Hütte und ſchaute ringsum, wie der Tag ſich geſtalten wolle. Auf den hohen Bergspitzen lag ein rötlich-goldener Schein; ein friſcher Wind fing an, die Äſte der Tannen hin und her zu wiegen; die Sonne wollte kommen. Eine Weile noch ſtand der Alte und ſchaute andächtig zu, wie nach den hohen Berggipfeln die grünen Hügel golden zu ſchimmern begannen und dann aus dem Tale leiſe die dunkeln Schatten wichen und ein roſiges Licht hineinfloß und nun Höhen und Tiefen im Morgengolde erglänzten; die Sonne war gekommen. Jetzt holte der Öhi den Rollſtuhl aus dem Schopf heraus, ſtellte ihn, zur Reiſe gerüſtet, vor die Hütte hin und trat dann hinein, um den Kindern zu ſagen, wie ſchön der Morgen erwacht ſei, und ſie herauszuholen. Eben jetzt kam der Peter herangeſtiegen. Seine Geißen kamen nicht zutraulich wie gewohnt an ſeiner Seite und nahe vor und hinter ihm den Berg herauf; ſie ſchoſſen ſcheu umher, dahin und dorthin, denn der Peter hieb alle Augenblicke ohne jede Veranlaſſung um ſich wie ein Wütender, und wo er traf, tat es nicht wohl. Der Peter war auf dem höchſten Punkt des Zornes und der Erbitterung angelangt. Seit Wochen hatte er nie mehr das Heidi für ſich gehabt, ſo wie er's gewohnt war. Kam er am Morgen von unten herauf, ſo wurde ſchon immer das fremde Kind in ſeinem Stuhle herausgetragen, und das Heidi gab ſich mit ihm ab. Kam er am Abend von oben herunter, ſo ſtand noch der Rollſtuhl mit ſeiner Inhaberin unter den Tannen, und das Heidi machte ſich mit ihr zu ſchaffen. Nie war es noch zur Weide hinaufgekommen den ganzen Sommer, und nun heute wollte es kommen, aber mitſamt dem Stuhle und der Fremden darin und wollte die ganze Zeit nur mit dieſer ſich abgeben. Das ſah der Peter voraus, und das hatte ſeinen inneren Grimm auf den höchſten Punkt gebracht. Jetzt erblickte er den Stuhl, der ſo ſtolz da auf ſeinen Rollen ſtand, und ſchaute ihn an wie einen Feind, der ihm alles zuleide getan hatte und heute noch viel mehr tun wollte. Der Peter ſchaute um ſich — alles war ſtill, kein Menſch zu ſehen. Wie ein Wilder ſtürzte er jetzt auf den Stuhl, packte ihn an und ſtieß ihn mit ſo erbitterter Gewalt dem Bergabhange zu, daß der Stuhl förmlich davonflog und augenblicklich verſchwunden war. Jetzt ſtürzte der Peter die Alm hinan, als hätte er ſelber Flügel bekommen, und er ſetzte kein einziges Mal ab, bis er oben zu einem großen Brombeerſtrauch gelangte, hinter dem er verſchwinden konnte, denn er begehrte nicht, daß der Öhi ihn erblickte. Er wollte aber doch gern ſehen, was der Stuhl mache, und der Strauch auf dem Bergvorſprunge war gut gelegen. Der Peter konnte halb verborgen die Alm hinabſchauen und, kam der Öhi zum Vorſchein, hurtig ſich ganz verſtecken. So tat er, und was erſchauten ſeine Blicke! Weit unten ſchon ſtürzte ſein Feind dahin, von immer größerer Gewalt getrieben. Jetzt überſchlug er ſich, wieder und wieder, dann machte er einen hohen Satz, dann ſchlug es ihn wieder auf die Erde nieder, und überſchlagend rollte er ſeinem Verderben entgegen. Schon flogen da und dort die Stücke von ihm weg, Füße, Lehnen, Polſterfetzen, alles hoch in die Luft geworfen. Der Peter empfand eine ſo unbändige Freude an dem Anblick, daß er mit beiden Füßen zugleich in die Luft ſpringen mußte. Er lachte laut auf, er ſtampfte vor Wonne, er ſprang in Sätzen im Kreiſe herum, er kam wieder an denſelben Platz und guckte den Berg hinab. Ein neues Gelächter erſcholl, neue Luftſprünge; der Peter war völlig außer ſich vor Vergnügen über dieſen Untergang ſeines Feindes, denn er ſah lauter gute Dinge vor ſich, die nun kommen würden. Jetzt mußte die Fremde abreiſen, denn ſie hatte kein Mittel mehr, ſich zu bewegen. Das Heidi war wieder allein und kam mit ihm auf die Weide, und am Abend und Morgen war es für ihn da, wenn er kam, und alles war wieder in der alten Ordnung. Aber der Peter bedachte nicht, wie es geht, wenn man eine böſe Tat begangen hat, und was dann nachher kommt. Jetzt kam das Heidi aus der Hütte geſprungen und rannte dem Schopf zu. Hinter ihm her kam der Großvater mit Klara auf dem Arm. Die Schopftür ſtand weit offen, die beiden Bretter daneben waren weggeſtellt, bis in den hinterſten Winkel war es taghell. Das Heidi guckte hin und her, lief um die Ecke, kam wieder zurück, die ungeheuerſte Verwunderung lag auf ſeinem Geſichte. Nun trat der Großvater heran. „Was iſt das? Haſt du den Stuhl weggerollt, Heidi?“ fragte er. „Ich ſuche ihn ja allenthalben, Großvater, und du haſt geſagt, er ſtehe neben der Schopftür“, ſagte das Kind, immer noch nach allen Seiten mit den Augen herumſuchend. Der Wind war unterdeſſen ſtärker geworden; eben klapperte er an der Schopftür herum und warf ſie auf einmal krachend gegen die Wand zurück. „Großvater, der Wind hat's gemacht“, rief das Heidi, und ſeine Augen blitzten auf bei der Entdeckung. „Oh, wenn er den Stuhl bis ins Dörfli hinabgejagt hätte, dann bekäme man ihn erſt viel zu ſpät wieder, und wir könnten gar nicht gehen.“ „Wenn er dort hinuntergerollt iſt, ſo kommt er gar nicht mehr zurück, dann iſt er in hundert Stücken“, ſagte der Großvater, um die Ecke tretend und den Berg hinabſchauend. „Aber kurios iſt's doch zugegangen“, ſetzte er hinzu, indem er auf das Stück zurückſah, das der Stuhl erſt um die Ecke der Hütte herum zu machen hatte. „Oh, wie ſchade, jetzt können wir gar nicht gehen und vielleicht gar nie“, jammerte Klara. „Nun muß ich gewiß heimgehen, wenn ich keinen Stuhl mehr habe. Oh, wie ſchade! Wie ſchade!“ Aber das Heidi ſchaute ganz vertrauensvoll zu ſeinem Großvater auf und ſagte: „Gelt, Großvater, du kannſt ſchon etwas erfinden, daß es nicht ſo geht, wie die Klara meint, und daß ſie nicht auf einmal heim muß?“ „Jetzt gehen wir für diesmal auf die Weide, wie wir uns vorgenommen haben; dann wollen wir ſehen, was weiter kommt“, ſagte der Großvater. Die Kinder jubelten. Er trat nun wieder in die Hütte zurück, holte einen guten Teil der Tücher heraus, legte ſie auf den ſonnigſten Platz an die Hütte hin und ſetzte Klara darauf. Dann holte er den Kindern ihre Morgenmilch und führte Schwänli und Bärli vor den Stall hinaus. „Warum der nur ſo lange nicht von da unten heraufkommt“, ſagte der Öhi vor ſich hin, denn Peters Morgenpfiff war ja noch gar nicht ertönt. Jetzt nahm der Großvater Klara wieder auf den einen Arm, die Tücher auf den andern. „So, nun vorwärts!“ ſagte er vorangehend; „die Geißen kommen mit uns.“ Das war dem Heidi eben recht. Einen Arm um Schwänlis und einen um Bärlis Hals gelegt, wanderte das Heidi hinter dem Großvater her, und die Geißen hatten ſolche Freude, einmal wieder mit dem Heidi auszuziehen, daß ſie es faſt zuſammendrückten zwiſchen ſich vor lauter Zärtlichkeit. Oben auf dem Weideplatze angelangt, ſahen die Kommenden mit einemmal da und dort an den Abhängen die friedlich graſenden Geißen in Gruppen ſtehen und mittendrin den Peter, der Länge nach auf dem Boden liegend. „Ein andermal will ich dir das Vorbeigehen vertreiben, Schlafpelz, was heißt das?“ rief ihm der Öhi zu. Der Peter war bei dem Ton der bekannten Stimme aufgeſchoſſen. „War noch niemand auf“, gab er zurück. „Haſt du etwas von dem Stuhl geſehen?“ frug der Öhi wieder. „Von welchem?“ rief der Peter ſtörriſch zurück. Der Öhi ſagte nichts mehr. Er breitete ſeine Tücher an den ſonnigen Abhang hin, ſetzte Klara darauf und wollte wiſſen, ob's ihr ſo bequem ſei. „So bequem wie im Stuhl“, ſagte ſie dankend, „und am ſchönſten Platz bin ich da. Da iſt's ſo ſchön, Heidi, ſo ſchön!“ rief ſie, rings um ſich blickend, aus. Der Großvater ſchickte ſich zur Rückkehr an. Er ſagte, ſie ſollten ſich's nun wohl ſein laſſen miteinander, und wenn die Zeit da ſei, ſollte Heidi das Mittagsmahl herbeiholen, das er, in den Sack verpackt, drüben in den Schatten gelegt hatte. Dann ſollte der Peter ihnen Milch dazu geben, ſoviel ſie trinken wollten, aber das Heidi ſollte gut aufpaſſen, daß er ſie vom Schwänli nehme. Gegen Abend wollte der Großvater wiederkommen; jetzt wollte er vor allem dem Stuhle nachgehen und ſehen, was aus ihm geworden ſei. Der Himmel war dunkelblau, und um und um war nicht ein einziges Wölkchen zu ſehen. Auf dem großen Schneefelde drüben blitzte es wie von tauſend und tauſend Gold- und Silberſternen. Die grauen Felſenhörner ſtanden hoch und feſt an ihrem Platze, wie vor alter Zeit, und ſchauten ernſthaft ins Tal hinab. Der große Vogel wiegte ſich oben im Blau, und über die Höhen ſtrich der Bergwind hin und wehte kühl rings um die ſonnige Alp. Den Kindern war es unbeſchreiblich wohl. Von Zeit zu Zeit kam ein Geißlein heran und ließ ſich ein wenig nieder bei ihnen; am häufigſten kam das zärtliche Schneehöppli und legte ſein Köpfchen an das Heidi heran und wäre da wohl gar nicht mehr weggegangen, hätte es nicht ein anderes von der Herde wieder vertrieben. So lernte Klara jetzt eine um die andere von den Geißen ſo nahe kennen, daß ſie niemals mehr eine mit der andern verwechſelte, denn jede hatte ja auch ein ganz beſonderes Geſicht und ihre eigene Art. Sie wurden jetzt auch ſo zutraulich zu Klara, daß ſie ihr ganz nahe kamen und ihre Köpfe an ihren Schultern rieben; das war immer das Zeichen ihrer nahen Bekanntſchaft und Zuneigung. So waren ſchon einige Stunden vergangen; da kam es dem Heidi in den Sinn, wenn es doch einmal hinübergehen könnte an den Platz, wo die vielen Blumen waren, und ſehen, ob ſie auch alle offenſtehen und ſo ſchön ſeien wie vor dem Jahr. Erſt am Abend, wenn der Großvater wiederkam, konnte man auch mit Klara hinübergehen, und dann machten die Blumen vielleicht ſchon wieder die Augen zu. Das Verlangen ſtieg immer höher im Heidi, es konnte nicht mehr widerſtehen. Ein wenig zaghaft fragte es: „Wirſt du nicht böſe, Klara, wenn ich geſchwind von dir fortlaufe und du allein ſein mußt? Ich möchte ſo gern ſehen, wie die Blumen ſind. Aber warte...“ Dem Heidi war ein Gedanke gekommen. Es ſprang auf die Seite und riß ein paar ſchöne Büſchel von den grünen Kräutern aus. Dann nahm es das Schneehöppli um den Hals, das ihm gleich zugelaufen war, und führte es der Klara zu. „So, jetzt mußt du doch nicht allein ſein“, ſagte das Heidi, indem es auf ſeinen Platz neben Klara das Schneehöppli ein wenig hindrückte, was das Geißlein gleich gut verſtand und ſich niederlegte. Dann warf Heidi ſeine Blätter der Klara in den Schoß, und dieſe ſagte erfreut, das Heidi ſolle jetzt nur gehen und die Blumen recht anſehen, ſie wolle gern allein mit dem Geißlein bleiben; das hatte ſie ja noch gar nie erlebt. Das Heidi rannte fort, und Klara fing nun an, Blättchen für Blättchen dem Schneehöppli hinzuhalten, und dieſes wurde ſo zutraulich, daß es ſich ganz an ſeine neue Freundin anſchmiegte und die Blättchen ihr langſam aus den Fingern fraß. Man konnte auch gut ſehen, wie wohl es ihm war, daß es da ſo ruhig und friedlich in gutem Schutze liegen durfte, denn draußen bei der Herde hatte es immer viele Verfolgungen auszuſtehen von den großen und ſtarken Geißen. Der Klara kam es ſo köſtlich vor, ſo ganz allein auf einem Berge zu ſitzen, nur mit einem zutraulichen Geißlein, das ganz hilfsbedürftig zu ihr aufſah. Ein großer Wunſch ſtieg auf in ihr, auch einmal ihr eigener Herr zu ſein und einem andern helfen zu können und nicht nur immer ſich von allen anderen helfen laſſen zu müſſen. Und es kamen der Klara jetzt ſo viele Gedanken, die ſie gar nie gehabt hatte, und eine unbekannte Luſt, fortzuleben in dem ſchönen Sonnenſchein und etwas zu tun, mit dem ſie jemand erfreuen konnte, wie ſie jetzt das Schneehöppli erfreute. Eine ganz neue Freude kam ihr ins Herz, ſo als ob alles, was ſie wußte und kannte, auf einmal viel ſchöner und anders ſein könnte, als ſie es bis jetzt geſehen hatte, und es wurde ihr ſo ſchön und wohl zumute, daß ſie das Geißlein um den Hals nehmen und ausrufen mußte: „O Schneehöppli, wie ſchön iſt es hier oben; wenn ich nur immer da bei euch bleiben könnte!“ Das Heidi war unterdeſſen an dem Blumenplatze angekommen. Es ſtieß einen Freudenſchrei aus. Von leuchtendem Golde bedeckt lag die ganze Halde da. Das waren die ſchimmernden Ziſtröschen. Dichte, dunkelblaue Büſche von Glockenblumen wiegten ſich darüber, und ein ſo ſtarker gewürziger Duft wogte um die ſonnige Halde, als wären die köſtlichſten Balſamſchalen da oben ausgeſchüttet worden. Der ganze Wohlgeruch kam aber von den kleinen braunen Kolbenblümchen her, die ihre runden Köpfchen da und dort beſcheiden zwiſchen den Goldkelchen emporſtreckten. Das Heidi ſtand und ſchaute und zog den ſüßen Duft in langen Zügen ein. Auf einmal kehrte es um und kam außer Atem vor Erregung zu Klara zurück. „Oh, du mußt gewiß kommen“, rief es ihr ſchon von weitem zu. „Sie ſind ſo ſchön, und alles iſt ſo ſchön, und am Abend iſt es vielleicht nicht mehr ſo. Ich kann dich vielleicht tragen, meinſt du nicht?“ Klara ſchaute das erregte Heidi mit Verwunderung an; ſie ſchüttelte aber den Kopf. „Nein, nein, was denkſt du, Heidi; du biſt ja viel kleiner als ich. Oh, wenn ich nur gehen könnte!“ Jetzt ſchaute das Heidi ſuchend um ſich, es mußte etwas Neues im Sinne haben. Dort oben, wo der Peter vorher auf dem Boden gelegen hatte, ſaß er jetzt und ſtarrte auf die Kinder herunter. So hatte er ſchon ſeit Stunden geſeſſen und immerzu herabgeſtarrt, ſo als könne er nicht faſſen, was er vor ſich ſah. Er hatte den feindlichen Stuhl zerſtört, damit alles aufhören und die Fremde ſich gar nicht mehr bewegen könne, und eine kurze Weile nachher erſchien ſie da oben und ſaß vor ihm auf dem Boden neben dem Heidi. Das konnte ja nicht ſein, und doch war es immer noch ſo, er konnte hinſehen, wann er wollte. Jetzt ſchaute das Heidi zu ihm auf. „Komm hier herunter, Peter!“ rief es ſehr beſtimmt. „Komme nicht“, rief er zurück. „Doch, du mußt; komm, ich kann es nicht allein machen, du mußt mir helfen; komm ſchnell!“ drängte das Heidi. „Komme nicht“, ertönte es wieder. Jetzt ſprang das Heidi eine kleine Strecke den Berg hinan, dem Angeredeten entgegen. Da ſtand es mit flammenden Augen und rief hinauf: „Peter, wenn du nicht auf der Stelle kommſt, ſo will ich dir auch etwas machen, das du dann gewiß nicht gern haſt; das kannſt du glauben!“ Dieſe Worte gaben dem Peter einen Stich, und eine große Angſt packte ihn an. Er hatte etwas Böſes getan, das kein Menſch wiſſen ſollte. Bis jetzt hatte es ihn gefreut, aber nun redete das Heidi, wie wenn es alles wüßte, und was es wußte, ſagte es alles ſeinem Großvater, und vor dem fürchtete der Peter ſich ja wie vor keinem andern. Wenn er nun vernähme, was mit dem Stuhl vorgegangen war! Den Peter würgte die Angſt immer ärger. Er ſtand auf und kam dem wartenden Heidi entgegen. „Ich komme, aber dann mußt du das nicht machen“, ſagte er, ſo zahm vor Furcht, daß das Heidi ganz mitleidig wurde. „Nein, nein, das tu ich nun ſchon nicht“, verſicherte es. „Komm jetzt nur mit mir, es iſt nichts zum Fürchten, was du tun mußt.“ Bei Klara angelangt, ordnete nun das Heidi an, auf der einen Seite ſollte der Peter, auf der andern wollte es ſelbſt Klara feſt unter den Arm faſſen und aufheben. Das ging nun ziemlich gut, aber jetzt kam das Schwierigere. Klara konnte ja nicht ſtehen, wie ſollte man ſie nun feſthalten und vorwärts bringen? Das Heidi war zu klein, um ihr mit ſeinem Arm eine Stütze zu bieten. „Du mußt mich jetzt um den Hals nehmen, ganz feſt, ſo. Und den Peter mußt du am Arm nehmen und ganz feſt darauf drücken, dann können wir dich tragen.“ Aber der Peter hatte noch nie jemandem den Arm gegeben. Klara umfaßte dieſen wohl, der Peter aber hielt ihn ganz ſteif am Leibe herunter wie einen langen Stecken. „So macht man es nicht, Peter“, ſagte das Heidi ſehr beſtimmt. „Du mußt mit dem Arm einen Ring machen, und dann muß die Klara mit dem ihrigen durchfahren, und dann muß ſie ganz feſt aufdrücken, und du mußt um keinen Preis nachgeben, dann kommen wir ſchon vorwärts.“ Das wurde nun ſo ausgeführt. Man kam aber nicht gut vorwärts. Klara war nicht ſo leicht, und das Geſpann zu ungleich in der Größe. Auf der einen Seite ging es herab und auf der andern hinauf, das gab eine ziemliche Unſicherheit in den Stützen. Klara probierte es abwechſelnd ein wenig mit den eigenen Füßen, zog aber einen nach dem andern immer bald wieder zurück. „Stampf einmal recht herunter“, ſchlug das Heidi vor, „dann tut es dir gewiß nachher weniger weh.“ „Meinſt du?“ ſagte Klara zaghaft. Sie gehorchte aber und wagte einen feſten Schritt auf den Boden und dann mit dem zweiten Fuß; ſie ſchrie aber ein wenig auf dabei. Dann hob ſie den einen wieder und ſetzte ihn leiſer hin. „Oh, das hat ſchon viel weniger weh getan“, ſagte ſie voller Freude. „Mach's noch einmal“, drängte eifrig das Heidi. Klara tat es und dann noch einmal und noch einmal, und auf einmal ſchrie ſie auf: „Ich kann, Heidi! Oh, ich kann! Sieh! Sieh! Ich kann Schritte machen, einen nach dem andern.“ Jetzt jauchzte das Heidi noch viel mehr auf. „Oh! Oh! Kannſt du gewiß ſelbſt Schritte machen? Kannſt du jetzt gehen? Kannſt du gewiß ſelbſt gehen? Oh, wenn nur der Großvater käme! Jetzt kannſt du ſelbſt gehen, Klara, jetzt kannſt du gehen!“ rief es ein Mal ums andere in jubelnder Freude aus. Klara hielt ſich wohl feſt an auf beiden Seiten, aber mit jedem Schritt wurde ſie ein wenig ſicherer, das konnten alle drei empfinden. Das Heidi kam ganz außer ſich vor Freude. „Oh, nun können wir alle Tage miteinander auf die Weide gehen und auf der Alp herum, wo wir wollen“, rief es wieder aus, „und du kannſt dein Lebtag gehen, wie ich, und mußt nie mehr im Stuhl geſtoßen werden und wirſt geſund. Oh, das iſt die größte Freude, die wir haben können!“ Klara ſtimmte mit dem ganzen Herzen ein. Gewiß kannte ſie gar kein größeres Glück auf der Welt, als auch einmal geſund zu ſein und herumgehen zu können wie die anderen Menſchen und nicht mehr elend die ganzen Tage lang in den Krankenſeſſel gebannt zu ſein. Es war nicht weit zu der Blumenhalde hinüber. Dort ſah man ſchon das Glitzern der Goldröschen in der Sonne. Jetzt waren ſie bei den Büſchen der blauen Glockenblumen angekommen, wo zwiſchendurch der ſonnige Boden ſo einladend ausſah. „Können wir nicht hier niederſetzen?“ fragte Klara. Das war ganz nach Heidis Wunſch, und mitten in die Blumen hinein ſetzten ſich die Kinder, Klara zum erſtenmal, auf den trockenen, warmen Alpenboden hin; das gefiel ihr unbeſchreiblich wohl. Und nun rings um ſie die wiegenden blauen Glockenblumen, die ſchimmernden Goldröschen, das rote Tauſendgüldenkraut und um und um der ſüße Duft der braunen Kolbenblümchen, der würzigen Prünellen. Alles war ſo ſchön! So ſchön! Auch das Heidi neben ihr meinte, ſo ſchön ſei es noch nie geweſen da oben, und es wußte gar nicht, warum es eine ſolche Freude im Herzen hatte, daß es nur immer hätte laut jauchzen mögen. Aber auf einmal kam es ihm dann wieder in den Sinn, daß Klara geſund geworden war; das war zu allem Schönen ringsumher noch die allergrößte Freude. Klara wurde ganz ſtill vor Wonne und Entzücken über alles, was ſie ſah, und über alle die Ausſichten, die ihr aufgegangen waren durch das eben Erlebte. Das große Glück hatte faſt nicht Platz in ihrem Herzen, und der Sonnenglanz und Blumenduft dazu überwältigten ſie mit einem Wonnegefühl, das ſie völlig verſtummen machte. Auch der Peter lag ſtill und regungslos mitten in dem Blumenfelde, denn er war feſt eingeſchlafen. Leiſe und lieblich wehte hier der Wind hinter den ſchützenden Felſen hervor und ſäuſelte oben in den Büſchen. Von Zeit zu Zeit mußte das Heidi wieder aufſtehen und dahin laufen und dorthin, denn es war immer irgendwo noch ſchöner, die Blumen noch dichter, der Wohlgeruch noch ſtärker, weil ihn da der Wind hin und her wehte; überall mußte es wieder hinſetzen. So vergingen die Stunden. Die Sonne war längſt über den Mittag hinaus, als ein Trüppchen der Geißen ganz ernſthaft auf die Blumenhalde zugeſchritten kam. Es war nicht ihr Weideplatz, ſie wurden nie dahin geführt, denn es gefiel ihnen nicht, in den Blumen zu graſen. Sie ſahen aus wie eine Geſandtſchaft, der Diſtelfink voran. Die Geißen waren ſichtlich ausgegangen, ihre Geſellſchafter zu ſuchen, die ſie ſo lange im Stich gelaſſen hatten und über alle Ordnung hinaus fortgeblieben waren, denn die Geißen kannten ihre Zeit wohl. Als der Diſtelfink die drei Vermißten in dem Blumenfelde entdeckte, ſtieß er ein überlautes Meckern aus, und auf der Stelle ſtimmte der ganze Chor ein, und fortmeckernd kamen ſie alle dahergetrabt. Jetzt erwachte der Peter. Er mußte ſich aber ſtark die Augen reiben, denn es hatte ihm geträumt, der Rollſtuhl ſtehe wieder ſchön rot gepolſtert und unverſehrt vor der Hütte, und noch im Erwachen hatte er die goldenen Nägel um das Polſter herum in der Sonne blitzen geſehen, aber jetzt entdeckte er, daß es nur die gelben Glitzerblümchen auf dem Boden geweſen waren. Jetzt kam dem Peter die Angſt zurück, die er beim Anblick des unbeſchädigten Stuhles ganz verloren hatte. Wenn auch das Heidi verſprochen hatte, nichts zu machen, ſo war doch nun die Furcht im Peter lebendig geworden, die Sache könnte auch ſonſt noch auskommen. Er ließ ſich jetzt ganz zahm und willig zum Führer machen und tat alles perfekt ſo, wie das Heidi es haben wollte. Als nun wieder alle drei auf dem Weideplatz angekommen waren, holte das Heidi hurtig ſeinen vollen Speiſeſack herbei und ſchickte ſich an, ſein Verſprechen zu löſen, denn auf den Inhalt des Sackes hatte ſeine Drohung ſich bezogen. Es hatte wohl bemerkt am Morgen, wieviel gute Sachen der Großvater da hineinpackte, und mit Freuden hatte es vorausgeſehen, daß dem Peter davon ein guter Teil zufallen werde. Als er dann aber ſo ſtörrig war, wollte es ihm zu verſtehen geben, daß er nichts bekomme, was der Peter aber anders gedeutet hatte. Nun holte das Heidi Stück für Stück aus ſeinem Sack heraus und machte drei Häufchen davon, die wurden ſo hoch, daß es voller Befriedigung vor ſich hinſagte: „Dann bekommt er noch alles, was wir zuviel haben.“ Jetzt trug es jedem ſein Häufchen zu, und mit dem ſeinigen ſetzte es ſich neben Klara hin, und die Kinder ließen ſich's wohl ſchmecken nach der großen Anſtrengung. Es ging aber, wie das Heidi vorausgeſehen hatte: Als ſie beide völlig ſatt waren, blieb noch ſo viel übrig, daß dem Peter noch einmal ein Häufchen, ſo groß wie das erſte, zugeſchoben werden konnte. Er aß ſtill und beharrlich alles auf und dann noch die Krumen, aber er vollzog ſein Werk nicht mit der gewohnten Befriedigung. Dem Peter lag etwas auf dem Magen, das nagte und würgte ihn und klemmte ihm jeden Biſſen zuſammen. Die Kinder waren ſo ſpät zu ihrer Mahlzeit gekommen, daß ſchon gleich nachher der Großvater zu ſehen war, der die Alm hinanſtieg, um ſie abzuholen. Das Heidi ſtürzte ihm entgegen; es mußte ihm zuerſt ſagen, was ſich ereignet hatte. Es war indes ſo erregt von ſeiner beglückenden Nachricht, daß es die Worte faſt nicht fand, ſie dem Großvater mitzuteilen. Er verſtand aber ſogleich, was das Kind berichtete, und eine helle Freude kam auf ſein Geſicht. Er beſchleunigte ſeinen Schritt, und bei Klara angekommen, ſagte er fröhlich lächelnd: „So, haben wir's gewagt? Nun haben wir's auch gewonnen!“ Dann hob er Klara vom Boden auf, umfaßte ſie mit dem linken Arm und hielt ihr ſeine Rechte als ſtarke Stütze für ihre Hand hin, und Klara marſchierte, mit der feſten Wand im Rücken, noch viel ſicherer und unerſchrockener dahin, als ſie vorher getan hatte. Das Heidi hüpfte und jauchzte nebenher, und der Großvater ſah aus, als ſei ihm ein großes Glück widerfahren. Jetzt nahm er aber Klara mit einemmal auf ſeinen Arm und ſagte: „Wir wollen's nicht übertreiben, es iſt auch Zeit zur Heimkehr“, und er machte ſich gleich auf den Weg, denn er wußte, daß nun der Anſtrengungen für heute genug waren und Klara der Ruhe bedurfte. Als der Peter ſpät am Abend mit ſeinen Geißen nach dem Dörfli herunter kam, ſtand eine Menge von Leuten an einem Knäuel zuſammen, und eins ſtieß das andere ein wenig weg, um beſſer ſehen zu können, was mittendrin am Boden lag. Das mußte der Peter auch ſehen; er drückte und drängte rechts und links und bohrte ſich hinein. Da, jetzt ſah er's. Auf dem Graſe lag das Mittelſtück vom Rollſtuhl, und noch ein Teil des Rückens hing daran. Das rote Polſter und die glänzenden Nägel zeugten noch davon, wie prächtig der Stuhl in ſeiner Vollkommenheit ausgeſehen hatte. „Ich war dabei, als ſie ihn hinauftrugen“, ſagte der Bäcker, der neben dem Peter ſtand; „wenigſtens 500 Franken war er wert, das wett ich mit jedem. Es nimmt mich nur wunder, wie es zugegangen iſt.“ „Der Wind kann ihn heruntergejagt haben, das hat der Öhi ſelbſt geſagt“, bemerkte die Barbel, die nicht genug das ſchöne rote Zeug bewundern konnte. „Es iſt gut, daß es kein anderer iſt, der's getan hat“, ſagte der Bäcker wieder; „dem ging's ſchön! Wenn es der Herr in Frankfurt vernimmt, wird er ſchon unterſuchen laſſen, wie's zugegangen iſt. Ich für mich bin froh, daß ich ſeit zwei Jahren nie mehr auf der Alm war; der Verdacht kann auf jeden fallen, der um die Zeit dort oben geſehen wurde.“ Es wurden noch viele Meinungen ausgeſprochen, aber der Peter hatte genug gehört. Er kroch ganz zahm und ſachte aus dem Knäuel heraus und lief aus allen Kräften den Berg hinauf, ſo als wäre einer hinter ihm drein, der ihn packen wollte. Die Worte des Bäckers hatten ihm eine furchtbare Angſt eingejagt. Er wußte ja jetzt, daß jeden Augenblick ein Polizeidiener aus Frankfurt ankommen konnte, der die Sache unterſuchen mußte, und dann konnte es doch rauskommen, daß er es getan hatte, und dann würden ſie ihn packen und nach Frankfurt ins Zuchthaus ſchleppen. Das ſah der Peter vor ſich, und ſeine Haare ſträubten ſich vor Schrecken. Ganz verſtört kam er daheim an. Er gab keine Antwort, auf gar nichts, er wollte ſeine Kartoffeln nicht eſſen; eilends kroch er in ſein Bett hinein und ſtöhnte. „Der Peterli hat wieder Sauerampfer gegeſſen, er hat's im Magen, daß er ſo ächzen muß“, meinte die Mutter Brigitte. „Du mußt ihm ein wenig mehr Brot mitgeben, gib ihm morgen noch ein Stücklein von dem meinen“, ſagte die Großmutter mitleidig. Als die Kinder heute von ihren Betten in den Sternenſchein hinausſchauten, ſagte das Heidi: „Haſt du nicht heut den ganzen Tag denken müſſen, wie gut es doch iſt, daß der liebe Gott nicht nachgibt, wenn wir noch ſo furchtbar ſtark beten um etwas, wenn er etwas viel Beſſeres weiß?“ „Warum ſagſt du das jetzt auf einmal, Heidi?“ fragte Klara. „Weißt du, weil ich in Frankfurt ſo ſtark gebetet habe, daß ich doch auf der Stelle heimgehen könne, und weil ich das immer nicht konnte, habe ich gedacht, der liebe Gott habe nicht zugehört. Aber weißt du, wenn ich ſo bald fortgelaufen wäre, ſo wäreſt du nie gekommen, und du wäreſt nicht geſund geworden auf der Alp.“ Klara war ganz nachdenklich geworden. „Aber, Heidi“, fing ſie nun wieder an, „dann müßten wir ja um gar nichts beten, weil der liebe Gott ja ſchon immer etwas viel Beſſeres im Sinn hat, als wir wiſſen und wir von ihm erbitten wollen.“ „Ja, ja, Klara, meinſt du, es gehe dann nur ſo?“ eiferte jetzt das Heidi. „Alle Tage muß man zum lieben Gott beten und um alles, alles, denn er muß doch hören, daß wir es nicht vergeſſen, daß wir alles von ihm bekommen. Und wenn wir den lieben Gott vergeſſen wollen, ſo vergißt er uns auch, das hat die Großmama geſagt. Aber weißt du, wenn wir dann nicht bekommen, was wir gern hätten, dann müſſen wir nicht denken, der liebe Gott hat nicht zugehört, und ganz aufhören zu beten, ſondern dann müſſen wir ſo beten: Jetzt weiß ich ſchon, lieber Gott, daß du etwas Beſſeres im Sinn haſt, und jetzt will ich nur froh ſein, daß du es ſo gut machen willſt.“ „Wie iſt dir das alles ſo in den Sinn gekommen, Heidi?“ fragte Klara. „Die Großmama hat mir's zuerſt erklärt, und dann iſt es auch ſo gekommen, und dann hab ich's gewußt. Aber ich meine auch, Klara“, fuhr das Heidi fort, indem es ſich aufſetzte, „heute müſſen wir gewiß dem lieben Gott noch recht danken, daß er das große Glück geſchickt hat, daß du jetzt gehen kannſt.“ „Ja gewiß, Heidi, du haſt recht, und ich bin froh, daß du mich noch erinnerſt; vor lauter Freude hätte ich es faſt vergeſſen.“ Jetzt beteten die Kinder noch und dankten dem lieben Gott jedes in ſeiner Weiſe für das herrliche Gut, das er der ſo lange krank geweſenen Klara geſchenkt hatte. Am andern Morgen meinte der Großvater, nun könnte man einmal an die Frau Großmama ſchreiben, ob ſie nicht jetzt nach der Alp kommen wolle, es wäre da etwas Neues zu ſehen. Aber die Kinder hatten einen andern Plan gemacht. Sie wollten der Großmama eine große Überraſchung bereiten. Erſt ſollte Klara das Gehen noch beſſer lernen, ſo daß ſie, allein auf das Heidi geſtützt, einen kleinen Gang machen könnte; von allem aber müßte die Großmama keine Ahnung haben. Nun wurde der Großvater beraten, wie lange das noch währen könnte, und da er meinte, kaum acht Tage, ſo wurde im nächſten Briefe die Großmama dringend eingeladen, um dieſe Zeit auf die Alp zu kommen; von etwas Neuem wurde ihr aber kein Wort berichtet. Die Tage, die nun folgten, waren noch von den allerſchönſten, welche Klara auf der Alp verlebt hatte. Jeden Morgen erwachte ſie mit der lauten Freudenſtimme in ihrem Herzen: „Ich bin geſund! Ich bin geſund! Ich muß nicht mehr im Rollſtuhl ſitzen, ich kann ſelbſt umhergehen wie die anderen Menſchen!“ Dann folgte das Umhergehen, und jeden Tag ging es leichter und beſſer, und immer längere Gänge konnten gemacht werden. Die Bewegung brachte dann einen ſolchen Appetit mit ſich, daß der Großvater ſeine dicken Butterſchnitten täglich ein wenig größer machte und mit Wohlgefallen ſah, wie ſie verſchwanden. Er brachte jetzt auch immer einen großen Topf voll von der ſchäumenden Milch herbei und füllte Schüſſelchen um Schüſſelchen. So kam das Ende der Woche heran und damit der Tag, der die Großmama bringen ſollte! 9. Es wird Abſchied genommen, aber auf Wiederſehen Die Großmama hatte einen Tag vor ihrer Ankunft noch einen Brief nach der Alp hinauf geſchrieben, damit ſie oben beſtimmt wüßten, daß ſie komme. Dieſen Brief brachte am andern Tage der Peter in der Frühe mit ſich, als er auf die Weide zog. Schon war der Großvater mit den Kindern aus der Hütte getreten, und auch Schwänli und Bärli ſtanden beide draußen und ſchüttelten luſtig ihre Köpfe in der friſchen Morgenluft, während die Kinder ſie ſtreichelten und ihnen glückliche Reiſe wünſchten zu ihrer Bergfahrt. Behaglich ſtand der Öhi dabei und ſchaute bald auf die friſchen Geſichter der Kinder, bald auf ſeine ſauber glänzenden Geißen nieder. Beides mußte ihm gefallen, denn er lächelte vergnüglich. Jetzt kam der Peter heran. Als er die Gruppe gewahr wurde, näherte er ſich langſam, ſtreckte den Brief dem Öhi entgegen, und ſobald dieſer ihn erfaßt hatte, ſprang er ſcheu zurück, ſo als ob ihn etwas erſchreckt habe, und dann guckte er ſchnell hinter ſich, gerade als ob von hinten ihn auch noch etwas hätte erſchrecken wollen; dann machte er einen Sprung und lief davon, den Berg hinauf. „Großvater“, ſagte das Heidi, das dem Vorgang verwundert zugeſchaut hatte, „warum tut der Peter jetzt immer wie der große Türk, wenn der eine Rute hinter ſich merkt; dann ſcheut er mit dem Kopf und ſchüttelt ihn nach allen Seiten und macht auf einmal Sprünge in die Luft hinauf.“ „Vielleicht merkt der Peter auch eine Rute hinter ſich, die er verdient“, antwortete der Großvater. Nur die erſte Halde hinauf lief der Peter ſo in einem Zuge davon; ſobald man ihn von unten nicht mehr ſehen konnte, kam es anders. Da ſtand er ſtill und drehte ſcheu den Kopf nach allen Seiten. Plötzlich tat er einen Sprung und ſchaute hinter ſich, ſo erſchreckt, als habe ihn eben einer im Genick gepackt. Hinter jedem Buſch hervor, aus jeder Hecke heraus meinte jetzt der Peter den Polizeidiener aus Frankfurt auf ſich losſtürzen zu ſehen. Je länger aber dieſe geſpannte Erwartung dauerte, je ſchreckhafter wurde es dem Peter zumute, er hatte keinen ruhigen Augenblick mehr. Nun mußte das Heidi ſeine Hütte aufräumen, denn die Großmama ſollte doch alles in guter Ordnung finden, wenn ſie kam. Klara fand dieſes geſchäftige Treiben Heidis in allen Ecken der Hütte herum immer ſo kurzweilig, daß ſie mit Vorliebe dieſer Tätigkeit zuſchaute. So vergingen die frühen Morgenſtunden den Kindern unverſehens, und ſchon konnte man der Ankunft der Großmama entgegenſehen. Jetzt kamen die Kinder bereit und zum Empfange gerüſtet wieder heraus und ſetzten ſich nebeneinander auf die Bank vor die Hütte, in voller Erwartung auf die kommenden Ereigniſſe. Auch der Großvater trat jetzt wieder zu ihnen. Er hatte einen Gang gemacht und hatte einen großen Strauß dunkelblauer Enzianen mitgebracht, die leuchteten ſo ſchön in der hellen Morgenſonne, daß die Kinder aufjauchzten bei dem Anblick. Der Großvater trug ſie in die Hütte hinein. Von Zeit zu Zeit ſprang das Heidi von der Bank, um auszuſpähen, ob von dem Zuge der Großmama noch nichts zu entdecken ſei. Aber jetzt: Da kam es von unten herauf, gerade ſo, wie das Heidi es erwartet hatte. Voran ſtieg der Führer, dann kam das weiße Roß und die Großmama darauf, und zuletzt kam der Träger mit dem hohen Reff, denn ohne reichlich Schutzmittel zog die Großmama nun einmal nicht auf die Alp. Näher und näher kam der Zug. Jetzt war die Höhe erreicht; die Großmama erblickte die Kinder von ihrem Pferde herunter. „Was iſt denn das? Was ſeh ich, Klärchen? Du ſitzeſt nicht in deinem Seſſel! Wie iſt das möglich?“ rief ſie erſchrocken aus und ſtieg nun eilig herunter. Bevor ſie aber noch bei den Kindern angekommen war, ſchlug ſie die Hände zuſammen und rief in der höchſten Aufregung: „Klärchen, biſt du's, oder biſt du's nicht? Du haſt ja rote Wangen, kugelrunde! Kind! Ich kenne dich nicht mehr!“ Jetzt wollte die Großmama auf Klara losſtürzen. Aber unverſehens war das Heidi von der Bank geglitten, Klara hatte ſich ſchnell auf ſeine Schultern geſtützt, und fort wanderten die Kinder, ganz gelaſſen einen kleinen Spaziergang machend. Die Großmama war plötzlich ſtillgeſtanden, erſt vor Schrecken, ſie meinte nicht anders, als das Heidi ſtelle eben etwas Unerhörtes an. Aber was ſah ſie vor ſich! Aufrecht und ſicher ging Klara neben dem Heidi her; jetzt kamen ſie wieder zurück, beide mit ſtrahlenden Geſichtern, beide mit roſenroten Backen. Jetzt ſtürzte die Großmama ihnen entgegen. Lachend und weinend umarmte ſie ihr Klärchen, dann das Heidi, dann wieder Klara. Vor Freude fand die Großmama gar keine Worte. Auf einmal fiel ihr Blick auf den Öhi, der bei der Bank ſtand und mit behaglichem Lächeln nach den dreien herüberſchaute. Jetzt faßte die Großmama Klaras Arm in den ihrigen und wanderte mit ihr unter immerwährenden Ausrufungen des Entzückens, daß es ja wirklich ſo ſei, daß ſie umherwandern könne mit dem Kinde, der Bank zu. Hier ließ ſie Klara los und ergriff den Alten bei beiden Händen. „Mein lieber Öhi! Mein lieber Öhi! Was haben wir Ihnen zu danken! Es iſt Ihr Werk! Es iſt Ihre Sorge und Pflege...“ „Und unſeres Herrgotts Sonnenſchein und Almluft“, fiel der Öhi lächelnd ein. „Ja, und Schwänlis gute, ſchöne Milch gewiß auch“, rief nun Klara ihrerſeits. „Großmama, du ſollteſt nur wiſſen, wie ich die Geißenmilch trinken kann und wie gut ſie iſt!“ „Ja, das kann ich an deinen Backen ſehen, Klärchen“, ſagte jetzt die Großmama lachend. „Nein, dich kennt man nicht mehr; rund, breit biſt du ja geworden, wie ich nie geahnt, daß du je werden könnteſt, und groß biſt du, Klärchen! Nein, iſt es denn auch wahr? Ich kann dich ja nicht genug anſehen! Aber nun muß auf der Stelle telegrafiert werden an meinen Sohn in Paris, er muß ſogleich kommen. Ich ſag ihm nicht, warum, das iſt die größte Freude ſeines Lebens. Mein lieber Öhi, wie machen wir das? Sie haben wohl die Männer ſchon entlaſſen?“ „Die ſind fort“, antwortete er, „aber wenn's der Frau Großmama preſſiert, ſo läßt man den Geißenhüter herunterkommen, der hat Zeit.“ Die Großmama beſtand darauf, ſofort ihrem Sohne eine Depeſche zu ſchicken, denn dieſes Glück ſollte ihm keinen Tag vorenthalten bleiben. Nun ging der Öhi ein wenig auf die Seite, und hier tat er einen ſo durchdringenden Pfiff durch ſeine Finger, daß es hoch oben von den Felſen zurückpfiff, ſo weit weg hatte er das Echo geweckt. Es währte gar nicht lange, ſo kam der Peter heruntergerannt, er kannte den Pfiff wohl. Der Peter war kreideweiß, denn er dachte, der Almöhi rufe ihn zum Gericht. Es wurde ihm aber nur ein Papier übergeben, das die Großmama unterdeſſen überſchrieben hatte, und der Öhi erklärte ihm, er habe das Papier ſofort ins Dörfli hinunterzutragen und auf dem Poſtamt abzugeben, die Bezahlung werde der Öhi ſpäter ſelbſt in Ordnung bringen, denn ſo viele Dinge auf einmal konnte man dem Peter nicht übertragen. Dieſer ging nun mit ſeinem Papier in der Hand, für diesmal wieder erleichtert, davon, denn der Öhi hatte ja nicht zum Gericht gepfiffen, es war kein Polizeidiener angekommen. Endlich konnte man ſich denn feſt und ruhig zuſammen um den Tiſch vor der Hütte herumſetzen, und nun mußte der Großmama erzählt werden, wie von Anfang an alles ſich zugetragen hatte. Wie zuerſt der Großvater jeden Tag ein wenig das Stehen und dann ein Schrittchen mit Klara probiert hatte, wie dann die Reiſe auf die Weide gekommen war und der Wind den Rollſtuhl fortgejagt hatte. Wie Klara vor Begierde nach den Blumen den erſten Gang machen konnte und ſo eins aus dem andern gekommen war. Aber es währte lange, bis dieſe Erzählung von den Kindern zu Ende gebracht wurde, denn zwiſchendurch mußte die Großmama immer wieder in Verwunderung und in Lob und Dank ausbrechen, und immer wieder rief ſie aus: „Aber iſt es denn auch möglich! Iſt es denn auch wirklich kein Traum? Sind wir denn auch alle wach, und ſitzen wir hier vor der Almhütte, und das Mädchen vor mir mit dem runden, friſchen Geſicht iſt mein altes, bleiches, kraftloſes Klärchen?“ Und Klara und Heidi hatten immer neue Freude, daß ihre ſchön ausgedachte Überraſchung ſo gut gelungen war bei der Großmama und immer noch fortwirkte. Herr Seſemann hatte unterdeſſen ſeine Geſchäfte in Paris beendet, und auch er hatte vor, eine Überraſchung zu bereiten. Ohne ein Wort an ſeine Mutter zu ſchreiben, ſetzte er ſich an einem der ſonnigen Sommermorgen auf die Eiſenbahn und fuhr in einem Zuge bis nach Baſel, von wo er in aller Frühe des folgenden Tages gleich wieder aufbrach, denn es hatte ihn ein großes Verlangen ergriffen, einmal wieder ſein Töchterchen zu ſehen, von dem er nun den ganzen Sommer durch getrennt geweſen war. Im Bade Ragaz kam er einige Stunden nach der Abfahrt ſeiner Mutter an. Die Nachricht, daß ſie eben heute die Reiſe nach der Alp unternommen habe, kam ihm gerade recht. Sofort ſetzte er ſich in einen Wagen und fuhr nach Maienfeld hinüber. Als er da hörte, daß er auch noch bis zum Dörfli hinauffahren könne, tat er dies, denn er dachte, die Fußpartie den Berg hinauf werde ihm immer noch lang genug werden. Herr Seſemann hatte ſich nicht getäuſcht; die unausgeſetzte Steigung die Alp hinan kam ihm ſehr lang und beſchwerlich vor. Noch immer war keine Hütte in Sicht, und er wußte doch, daß auf halbem Wege er auf die Wohnung des Geißenpeter ſtoßen ſollte, denn oftmals hatte er die Beſchreibung dieſes Weges vernommen. Es waren überall Spuren von Fußgängern zu ſehen, manchmal gingen die ſchmalen Wege nach allen Richtungen hin. Herr Seſemann wurde unſicher, ob er auch auf dem richtigen Pfade ſei oder ob vielleicht die Hütte auf einer andern Seite der Alp liege. Er ſah ſich um, ob kein menſchliches Weſen zu entdecken ſei, das er um den Weg befragen könnte. Aber es war ſtill ringsum, weit und breit war nichts zu ſehen noch zu hören. Nur der Bergwind ſauſte dann und wann durch die Luft, und im ſonnigen Blau ſummten die kleinen Mücken, und ein luſtiges Vögelein pfiff da und dort auf einem einſamen Lärchenbäumchen. Herr Seſemann ſtand eine Weile ſtill und ließ ſich die heiße Stirne vom Alpenwinde kühlen. Jetzt kam jemand von oben heruntergelaufen; es war der Peter mit ſeiner Depeſche in der Hand. Er lief gradaus, ſteil herunter, nicht auf dem Fußwege, auf dem Herr Seſemann ſtand. Sobald der Läufer aber nahe genug war, winkte ihm Herr Seſemann, daß er herüberkommen ſollte. Zögernd und ſcheu kam der Peter heran, ſeitwärts, nicht gradaus, und ſo, als könne er nur mit dem einen Fuß richtig vorankommen und müſſe den andern nachſchleppen. „Na, Junge, friſch heran!“ ermunterte Herr Seſemann. „Jetzt ſag mir mal, komme ich auf dieſem Wege zu der Hütte hinauf, wo der alte Mann mit dem Kinde Heidi wohnt, bei dem die Leute aus Frankfurt ſind?“ Ein dumpfer Ton furchtbarſten Schreckens war die Antwort, und ſo maßlos ſchoß der Peter davon, daß er kopfüber und über die ſteile Halde hinabſtürzte und fortrollte in unwillkürlichen Purzelbäumen, immer weiter und weiter, ganz ähnlich, wie der Rollſtuhl getan hatte, nur daß glücklicherweiſe der Peter nicht in Stücke ging, wie es bei dem Seſſel der Fall geweſen war. Nur die Depeſche wurde arg zugerichtet und flog in Fetzen davon. „Merkwürdig ſchüchterner Bergbewohner“, ſagte Herr Seſemann vor ſich hin, denn er dachte nicht anders, als daß die Erſcheinung eines Fremden dieſen ſtarken Eindruck auf den einfachen Alpenſohn hervorgebracht habe. Nachdem er Peters gewalttätige Talfahrt noch ein wenig betrachtet hatte, ſetzte Herr Seſemann ſeinen Weg weiter fort. Der Peter konnte trotz aller Anſtrengung keinen feſten Standpunkt gewinnen, er rollte immerzu, und von Zeit zu Zeit überſchlug er ſich noch in beſonderer Weiſe. Aber das war nicht die ſchrecklichſte Seite ſeines Schickſals in dieſem Augenblick, viel erſchrecklicher waren die Angſt und das Entſetzen, die ihn erfüllten, nun er wußte, daß der Polizeidiener aus Frankfurt wirklich angekommen war. Denn er konnte nicht daran zweifeln, daß der Fremde es ſei, der den Frankfurtern beim Almöhi nachgefragt hatte. Jetzt, am letzten hohen Abhange oberhalb des Dörfli, warf es den Peter an einen Buſch hin, da konnte er ſich endlich feſtklammern. Einen Augenblick blieb er noch liegen, er mußte ſich erſt wieder ein wenig beſinnen, was mit ihm ſei. „Gut ſo, wieder einer!“ ſagte eine Stimme hart neben dem Peter. „Und wer kriegt morgen den Puff da droben, daß er herunterkommt wie ein ſchlechtvernähter Kartoffelſack?“ Es war der Bäcker, der ſo ſpottete. Da er da droben aus ſeinem heißen Tagewerk weg ſich ein wenig erluften wollte, hatte er ruhig zugeſehen, wie eben der Peter, dem Heranrollen des Stuhles nicht unähnlich, von oben heruntergekommen war. Der Peter ſchnellte auf ſeine Füße. Er hatte einen neuen Schrecken. Jetzt wußte der Bäcker auch ſchon, daß der Stuhl einen Puff bekommen hatte. Ohne ein einziges Mal zurückzuſehen, lief der Peter wieder den Berg hinauf. Am liebſten wäre er jetzt heimgegangen und in ſein Bett gekrochen, daß ihn keiner mehr finden konnte, denn da fühlte er ſich am ſicherſten. Aber er hatte ja die Geißen noch oben, und der Öhi hatte ihm noch eingeſchärft, bald wiederzukommen, damit die Herde nicht zu lange allein ſei. Den Öhi aber fürchtete er vor allen und hatte einen ſolchen Reſpekt vor ihm, daß er niemals gewagt hätte, ihm ungehorſam zu ſein. Der Peter ächzte laut und hinkte weiter, es mußte ja ſein, er mußte wieder hinauf. Aber rennen konnte er jetzt nicht mehr, die Angſt und die mannigfaltigen Stöße, die er ſoeben erduldet hatte, konnten nicht ohne Wirkung bleiben. So ging es denn mit Hinken und Stöhnen weiter die Alm hinauf. Herr Seſemann hatte kurz nach der Begegnung mit Peter die erſte Hütte erreicht und wußte nun, daß er auf dem richtigen Wege war. Er ſtieg mit erneutem Mute weiter, und endlich, nach langer, mühevoller Wanderung, ſah er ſein Ziel vor ſich. Dort oben ſtand die Almhütte, und oben darüber wogten die dunkeln Wipfel der alten Tannen. Herr Seſemann ging mit Freuden an die letzte Steigung, gleich konnte er ſein Kind überraſchen. Aber ſchon war er von der Geſellſchaft vor der Hütte entdeckt und erkannt worden, und für den Vater wurde vorbereitet, was er nicht ahnte. Als er den letzten Schritt zur Höhe getan hatte, kamen ihm von der Hütte her zwei Geſtalten entgegen. Es war ein großes Mädchen mit hellblonden Haaren und einem roſigen Geſichtchen, das ſtützte ſich auf das kleinere Heidi, dem ganze Freudenblitze aus den dunklen Augen funkelten. Herr Seſemann ſtutzte, er ſtand ſtill und ſtarrte die Herankommenden an. Auf einmal ſtürzten ihm die großen Tränen aus den Augen. Was ſtiegen auch für Erinnerungen in ſeinem Herzen auf! Ganz ſo hatte Klaras Mutter ausgeſehen, das blonde Mädchen mit den angehauchten Roſenwangen. Herr Seſemann wußte nicht, war er wachend, oder träumte er. „Papa, kennſt du mich denn gar nicht mehr?“ rief ihm jetzt Klara mit freudeſtrahlendem Geſicht entgegen. „Bin ich denn ſo verändert?“ Nun ſtürzte Herr Seſemann auf ſein Töchterchen zu und ſchloß es in ſeine Arme. „Ja, du biſt verändert! Iſt es möglich? Iſt es Wirklichkeit?“ Und der überglückliche Vater trat wieder einen Schritt zurück, um noch einmal hinzuſehen, ob denn das Bild nicht verſchwinde vor ſeinen Augen. „Biſt du's, Klärchen, biſt du's denn wirklich?“ mußte er ein Mal ums andere ausrufen. Dann ſchloß er ſein Kind wieder in die Arme, und gleich nachher mußte er noch einmal ſehen, ob es wirklich ſein Klärchen ſei, das aufrecht vor ihm ſtand. Jetzt war auch die Großmama herbeigekommen, ſie konnte nicht ſo lange warten, bis ſie das glückliche Geſicht ihres Sohnes erblicken ſollte. „Na, mein lieber Sohn, was ſagſt du jetzt?“ rief ſie ihm zu. „Die Überraſchung, die du uns machſt, iſt recht ſchön; aber diejenige, die man dir bereitet hat, iſt noch viel ſchöner, nicht?“ Und die erfreute Mutter begrüßte nun mit großer Herzlichkeit ihren lieben Sohn. „Aber jetzt, mein Lieber“, ſagte ſie dann, „kommſt du mit mir dort hinüber, unſern Öhi zu begrüßen, der iſt unſer allergrößter Wohltäter.“ „Gewiß, und auch unſere Hausgenoſſin, unſer kleines Heidi, muß ich noch begrüßen“, ſagte Herr Seſemann, indem er Heidis Hand ſchüttelte. „Nun? Immer friſch und geſund auf der Alp? Aber man muß nicht fragen, kein Alpenröschen kann blühender ausſehen. Das iſt mir eine Freude, Kind, das iſt mir eine große Freude!“ Auch das Heidi ſchaute mit leuchtender Freude zu dem freundlichen Herrn Seſemann auf. Wie gut war er immer zu ihm geweſen! Und daß er nun hier auf der Alp ein ſolches Glück finden ſollte, das machte Heidis Herz laut ſchlagen vor großer Freude. Jetzt führte die Großmama ihren Sohn zum Almöhi hinüber, und während nun die beiden Männer ſich ſehr herzlich die Hände ſchüttelten und Herr Seſemann begann, ſeinen tiefgefühlten Dank auszuſprechen und ſein unermeßliches Erſtaunen darüber, wie nur dieſes Wunder hatte geſchehen können, da wandte ſich die Großmama und ging ein wenig nach der andern Seite hinüber, dann das hatte ſie nun ſchon durchgeſprochen. Sie wollte einmal nach den alten Tannen ſehen. Da harrte ihrer ſchon wieder etwas Unerwartetes. Mitten unter den Bäumen, da, wo die langen Äſte noch einen freien Platz gelaſſen hatten, ſtand ein großer Buſch der wundervollſten, dunkelblauen Enzianen, ſo friſch und glänzend, als wären ſie eben da herausgewachſen. Die Großmama ſchlug die Hände zuſammen vor Entzücken. „Wie köſtlich! Wie prächtig! Welch ein Anblick!“ rief ſie ein Mal ums andere aus. „Heidi, mein liebes Kind, komm hierher! Haſt du mir das zur Freude bereitet? Es iſt vollkommen wundervoll.“ Die Kinder waren ſchon da. „Nein, nein, ich gewiß nicht“, ſagte das Heidi, „aber ich weiß ſchon, wer's gemacht hat.“ „So iſt's droben auf der Weide, Großmama, und noch viel ſchöner“, fiel hier Klara ein. „Aber rat einmal, wer dir heut früh ſchon die Blumen von der Weide heruntergeholt hat!“ Und Klara lächelte ſo vergnüglich zu ihrer Rede, daß der Großmama einen Augenblick der Gedanke kam, das Kind ſei am Ende heute ſelbſt ſchon dort oben geweſen. Das war doch aber faſt nicht möglich. Jetzt hörte man ein leiſes Geräuſch hinter den Tannenbäumen; es kam vom Peter her, der unterdeſſen hier oben angelangt war. Da er aber geſehen hatte, wer beim Öhi vor der Hütte ſtand, hatte er einen großen Bogen gemacht und wollte nun ganz heimlich hinter den Tannen hinaufſchleichen. Aber die Großmama hatte ihn erkannt, und plötzlich ſtieg ein neuer Gedanke in ihr auf. Sollte der Peter die Blumen heruntergebracht haben und nun aus lauter Scheu und Beſcheidenheit ſo heimlich vorbeiſchleichen wollen? Nein, das durfte nicht ſein, er ſollte doch eine kleine Belohnung haben. „Komm, mein Junge, komm hier heraus, friſch, ohne Scheu!“ rief die Großmama laut und ſteckte ein wenig den Kopf zwiſchen die Bäume hinein. Starr vor Schrecken ſtand der Peter ſtill. Er hatte keine Widerſtandskraft mehr nach allem Erlebten. Er fühlte nur noch das eine: Jetzt iſt's aus! Alle Haare ſtanden ihm aufrecht auf dem Kopf, und farblos und entſtellt von höchſter Angſt trat der Peter hinter den Tannen hervor. „Nur friſch heran, ohne Umwege“, ermunterte die Großmama. „So, nun ſag mir mal, Junge, haſt du das gemacht?“ Der Peter hob ſeine Augen nicht auf und ſah nicht, wohin der Zeigefinger der Großmama wies. Er hatte geſehen, daß der Öhi an der Ecke der Hütte ſtand und daß deſſen graue Augen durchdringend auf ihn gerichtet waren, und neben dem Öhi ſtand das Schrecklichſte, das der Peter kannte, der Polizeidiener aus Frankfurt. An allen Gliedern zitternd und bebend, ſtieß der Peter einen Laut hervor, es war ein „Ja“. „Nanu“, ſagte die Großmama, „was iſt denn das Schreckliche dabei?“ „Daß er... daß er... daß er auſeinander iſt und man ihn nicht mehr ganz machen kann“, brachte mühſam der Peter heraus, und nun ſchlotterten ſeine Knie ſo, daß er faſt nicht mehr ſtehen konnte. Die Großmama ging nach der Hüttenecke hinüber. „Mein lieber Öhi, rappelt es denn wirklich ernſtlich bei dem armen Buben?“ fragte ſie teilnehmend. „Gar nicht, gar nicht“, verſicherte der Öhi. „Der Bube iſt nur der Wind, der den Rollſtuhl fortgejagt hat, und nun erwartet er ſeine wohlverdiente Strafe.“ Das konnte nun die Großmama gar nicht glauben, denn ſie meinte, boshaft ſehe der Peter doch ganz und gar nicht aus, und ſonſt hätte er doch keinen Grund gehabt, den ſo notwendigen Rollſtuhl zu zerſtören. Aber dem Öhi war das Geſtändnis nur die Beſtätigung eines Verdachtes geweſen, der gleich nach der Tat in ihm aufgeſtiegen war. Die grimmigen Blicke, die der Peter von Anfang an der Klara zugeworfen hatte, und andere Merkmale ſeiner Erbitterung gegen die neuen Erſcheinungen auf der Alp waren dem Öhi nicht entgangen. Er hatte einen Gedanken an den andern gehängt, und ſo hatte er genau den ganzen Gang der Dinge erkannt und teilte ihn jetzt der Großmama in aller Klarheit mit. Als er zu Ende war, brach die Dame in große Lebhaftigkeit aus. „Nein, mein lieber Öhi, nein, nein, den armen Buben wollen wir nicht weiter ſtrafen. Man muß billig ſein. Da kommen die fremden Leute aus Frankfurt hereingebrochen und nehmen ihm ganze Wochen lang das Heidi weg, ſein einziges Gut und wirklich ein großes Gut, und da ſitzt er allein Tag für Tag und hat das Nachſehen. Nein, nein, da muß man billig ſein; der Zorn hat ihn überwältigt und hat ihn zu der Rache getrieben, die ein wenig dumm war, aber im Zorn werden wir alle dumm.“ Damit ging die Großmama zum Peter zurück, der noch immerfort bebte und ſchlotterte. Sie ſetzte ſich auf die Bank unter die Tanne und ſagte freundlich: „So, nun komm, mein Junge, da vor mich hin, ich habe dir etwas zu ſagen. Höre auf zu zittern und zu beben und hör mir zu, das will ich haben. Du haſt den Rollſtuhl den Berg hinuntergejagt, damit er zerſchmettere. Das war etwas Böſes, das haſt du recht wohl gewußt, und daß du eine Strafe verdienteſt, das wußteſt du auch, und damit du dieſe nicht erhalteſt, haſt du dich recht anſtrengen müſſen, daß keiner es merke, was du getan hatteſt. Aber ſiehſt du: Wer etwas Böſes tut und denkt, es weiß keiner, der verrechnet ſich immer. Der liebe Gott ſieht und hört ja doch alles, und ſobald er bemerkt, daß ein Menſch ſeine böſe Tat verheimlichen will, ſo weckt er ſchnell in dem Menſchen das Wächterchen auf, das er ſchon bei ſeiner Geburt in ihn hineingeſetzt hat und das da drinnen ſchlafen darf, bis der Menſch ein Unrecht tut. Und das Wächterchen hat einen kleinen Stachel in der Hand, mit dem ſticht es nun in einem fort den Menſchen, daß er gar keinen ruhigen Augenblick mehr hat. Und auch mit ſeiner Stimme beängſtigt es den Gequälten noch, denn es ruft ihm immer quälend zu: ‚Jetzt kommt alles aus! jetzt holen ſie dich zur Strafe!‘ So muß er immer in Angſt und Schrecken leben und hat keine Freude mehr, gar keine. Haſt du nicht auch ſo etwas erfahren, Peter, eben jetzt?“ Der Peter nickte ganz zerknirſcht, aber wie ein Kenner, denn gerade ſo war es ihm ergangen. „Und noch in einer Weiſe haſt du dich verrechnet“, fuhr die Großmama fort. „Sieh, wie das Böſe, das du tateſt, zum Beſten ausfiel für die, der du es zufügen wollteſt! Weil Klara keinen Seſſel mehr hatte, auf dem man ſie hinbringen konnte, und doch die ſchönen Blumen ſehen wollte, ſo ſtrengte ſie ſich ganz beſonders an zu gehen, und ſo lernte ſie's und geht nun immer beſſer, und bleibt ſie hier, ſo kann ſie am Ende jeden Tag hinauf zur Weide gehen, viel öfter, als ſie in ihrem Stuhle hinaufgekommen wäre. Siehſt du wohl, Peter? So kann der liebe Gott, was einer böſe machen wollte, nur ſchnell in ſeine Hand nehmen und für den andern, der geſchädigt werden ſollte, etwas Gutes daraus machen, und der Böſewicht hat das Nachſehen und den Schaden davon. Haſt du nun auch alles gut verſtanden, Peter, ja? So denk daran, und jedesmal, wenn es dich wieder gelüſten ſollte, etwas Böſes zu tun, denk an das Wächterchen da drinnen mit dem Stachel und der unangenehmen Stimme. Willſt du das tun?“ „Ja, ſo will ich“, antwortete der Peter, noch ſehr gedrückt, denn noch wußte er ja nicht, wie alles enden würde, da der Polizeidiener immer noch drüben ſtand neben dem Öhi. „So, nun iſt's gut, die Sache iſt abgetan“, ſchloß die Großmama. „Nun ſollſt du aber auch noch ein Andenken an die Frankfurter haben, das dich freut. So ſag mir nun, mein Junge, haſt du auch ſchon mal was gewünſcht, das du haben möchteſt? Was war's denn? Was möchteſt du am liebſten haben?“ Jetzt hob der Peter ſeinen Kopf auf und ſtarrte die Großmama mit ganz kugelrunden, erſtaunten Augen an. Noch immer hatte er etwas Schreckliches erwartet, und nun ſollte er auf einmal bekommen, was er gern hätte. Dem Peter kam alles durcheinander in ſeinen Gedanken. „Ja, ja, es iſt mir Ernſt“, ſagte die Großmama. „Du ſollſt etwas haben, das dich freut, zur Erinnerung an die Leute von Frankfurt und zum Zeichen, daß ſie nicht mehr daran denken, daß du etwas Unrechtes getan haſt. Verſtehſt du's nun, Junge?“ In dem Peter fing die Einſicht aufzudämmern an, daß er keine Strafe mehr zu befürchten habe und daß die gute Frau, die vor ihm ſaß, ihn aus der Gewalt des Polizeidieners errettet hatte. Jetzt empfand er eine Erleichterung, als fiele ein Berg von ihm ab, der ihn faſt zuſammengedrückt hatte. Aber nun hatte er auch begriffen, daß es beſſer geht, wenn man gleich eingeſtellt, was gefehlt iſt, und auf einmal ſagte er: „Und das Papier hab ich auch verloren.“ Die Großmama mußte ſich ein wenig beſinnen, aber der Zuſammenhang kam ihr bald in den Sinn, und ſie ſagte freundlich: „So, ſo, es iſt recht, daß du's ſagſt! Immer gleich bekennen, was nicht recht iſt; dann kommt's wieder in Ordnung. Und jetzt, was hätteſt du gern?“ Nun konnte der Peter auf der Welt wünſchen, was er nur wollte. Es wurde ihm faſt ſchwindelig. Der ganze Jahrmarkt von Maienfeld flimmerte vor ſeinen Augen mit all den ſchönen Sachen, die er oft ſtundenlang angeſtaunt und für immer unerreichbar gehalten hatte, denn Peters Beſitztum hatte nie einen Fünfer überſtiegen, und alle die lockenden Gegenſtände koſteten immer das Doppelte. Da waren die ſchönen roten Pfeifchen, die er ſo gut für ſeine Geißen brauchen konnte. Da waren die lockenden Meſſer mit runden Heften, Krötenſtecher genannt, mit denen man in allen Haſelrutenhecken die beſten Geſchäfte machen konnte. Tiefſinnig ſtand der Peter da, denn er überdachte, welches von den zweien das Wünſchbarſte wäre, und er fand den Entſcheid nicht. Aber jetzt kam ihm ein lichtvoller Gedanke; ſo konnte er ſich noch bis zum nächſten Jahrmarkt beſinnen. „Einen Zehner“, antwortete Peter jetzt entſchloſſen. Die Großmama lachte ein wenig. „Das iſt nicht übertrieben. So komm her!“ Sie zog jetzt ihren Beutel heraus und nahm einen großen, runden Taler heraus; darauf legte ſie noch zwei Zehnerſtückchen. „So, wir wollen gerade Rechnung machen“, fuhr ſie fort; „das will ich dir erklären. Hier haſt du nun gerade ſo viele Zehner, als Wochen im Jahre ſind! So kannſt du jeden Sonntag einen Zehner hervornehmen und verbrauchen, das ganze Jahr durch.“ „Meiner Lebtag?“ fragte der Peter ganz harmlos. Jetzt mußte die Großmama ſo ungeheuer lachen, daß die Herren drüben ihr Geſpräch unterbrechen mußten, um zu hören, was da vorgehe. Die Großmama lachte immer noch. „Das ſollſt du haben, Junge, das gibt einen Paſſus in mein Teſtament, hörſt du, mein Sohn? Und nachher geht er in das deinige über, alſo: Dem Geißenpeter einen Zehner wöchentlich, ſolange er am Leben iſt.“ Herr Seſemann nickte zuſtimmend und lachte auch herüber. Der Peter ſchaute noch einmal auf das Geſchenk in ſeiner Hand, ob es auch wirklich wahr ſei. Dann ſagte er: „Danke Gott!“ Und nun rannte er davon in ganz ungewöhnlichen Sprüngen, aber diesmal blieb er doch auf den Füßen, denn jetzt trieb ihn nicht der Schrecken davon, ſondern eine Freude, wie der Peter noch gar keine gekannt hatte ſein Leben lang. Alle Angſt und Schrecken waren vergangen, und jede Woche hatte er einen Zehner zu erwarten ſein Leben lang. Als ſpäter die Geſellſchaft vor der Almhütte das fröhliche Mittagsmahl beendet hatte und nun noch in allerlei Geſprächen zuſammenſaß, da nahm Klara ihren Vater, der ganz ſtrahlte vor Freude und jedesmal, wenn er ſie wieder anſchaute, noch ein wenig glücklicher ausſah, bei der Hand und ſagte mit einer Lebhaftigkeit, die man nie an der matten Klara gekannt hatte: „O Papa, wenn du nur wüßteſt, was der Großvater alles für mich getan hat! So viel alle Tage, daß man es gar nicht nacherzählen kann, aber ich vergeſſe es in meinem ganzen Leben nicht. Und immer denke ich, wenn ich nur dem lieben Großvater auch etwas tun könnte oder etwas ſchenken, das ihm ſo recht Freude machen würde, auch nur halb ſoviel, wie er mir Freude gemacht hat.“ „Das iſt ja auch mein größter Wunſch, liebes Kind“, ſagte der Vater. „Ich ſinne ſchon immer darüber nach, wie wir unſerem Wohltäter unſeren Dank auch nur einigermaßen dartun könnten.“ Herr Seſemann ſtand jetzt auf und ging zum Öhi hinüber, der neben der Großmama ſaß und ſich ausnehmend gut mit ihr unterhalten hatte. Er ſtand aber jetzt auch auf. Herr Seſemann ergriff ſeine Hand und ſagte in der freundſchaftlichſten Weiſe: „Mein lieber Freund, laſſen Sie uns ein Wort zuſammen ſprechen! Sie werden es verſtehen, wenn ich Ihnen ſage, daß ich ſeit langen Jahren keine rechte Freude mehr kannte. Was war mir all mein Geld und Gut, wenn ich mein armes Kind anblickte, das ich mit keinem Reichtum geſund und glücklich machen konnte? Nächſt unſerm Gott im Himmel haben Sie mir das Kind geſund gemacht und mir, wie ihm, damit ein neues Leben geſchenkt. Nun ſprechen Sie, womit kann ich Ihnen meine Dankbarkeit zeigen? Vergelten kann ich nie, was Sie uns getan haben, aber was ich vermag, das ſtelle ich zu Ihrer Verfügung. Sprechen Sie, mein Freund, was darf ich tun?“ Der Öhi hatte ſtill zugehört und den glücklichen Vater mit vergnügtem Lächeln angeblickt. „Herr Seſemann glaubt mir wohl, daß ich meinen Teil an der großen Freude über die Geneſung auf unſerer Alm auch habe; meine Mühe iſt mir wohl dadurch vergolten“, ſagte jetzt der Öhi in ſeiner feſten Weiſe. „Für die gütigen Anerbietungen danke ich Herrn Seſemann, ich habe nichts nötig. Solange ich lebe, habe ich für das Kind und für mich genug. Aber einen Wunſch hätte ich; wenn mir der erfüllt werden könnte, ſo hätte ich für dieſes Leben keine Sorge mehr.“ „Sprechen Sie, ſprechen Sie, mein lieber Freund!“ drängte Herr Seſemann. „Ich bin alt“, fuhr der Öhi fort, „und kann nicht mehr lange hierbleiben. Wenn ich gehe, kann ich dem Kinde nichts hinterlaſſen, und Verwandte hat es keine mehr; nur eine einzige Perſon, die würde noch ihren Vorteil aus ihm ziehen wollen. Wenn mir der Herr Seſemann die Zuſicherung geben wollte, daß das Heidi nie in ſeinem Leben hinaus muß, um ſein Brot unter den Fremden zu ſuchen, dann hätte er mir reichlich zurückgegeben, was ich für ihn und ſein Kind tun konnte.“ „Aber, mein lieber Freund, davon kann ja niemals eine Rede ſein“, brach Herr Seſemann nun aus. „Das Kind gehört ja zu uns. Fragen Sie meine Mutter, meine Tochter; das Kind Heidi werden Sie ja in ihrem Leben nicht anderen Leuten überlaſſen! Aber da, wenn es Ihnen eine Beruhigung iſt, mein Freund, hier meine Hand darauf. Ich verſpreche Ihnen: Nie in ſeinem Leben ſoll dieſes Kind hinaus, um unter fremden Menſchen ſein Brot zu verdienen; dafür will ich ſorgen, auch über meine Lebenszeit hinaus. Nun aber will ich noch etwas ſagen. Dieſes Kind iſt nicht für ein Leben in der Fremde gemacht, wie auch die Verhältniſſe wären; das haben wir erfahren. Aber es hat ſich Freunde gemacht. Einen ſolchen kenne ich, der iſt noch in Frankfurt; da tut er ſeine letzten Geſchäfte ab, um dann nachher dahin zu gehen, wo es ihm gefällt, und ſich da zur Ruhe zu ſetzen. Das iſt mein Freund, der Doktor, der noch dieſen Herbſt hier ankommen wird und, Ihren Rat dazu in Anſpruch nehmend, ſich in dieſer Gegend niederlaſſen will, denn in Ihrer und des Kindes Geſellſchaft hat er ſich ſo wohl befunden wie ſonſt nirgends mehr. So ſehen Sie, das Kind Heidi wird fortan zwei Beſchützer in ſeiner Nähe haben. Mögen ihm beide miteinander noch recht lange erhalten bleiben!“ „Das gebe der liebe Gott!“ fiel hier die Großmama ein, und den Wunſch ihres Sohnes beſtätigend, ſchüttelte ſie dem Öhi eine gute Weile mit großer Herzlichkeit die Hand. Dann faßte ſie auf einmal das Heidi um den Hals, das neben ihr ſtand, und zog es zu ſich heran. „Und du, mein liebes Heidi, dich muß man doch auch noch fragen. Komm, ſag mir mal: Haſt du denn nicht auch einen Wunſch, den du gern erfüllt hätteſt?“ „Ja freilich, das hab ich ſchon“, antwortete das Heidi und blickte ſehr erfreut zu der Großmama auf. „So, das iſt recht, ſo komm heraus damit“, ermunterte dieſe. „Was hätteſt du denn gern, Kind?“ „Ich hätte gern mein Bett aus Frankfurt mit den drei hohen Kiſſen und der dicken Decke, dann muß die Großmutter nicht mehr mit dem Kopf bergab liegen und kann faſt nicht atmen, und ſie hat warm genug unter der Decke und muß nicht immer mit dem Schal ins Bett gehen, weil ſie ſonſt furchtbar friert.“ Das Heidi hatte alles in einem Atemzuge geſagt vor Eifer, zu ſeinem gewünſchten Ziel zu kommen. „Ach mein liebes Heidi, was ſagſt du mir da!“ rief die Großmama erregt aus. „Das iſt gut, daß du mich erinnerſt. In der Freude vergißt man leicht, woran man zuallererſt hätte denken ſollen. Wenn uns der liebe Gott etwas Gutes ſchickt, müßten wir doch gleich an diejenigen denken, die ſo viel entbehren! Jetzt wird auf der Stelle nach Frankfurt telegrafiert! Noch heute ſoll die Rottenmeier das Bett zuſammenpacken, in zwei Tagen kann es daſein. Will's Gott, ſoll die Großmutter gut ſchlafen darin!“ Das Heidi hüpfte frohlockend rings um die Großmama herum. Aber auf einmal ſtand es ſtill und ſagte eilig: „Nun muß ich gewiß geſchwind zur Großmutter hinunter, es wird ihr auch wieder angſt, wenn ich ſo lang nicht mehr komme.“ Denn nun konnte das Heidi es nicht mehr erwarten, der Großmutter die Freudenbotſchaft zu bringen, und es war ihm auch wieder in den Sinn gekommen, wie es der Großmutter angſt geweſen, als es zuletzt bei ihr war. „Nein, nein, Heidi, was meinſt du?“ ermahnte der Großvater. „Wenn man Beſuch hat, läuft man nicht mit einemmal auf und davon.“ Aber die Großmama unterſtützte das Heidi. „Mein lieber Öhi, das Kind hat ſo unrecht nicht“, ſagte ſie. „Die arme Großmutter iſt auch ſeit langem viel zu kurz gekommen um meinetwillen. Nun wollen wir gleich alle miteinander zu ihr gehen, und ich denke, dort warte ich mein Pferd ab, und wir ſetzen dann unſeren Weg weiter fort, und unten im Dörfli wird ſogleich das Telegramm nach Frankfurt aufgegeben. Mein Sohn, was meinſt du dazu?“ Herr Seſemann hatte bis jetzt noch gar nicht Zeit gehabt, über ſeine Reiſepläne zu ſprechen. Er mußte alſo ſeine Mutter bitten, nicht ſogleich ihr Unternehmen auszuführen, ſondern noch einen Augenblick ſitzen zu bleiben, bis er ſeine Abſicht ausgeſprochen habe. Herr Seſemann hatte ſich vorgenommen, mit ſeiner Mutter eine kleine Reiſe durch die Schweiz zu machen und erſt zu ſehen, ob ſein Klärchen imſtande ſei, eine kurze Strecke mitzureiſen. Nun war es ſo gekommen, daß er die genußreichſte Reiſe in Geſellſchaft ſeiner Tochter vor ſich ſah, und nun wollte er auch gleich dieſe ſchönen Spätſommertage dazu benutzen. Er hatte im Sinne, die Nacht im Dörfli zuzubringen und am folgenden Morgen Klara auf der Alm abzuholen, um mit ihr zur Großmama nach dem Bade Ragaz hinunter und von da weiterzureiſen. Klara war ein wenig betroffen über die Anzeige der plötzlichen Abreiſe von der Alp, aber es war ja ſo viel Freude daneben, und überdies war da gar keine Zeit, ſich dem Bedauern hinzugeben. Schon war die Großmama aufgeſtanden und hatte Heidis Hand erfaßt, um den Zug anzuführen. Jetzt kehrte ſie ſich plötzlich um. „Aber was in aller Welt macht man nun mit Klärchen?“ rief ſie erſchrocken aus, denn es war ihr in den Sinn gekommen, daß der Gang doch für ſie viel zu weit ſein würde. Aber ſchon hatte in gewohnter Weiſe der Öhi ſein Pflegetöchterchen auf den Arm genommen und folgte mit feſtem Schritte der Großmama nach, die jetzt mit vielem Wohlgefallen zurücknickte. Zuletzt kam Herr Seſemann, und ſo ging der Zug weiter den Berg hinunter. Das Heidi mußte immerfort aufhüpfen vor Freude an der Seite der Großmama, und dieſe wollte nun alles wiſſen von der Großmutter, wie ſie lebe und wie alles bei ihr zugehe, beſonders im Winter bei der großen Kälte da droben. Das Heidi berichtete über alles ganz genau, denn es wußte ſchon, wie da alles zuging und wie dann die Großmutter zuſammengeduckt in ihrem Winkelchen ſaß und zitterte vor Kälte. Es wußte auch gut, was ſie dann zu eſſen hatte, und auch, was ſie nicht hatte. Bis zur Hütte hinunter hörte die Großmama mit der lebhafteſten Teilnahme Heidis Berichten zu. Die Brigitte war eben daran, Peters zweites Hemd an die Sonne zu hängen, damit, wenn das eine wieder genug getragen war, das andere angezogen werden konnte. Sie erblickte die Geſellſchaft und ſtürzte in die Stube hinein. „Jetzt grad geht alles fort, Mutter“, berichtete ſie. „Es iſt ein ganzer Zug; der Öhi begleitet ſie, er trägt das Kranke.“ „Ach, muß es denn wirklich ſein?“ ſeufzte die Großmutter. „So nehmen ſie das Heidi mit, das haſt du geſehen? Ach, wenn es mir nur auch noch die Hand geben dürfte! Wenn ich es nur auch noch einmal hörte!“ Jetzt wurde ſtürmiſch die Tür aufgemacht, und das Heidi war in wenigen Sprüngen in der Ecke bei der Großmutter und umklammerte ſie. „Großmutter! Großmutter! Mein Bett kommt aus Frankfurt und alle drei Kiſſen und auch die dicke Decke; in zwei Tagen iſt es da, das hat die Großmama geſagt.“ Das Heidi hatte gar nicht ſchnell genug ſeinen Bericht herausbringen können, denn es konnte die ungeheure Freude der Großmutter faſt nicht abwarten. Sie lächelte, aber ein wenig traurig ſagte ſie: „Ach, was muß das für eine gute Frau ſein! Ich ſollte mich nur freuen, daß ſie dich mitnimmt, Heidi, aber ich kann es nicht lang überleben.“ „Was? Was? Wer ſagt denn der guten alten Großmutter ſo etwas?“ fragte hier eine freundliche Stimme, und die Hand der Alten wurde dabei erfaßt und herzlich gedrückt, denn die Großmama war hinzugetreten und hatte alles gehört. „Nein, nein, davon iſt keine Rede! Das Heidi bleibt bei der Großmutter und macht ihre Freude aus. Wir wollen das Kind auch wiederſehen, aber wir kommen zu ihm. Jedes Jahr werden wir nach der Alm hinaufkommen, denn wir haben Urſache, an dieſer Stelle dem lieben Gott alljährlich unſeren beſonderen Dank zu ſagen, wo er ein ſolches Wunder an unſerem Kinde getan hat.“ Jetzt kam der echte Freudenſchein auf das Geſicht der Großmutter, und mit wortloſem Dank drückte ſie fort und fort die Hand der guten Frau Seſemann, während ihr vor lauter Freude ein paar große Tränen die alten Wangen herabglitten. Das Heidi hatte den Freudenſchein auf dem Geſichte der Großmutter gleich geſehen und war jetzt ganz beglückt. „Gelt, Großmutter“, ſagte es, ſich an ſie ſchmiegend, „jetzt iſt es ſo gekommen, wie ich dir zuletzt geleſen habe? Gelt, das Bett aus Frankfurt iſt gewiß heilſam?“ „Ach ja, Heidi, und noch ſo vieles, ſo viel Gutes, das der liebe Gott an mir tut!“ ſagte die Großmutter mit tiefer Rührung. „Wie iſt es nur möglich, daß es ſo gute Menſchen gibt, die ſich um eine arme Alte bekümmern und ſo viel an ihr tun! Es iſt nichts, das einem den Glauben ſo ſtärken kann an einen guten Vater im Himmel, der auch ſein Geringſtes nicht vergeſſen will, wie ſo etwas zu erfahren, daß es ſolche Menſchen gibt voll Güte und Barmherzigkeit für ein armes, unnützes Weiblein, wie ich eins bin.“ „Meine gute Großmutter“, fiel hier Frau Seſemann ein, „vor unſerem Herrn im Himmel ſind wir alle gleich armſelig, und alle haben wir es gleich nötig, daß er uns nicht vergeſſe. Und nun nehmen wir Abſchied, aber auf Wiederſehen, denn ſobald wir nächſtes Jahr wieder nach der Alm kommen, ſuchen wir auch die Großmutter wieder auf; die wird nie mehr vergeſſen!“ Damit erfaßte Frau Seſemann noch einmal die Hand der Alten und ſchüttelte ſie. Aber ſie kam nicht ſo ſchnell fort, wie ſie meinte, denn die Großmutter konnte nicht aufhören zu danken, und alles Gute, das der liebe Gott in ſeiner Hand habe, wünſchte ſie auf ihre Wohltäterin und deren ganzes Haus herab. Jetzt zog Herr Seſemann mit ſeiner Mutter talabwärts, während der Öhi Klara noch einmal mit nach Hauſe trug und das Heidi, ohne aufzuſetzen, hochauf hüpfte neben ihnen her, denn es war ſo froh über die Ausſicht der Großmutter, daß es mit jedem Schritt einen Sprung machen mußte. Am Morgen darauf aber gab es heiße Tränen bei der ſcheidenden Klara, nun ſie fort mußte von der ſchönen Alm, wo es ihr ſo wohl geweſen war wie noch nie in ihrem Leben. Aber das Heidi tröſtete ſie und ſagte: „Es iſt im Augenblick wieder Sommer, und dann kommſt du wieder, und dann iſt's noch viel ſchöner. Dann kannſt du von Anfang an gehen, und wir können alle Tage mit den Geißen auf die Weide gehen und zu den Blumen hinauf, und alles Luſtige geht von vorn an.“ Herr Seſemann war nach Abrede gekommen, ſein Töchterchen abzuholen. Er ſtand jetzt drüben beim Großvater, die Männer hatten noch allerlei zu beſprechen. Klara wiſchte nun ihre Tränen weg, Heidis Worte hatten ſie ein wenig getröſtet. „Ich laſſe auch den Peter noch grüßen“, ſagte ſie wieder, „und alle Geißen, beſonders das Schwänli. Oh, wenn ich nur dem Schwänli ein Geſchenk machen könnte; es hat ſo viel dazu geholfen, daß ich geſund geworden bin.“ „Das kannſt du ſchon ganz gut“, verſicherte das Heidi. „Schick ihm nur ein wenig Salz, du weißt ſchon, wie gern es am Abend das Salz aus des Großvaters Hand ſchleckt.“ Der Rat gefiel Klara wohl. „Oh, dann will ich ihm gewiß hundert Pfund Salz aus Frankfurt ſchicken“, rief ſie erfreut aus, „es muß auch ein Andenken an mich haben.“ Jetzt winkte Herr Seſemann den Kindern, denn er wollte abreiſen. Diesmal war das weiße Pferd der Großmama für Klara gekommen, und jetzt konnte ſie herunterreiten, ſie brauchte keinen Tragſeſſel mehr. Das Heidi ſtellte ſich auf den äußerſten Rand des Abhanges hinaus und winkte mit ſeiner Hand der Klara zu, bis das letzte Reſtchen von Roß und Reiterin geſchwunden war. Das Bett iſt angekommen, und die Großmutter ſchläft jetzt ſo gut jede Nacht, daß ſie gewiß dadurch zu ganz neuen Kräften kommt. Den harten Winter auf der Alp hat die gute Großmama auch nicht vergeſſen. Sie hat einen großen Warenballen nach der Geißenpeter-Hütte geſandt. Darin war ſo viel warmes Zeug verpackt, daß die Großmutter ſich um und um damit einhüllen kann und gewiß nie mehr zitternd vor Kälte in ihrer Ecke ſitzen muß. Im Dörfli iſt ein großer Bau im Gange. Der Herr Doktor iſt angekommen und hat vorderhand ſein altes Quartier bezogen. Auf den Rat ſeines Freundes hin hat der Herr Doktor das alte Gebäude angekauft, das der Öhi im Winter mit dem Heidi bewohnt hatte und das ja ſchon einmal ein großer Herrenſitz geweſen war, was man immer noch an der hohen Stube mit dem ſchönen Ofen und dem kunſtreichen Getäfel ſehen konnte. Dieſen Teil des Hauſes läßt der Herr Doktor als ſeine eigene Wohnung aufbauen. Die andere Seite wird als Winterquartier für den Öhi und das Heidi hergeſtellt, denn der Herr Doktor kennt den Alten als einen unabhängigen Mann, der ſeine eigene Behauſung haben muß. Zuhinterſt wird ein feſtgemauerter, warmer Geißenſtall eingerichtet, da werden Schwänli und Bärli in ſehr behaglicher Weiſe ihre Wintertage zubringen. Der Herr Doktor und der Almöhi werden täglich beſſere Freunde, und wenn ſie zuſammen auf dem Gemäuer herumſteigen, um den Fortgang des Baues zu beſichtigen, kommen ihre Gedanken meiſtens auf das Heidi, denn beiden iſt die Hauptfreude an dem Hauſe, daß ſie mit ihrem fröhlichen Kinde hier einziehen werden. „Mein lieber Freund“, ſagte kürzlich der Herr Doktor, mit dem Öhi oben auf der Mauer ſtehend, „Sie müſſen die Sache anſehen wie ich. Ich teile alle Freude an dem Kinde mit Ihnen, als wäre ich der nächſte nach Ihnen, zu dem das Kind gehört; ich will aber auch alle Verpflichtungen teilen und nach beſter Einſicht für das Kind ſorgen. So habe ich auch meine Rechte an unſerem Heidi und kann hoffen, daß es mich in meinen alten Tagen pflegt und um mich bleibt, was mein größter Wunſch iſt. Das Heidi ſoll in alle Kindesrechte bei mir eintreten; ſo können wir es ohne Sorge zurücklaſſen, wenn wir einmal von ihm gehen müſſen, Sie und ich.“ Der Öhi drückte dem Herrn Doktor lange die Hand. Er ſagte kein Wort, aber ſein guter Freund konnte in den Augen des Alten die Rührung und hohe Freude leſen, die ſeine Worte erweckt hatten. Derweilen ſaßen das Heidi und der Peter bei der Großmutter, und das erſtere hatte ſo viel zu tun mit Erzählen und der letztere mit Zuhören, daß ſie alle beide kaum zu Atem kommen konnten und vor Eifer immer näher auf die glückliche Großmutter eindrangen. Wieviel war ihr auch zu berichten von alle dem, das den ganzen Sommer durch ſich ereignet hatte, denn man war ja ſo wenig zuſammengekommen während dieſer Zeit. Und von den dreien ſah immer eins glücklicher aus als das andere über das neue Zuſammenſein und über alle die wunderbaren Ereigniſſe. Jetzt aber war das Geſicht der Mutter Brigitte noch faſt am glücklichſten anzuſehen, da mit Heidis Hilfe nun zum erſtenmal klar und verſtändlich die Geſchichte des unaufhörlichen Zehners herauskam. Zuletzt aber ſagte die Großmutter: „Heidi, lies mir ein Lob- und Danklied! Es iſt mir, als könne ich nur noch loben und preiſen und unſerem Gott im Himmel Dank ſagen für alles, was er an uns getan hat.“