Vierundzwanzig Stunden ſpäter hält eine Kutſche vor dem Daumerſchen Haus, und Frau Behold ſelber kommt, um Caſpar zu holen. Wirklich, Frau Behold hat ſich’s etwas koſten laſſen, eine ſchwarzlackierte Kutſche mit zwei Pferden und einen Mann mit goldenen Knöpfen auf dem Bock.
Caſpar wird von Daumer und den beiden Frauen zum Tor geleitet, auch der Kandidat Regulein verläßt ſeine Junggeſellenklauſe. Anna kann ſich der Tränen nicht erwehren, Daumer blickt finſter vor ſich hin, Frau Behold gibt dem Kutſcher ein Zeichen, die Roſſe ſchnauben, die Räder rollen und die Zurückbleibenden ſchauen ſtumm in die Dunkelheit, die das Gefährt verſchlingt.
Das war der Abſchied, und Caſpar war’s, als gehe es weit fort. Aber es ging nur von einem Haus auf der Schütt zu einem Haus am Markt. Es war dies ein ſchmales, hohes Haus, welches ſo eingepreßt ſtand zwiſchen zwei andern, daß es ausſah, als fehle ihm die Luft zum Atmen. Es hatte einen gezinnten Giebel, ſteilabhängend wie die Schultern eines verhungerten Kanzliſten, die Fenſter hatten nichts Freiſchauendes, ſondern etwas Blinzelndes, das Tor war ſeltſam verſteckt und innen wand ſich eine dunkle Treppe in vielen Biegungen, gleichſam in vielen Ausreden durch die Stockwerke; die alten Treppen knarrten und ſtöhnten bei jedem Schritt, und wenn die Türen geöffnet wurden, floß nur ein dämmeriges Licht aus den Stuben.
Caſpar wohnte in einem Gemach gegen den viereckigen Hof; vor den Fenſtern lief eine Holzgalerie mit verſchnörkeltem Geländer, auf jeder Seite waren grünverhangene Glaſtüren, und unten ſtand ein eiſerner Brunnen, aus dem kein Waſſer floß.
Das Wunderliche lag darin, daß draußen der Markt war, wo viele Menſchen laut redeten, wo die Händler ihre kleinen Läden und Verkaufszelte hatten, wo von morgens bis abends Frauen feilſchten, Kinder kreiſchten, Roſſe wieherten, das Geflügel gackerte, und daß man bloß das Tor hinter ſich zu ſchließen brauchte und es wurde ſo ſtill, als ob man in die Erde hineingeſtiegen ſei.
Dies machte Caſpar im Anfang Spaß. Es glich einem Verſteckenſpiel, er fand es luſtig, ſich zu verſtecken, und gelegentlich ſah er es darauf ab, ein andres Geſicht zu zeigen, als ihm zu Sinn war, oder andre Dinge zu ſagen, als man von ihm erwartete. An einem der erſten Tage verlor Frau Behold ein ſilbernes Kettchen; Caſpar behauptete, es im Vorplatz geſehen zu haben, obwohl er es keineswegs geſehen hatte.
Es wurde ihm verboten, ohne Erlaubnis das Haus zu verlaſſen. Er fragte, wer es verboten habe, da wurde ihm geantwortet, Frau Behold habe es verboten, und als er ſich an Frau Behold wandte, ſagte ſie, der Magiſtratsrat habe es verboten, und als er ſich an den Magiſtratsrat wandte, ſagte der, der Präſident habe es verboten. Dermaßen war alles verzwickt und verſteckt in dieſem Haus.
Einmal wollte Frau Behold in ſein Zimmer gehen; ſie fand es verſperrt, er hatte von innen zugeriegelt. „Was ſperrſt du dich denn ein am hellichten Tag?“ fragte ſie und ſchnüffelte auf dem Tiſch herum, wo ſeine Bücher und Schularbeiten lagen. „Fürchteſt du dich vielleicht?“ fuhr ſie zungengeläufig fort. „Bei mir brauchſt du dich nicht zu fürchten, bei mir gibt es keine vermummten Spitzbuben.“ Er gab zu, daß er ſich fürchte, und das ſchmeichelte Frau Behold, ſie nahm eine grimmige Beſchützermiene an und lächelte herausfordernd.
Jeden Vormittag, wenn er von der Schule kam — er beſuchte jetzt zwei Stunden täglich die dritte Klaſſe des Gymnaſiums —, erkundigte ſich Frau Behold, wie es ihm gegangen ſei. „Schlecht iſt’s gegangen,“ entgegnete er dann trübſelig, und in der Tat, er hatte wenig Freude davon. Die Lehrer klagten, daß ſeine Gegenwart die andern Schüler der Aufmerkſamkeit beraube; der Umſtand, daß auf der Gaſſe ſtets ein Polizeidiener hinter ihm herging und daß die Polizei Tag und Nacht das Haus bewachte, in dem er wohnte, dünkte die Knaben aufregend ſonderbar, und ſie beläſtigten ihn mit den albernſten Fragen. Seine Schweigſamkeit wurde natürlich ganz falſch gedeutet, und wenn er von ſelbſt unbefangen das Wort an ſie richtete, wichen ſie entweder ſcheu zurück oder höhnten ihn, denn er war in ihren Augen nichts weiter als ein großer dummer Teufel, der, faſt doppelt ſo alt als ſie, noch in den Anfangsgründen der Wiſſenſchaft ſteckte. Es kam häufig vor, daß er während des Unterrichts aufſtand und eine ſeiner kindiſchen Fragen ſtellte; da brach dann die ganze Klaſſe in Gelächter aus, und der Lehrer lachte mit. Einmal, während eines gewaltigen Sturmwinds, der draußen heulte, verließ er ſeinen Platz und flüchtete in die Ofenecke; da kannte das Vergnügen der andern keine Grenze, und als ihn der dicke Lehrer hervorzog und zu den Bänken ſchob, begleiteten ſie den Vorgang mit einer wahren Katzenmuſik.
Am eigentümlichſten war es aber anzuſehen, wenn er auf dem Nachhauſeweg mitten unter der Knabenſchar ging, ſtill, verſchloſſen und ſorgenvoll unter den Lärmenden und Unbekümmerten, männlich unter den Halbwüchslingen — und ihm zur Seite beſtändig der Wächter des Geſetzes.
Sehr häufig ſprach Daumer vor, um bei den Kollegen Auskunft über Caſpar einzuholen. „Ach,“ hieß es da, „er hat freilich den beſten Willen, aber leider nur einen mittelmäßigen Kopf. Er erweiſt ſich anſtellig, aber es bleibt nicht viel haften. Wir können ihn nicht tadeln, aber zu loben iſt auch nichts.“
Daumer war gekränkt. Ihr könnt nicht tadeln, ihr Herren, ei, und tadelt doch, dachte er; Tadel iſt leicht, beſonders wenn er den Tadler lobt, wie es ſein Merkmal iſt. Er wandte ſich an den Magiſtratsrat und ſuchte ihm eine Lobpreiſung auf Caſpar förmlich abzuliſten, aber Herr Behold war kein Freund von offenen Meinungen. Er war ein einſchichtig lebender Menſch, der ſeine Tage in einem düſtern Kontor am Zwinger verbrachte, und wer von ihm etwas haben wollte, erhielt gewöhnlich die Antwort: „Da müſſen Sie ſich an meine Frau wenden.“
Daumer glich faſt einem unglücklichen Liebhaber darin, wie er jetzt achtſam und bekümmert den Wegen ſeines früheren Pfleglings folgte, wobei er aber gern vermied, Caſpar zu ſehen und zu ſprechen. Mit großem Mißtrauen verfolgte er insgeheim das Tun und Treiben der Frau Behold, und er zerbrach ſich den Kopf darüber, weshalb dieſe ſo gierig getrachtet hatte, den Jüngling in ihre Nähe zu bekommen. „Was willſt du,“ meinte Anna, die ebenſoviel geſunden Menſchenverſtand beſaß wie ihr Bruder phantaſtiſchen Peſſimismus, „es iſt ja ganz klar, ſie braucht eine Spielpuppe, eine Unterhaltung für ihren Salon.“
„Eine Spielpuppe? Sie hat doch ein Kind, und ſie vernachläſſigt ſogar dieſes Kind, wie man hört.“
„Freilich; aber daran iſt nichts Merkwürdiges, ein Kind zu haben wie alle andern Leute; es muß etwas ſein, wovon man redet, was Intereſſantes muß es ſein; man kann dabei die große Dame ſpielen und lieſt hie und da den eignen Namen in der Zeitung. Auch gilt man nebenher für eine Wohltäterin, der Herr Gemahl kann einen hohen Orden bekommen, und was die Hauptſache iſt, man vertreibt ſich die Langeweile. Die Perſon kenn’ ich, als ob ich’s ſelber wäre. Der Caſpar tut mir leid.“
Frau Behold war immer unterwegs und eigentlich nur zu Hauſe, wenn ſie Gäſte hatte. Sie mußte immer Menſchen ſehen, ſie liebte wohlgekleidete, gutgelaunte Menſchen, Männer mit Titeln und Frauen von Rang, liebte Feſte, Schmuck und prächtige Gewänder. Man hätte ſie eine joviale Natur nennen dürfen, wenn der Ehrgeiz ſie nicht ſo unruhig gemacht hätte; ſie wäre bisweilen behäbig, ja gemütlich erſchienen ohne eine gewiſſe zielloſe Neugierde, von der ſie bis ins Innerſte, bis in den Schlaf der Nächte behaftet war. Sie hatte eine Unmaſſe franzöſiſcher Romane verſchlungen und war dadurch empfindſam und abenteuerluſtig geworden, und das gute Teil Phlegma, das ihrem Temperament beigemiſcht war, machte dieſe Eigenſchaften nur um ſo hintergründiger. Wer ſie ſo nahm, wie ſie ſich gab, war im voraus betrogen.
Was Caſpar betrifft, ſo ſah ſie ihn zunächſt bloß humoriſtiſch und am meiſten dann, wenn er ernſt und nachdenklich war. „Nein, was er heute wieder Komiſches geſagt hat,“ war ihre beſtändige Phraſe. Es hatte oft den Anſchein, als habe ſie einen kleinen Hofnarren in Dienſt genommen. „Alſo, mein liebes Mondkälbchen, ſprich,“ forderte ſie ihn vor den Gäſten auf. Wenn ſie ihn gar eifrig befliſſen ſah, lateiniſche Vokabeln auswendig zu lernen, lachte ſie aus vollem Hals. „Wie gelehrt, wie gelehrt!“ rief ſie und fuhr ihm mit der Hand wüſt durch das Lockenhaar. „Laß es ſein, laß es ſein,“ tröſtete ſie ihn, wenn er über die Schwierigkeit einer Rechnung klagte, „bringſt’s ja doch zu nichts, iſt genau ſo, wie wenn ich ſeiltanzen wollte.“
Indes erregte er auf andre Weiſe bald eine wunderliche Neugierde in ihr. Eines Morgens kam ſie dazu, als er in der Küche ſtand und Zeuge war, wie der Metzgerburſche das rohe und noch blutige Fleiſch aus dem Korb nahm und auf die Anrichte legte. Eine unendliche Wehmut malte ſich in Caſpars Zügen, er wich zurück, zitterte und war keines Lautes fähig, dann floh er mit bedrängten Schritten. Frau Behold war betroffen und wollte ihrer Rührung nicht nachgeben. Was iſt das? dachte ſie; er verſtellt ſich wohl; was iſt ihm das Blut der Tiere?
Um ihm gefällig zu ſein, tat ſie mehr, als ihre Bequemlichkeit ihr ſonſt verſtattet hätte. Trotzdem ſchien er ſich nicht wohl im Haus zu fühlen. „Sapperment, was iſt dir übers Leberlein gekrochen?“ fuhr ſie ihn an, wenn ſie ein trauriges Geſicht an ihm bemerkte. „Wenn du nicht luſtig biſt, führ’ ich dich in die Schlachtbank und du mußt zuſchauen, wie man den Kälbern den Hals abſchneidet,“ drohte ſie ihm einmal und wollte ſich ausſchütten vor Lachen über die Miene des Entſetzens, die er darüber zeigte.
Nein, Caſpar fühlte ſich keineswegs wohl. Frau Behold war ihm ganz und gar unverſtändlich, ihr Blick, ihre Rede, ihr Gehaben, alles das ſtieß ihn aufs äußerſte ab. Es koſtete ihn nicht wenig Kunſt und Nachdenken, um ſeinen Widerwillen nicht merken zu laſſen, gleichwohl war er krank und elend, wenn er nur eine Stunde mit Frau Behold verbracht hatte. Es fehlte ihm dann jegliche Arbeitsluſt, und die Schule zu beſuchen, die ihm ohnehin verhaßt war, unterließ er ganz. Die Lehrer beſchwerten ſich beim Magiſtrat; Herr von Tucher, der jetzt wieder in der Stadt weilte und der vom Gericht zu Caſpars Vormund ernannt worden war, ſtellte ihn zur Rede. Caſpar wollte nicht mit der Sprache heraus, ein Betragen, das Herr von Tucher als Verſtocktheit auffaßte und das ihm zu ſchlimmen Befürchtungen Anlaß bot.
Und da war noch eines, was Caſpar zu denken gab. Manchmal begegnete ihm auf der Stiege oder im Flur oder in einem entlegenen Zimmer Frau Beholds Tochter, ein Mädchen, halb erwachſen und bleich von Geſicht. Ihre Augen waren feindſelig auf ihn gerichtet. Wenn er ſie anreden wollte, lief ſie davon. Einmal ſchaute er von der Galerie in den Hof und ſah ſie am Brunnen ſtehen, hinter deſſen eiſernem Rohr ein Brett weggeſchoben war, ſo daß der Blick in die Tiefe offen lag. Das Mädchen ſtand unbeweglich und ſtarrte mindeſtens eine Viertelſtunde lang in das ſchwarze Loch. Caſpar verließ leiſe die Galerie und ſchlich hinunter; er betrat jedoch kaum den Hof, ſo flüchtete das Mädchen mit böſem Geſicht an ihm vorüber. Als Caſpar ihr zaudernd folgte, begegnete ihm der Herr Rat, und Caſpar erzählte voll Eifer, was er mitangeſchaut. Herr Behold zog die Stirn kraus und ſagte beſchwichtigend: „Ja, ja, gewiß; das Kind iſt nicht geſund. Kümmer’ Er ſich nicht darum, Caſpar, kümmer’ Er ſich nicht darum.“
Caſpar kümmerte ſich aber doch darum. Er fragte die Mägde, was mit dem Kind ſei, und eine von ihnen erwiderte biſſig: „Sie kriegt nichts zu eſſen, der Findling frißt ihr alles weg!“ Darauf eilte er ſpornſtreichs zu Frau Behold, wiederholte ihr die Worte der Magd und fragte, ob das wahr ſei. Frau Behold bekam einen Wutanfall und jagte die Magd auf der Stelle davon. Als jedoch Caſpar ſie auch dann noch in ſeiner ungeſchickten und altklugen Weiſe ermahnte, daß ſie mehr auf ihre Tochter achten möge als auf ihn und daß er ſonſt fortgehen werde, ſchnitt ſie ihm das Wort ab und verwies ihm den Vorwitz. „Wie willſt du denn fortgehen?“ fuhr ſie auf. „Wohin denn? Wo biſt du denn daheim, wenn man fragen darf?“
Es entſtand jetzt in Frau Behold die Meinung, daß Caſpar in ihre Tochter verliebt ſei. Sie legte es darauf an, ihn über den Punkt auszuholen. Auf ihre Fragen antwortete er jedoch ſo blöde, daß ſie ſich beinahe ihres Verdachts geſchämt hätte. „Grand Dieu,“ ſagte ſie laut vor ſich hin, „mir ſcheint, der Einfaltspinſel weiß nicht einmal, was Liebe iſt!“ Ja, noch mehr, ſie ſpürte, daß er ſich nicht einmal im entfernteſten einen Gedanken darüber machte. Das war der guten Dame doch überaus ſeltſam, ihr, deren Begierden und Gelüſte immer im trüben Gewäſſer halb romanhafter, halb ſchlüpfriger Leidenſchaften plätſcherten, ſo tugendhaft ſie auch vor ihren Mitbürgern ſich halten mußte.
Er iſt doch aus Fleiſch und Blut, kalkulierte ſie, und wenn ſchon der närriſche Daumer in allen Tönen von ſeiner Engelſunſchuld ſchwärmt, als erwachſener Menſch weiß man, was der Hahn mit den Hühnern treibt. Er heuchelt, er hält mich zum beſten; warte, Kerl, ich will dir den Gaumen trocken machen.
Auf dem Markt, zur Rechten vor dem Beholdſchen Haus, ſtand der ſogenannte ſchöne Brunnen, ein Meiſterwerk mittelalterlich-nürnberger Kunſt. Seit grauen Zeiten erzählte man den Kindern, daß der Storch die Neugeborenen aus der Tiefe des Brunnens hole. Frau Behold fragte Caſpar, ob er davon vernommen habe, und als er verneinte, ſah ſie ihn mit ſchlauem Augenzwinkern an und wollte wiſſen, ob er daran glaube. „Ich ſeh’ nur nicht, wo der Storch da hinunterfliegen kann,“ antwortete er harmlos, „es iſt ja alles mit Gittern vermacht.“
Frau Behold ſtaunte. „Ei du Tropf!“ rief ſie aus, „ſchau mich einmal aufrichtig an!“
Er ſchaute ſie an. Da mußte ſie die Augen ſenken. Und plötzlich erhob ſie ſich, eilte zur Kredenz, riß eine Lade auf, ſchenkte ſich ein Glas Wein voll und trank es auf einen Zug leer. Sodann ging ſie ans Fenſter, faltete die Hände und murmelte mit einem Ausdruck von Stumpfſinn: „Jeſus Chriſtus, bewahre mich vor Sünde und führe mich nicht in Verſuchung.“
Es bedarf kaum der Erwähnung, daß ſie ſonſt eine höchſt aufgeklärte Dame war, die ſich das ganze Jahr nicht in der Kirche ſehen ließ.
Es war ſchon Mitte Auguſt und große Hitze herrſchte. An einem Sonntag veranſtaltete der Bürgermeiſter ein Waldfeſt im Schmauſenbuk; Caſpar war am Morgen mit dem Stallmeiſter Rumpler und einigen jungen Leuten bis Buch geritten und war ſo müde, daß er nach Tiſch in ſeinem Zimmer einſchlief. Frau Behold weckte ihn ſelbſt und hieß ihn ſich ankleiden, da der Wagen warte, der ſie zum Feſtplatz bringen ſollte. Auf Caſpars Frage, ob noch wer mitgehe, erwiderte ſie, zwei Knaben führen mit hinaus, die Söhne des Generals Hartung. Da ſagte Caſpar enttäuſcht, er wünſchte, daß Frau Behold ihre Tochter mitgehen laſſe, denn die werde ſich grämen, wenn ſie zu Hauſe bleiben müſſe. Frau Behold ſtutzte und wollte zornig werden, nahm ſich aber zuſammen. Sie beugte ſich vor, ergriff mit der Hand einen Bündel Locken auf Caſpars Kopf und ſagte boshaft: „Ich ſchneide dir die Haare ab, wenn du wieder davon anfängſt.“
Caſpar entwand ſich ihr. „Nicht ſo nahe,“ flehte er mit aufgeriſſenen Augen, „und nicht ſchneiden, bitte!“
„Hab’ ich dich!“ drohte Frau Behold, gezwungen ſcherzend. „Hab’ ich dich, furchtſames Menſchlein? Noch ein Widerpart, und ich komme mit der Schere!“
Während der Fahrt blieb Caſpar ſchweigſam. Die beiden Knaben, die vierzehn und fünfzehn Jahre alt waren, neckten ihn und ſuchten etwas aus ihm herauszulocken, da ſie ſtets wie über eine Art Wundertier über ihn ſprechen gehört hatten. Nach Schuljungengewohnheit fingen ſie an, prahleriſche Reden zu führen, als ob es keine gelehrteren und ſcharfſinnigeren Menſchen gäbe. Weit auf der Landſtraße draußen rief der eine, er höre ſchon die Muſik aus dem Wald, da entgegnete Caſpar, ärgerlich über das Weſen, das die beiden von ſich machten, das wundre ihn, er höre nichts, dagegen ſehe er auf einer hohen Stange fern über den Bäumen eine kleine Fahne. „O die Fahne,“ meinten jene geringſchätzig, „die ſehen wir ſchon lang!“ Auch hierüber wunderte ſich Caſpar, denn er hatte ſie erſt im Augenblick wahrgenommen, ein ſchmales Streifchen, das nur im Wehen des Windes ſichtbar war.
„Gut,“ ſagte er, „wenn ſie wieder weht, will ich euch fragen, ob ihr es bemerkt.“ Er wartete eine Weile und ſtellte dann, während die Fahne ruhig war, die irreführende Frage: „Alſo, weht ſie jetzt oder nicht?“
„Sie weht!“ antworteten die Knaben wie aus einem Mund, doch Caſpar verſetzte ruhig: „Ich ſehe daraus, daß ihr nichts ſeht.“
„Oho!“ riefen jene, „dann lügſt du!“
„So ſagt mir doch,“ fuhr Caſpar unbekümmert fort, „was für eine Farbe ſie hat.“
Die Knaben ſchwiegen und guckten, dann riet der eine ziemlich kleinlaut: „rot,“ der andre, etwas kühner: „blau.“ Caſpar ſchüttelte den Kopf und wiederholte: „Ich ſehe, daß ihr nichts ſeht; weiß und grün iſt ſie.“
Daran war ſchwer zu mäkeln, eine Viertelſtunde ſpäter konnten ſich alle von der Wahrheit überzeugen. Aber die Knaben blickten Caſpar voll Haß ins Geſicht; ſie hätten gern vor Frau Behold geglänzt, die die ganze Unterhaltung wortlos mitangehört hatte.
Caſpars Gegenwart beim Feſt zog, wie immer, eine Anzahl Gaffer herbei, darunter waren einige Bekannte, junge Leute, die ſich ſeiner annehmen zu ſollen glaubten und ihn Frau Behold unerachtet ihres Widerſpruchs entriſſen. Es war anfangs nur eine kleine Geſellſchaft, die ſich aber allgemach vergrößerte und, indem einer den andern anfeuerte, lauter Tollheiten beging. Sie warfen Tiſche und Bänke um, ſchreckten die Mädchen, kauften die Krämerbuden leer, verübten ein wüſtes Geſchrei und ſtellten ſich dabei an, als ob Caſpar ihr Gebieter ſei und ſie kommandiere. Das Treiben wurde immer ausgelaſſener; als es Abend geworden war, riſſen ſie die Lampions von den Bäumen und zwangen ein paar Muſikanten, ihnen vorauszuziehen, um den Tumult mit ihren Trompeten zu begleiten. Zwei junge Kaufleute hoben Caſpar auf ihre Schultern, und er, dem ſchon Hören und Sehen verging, wünſchte ſich weit weg und kauerte mit dem unglücklichſten Geſicht von der Welt auf ſeinem lebendigen Sitz.
Unter Geſang und Gelächter kam die entfeſſelte Schar vor die Eſtrade, wo der Tanz begonnen hatte; hier konnte ſie nicht weiter, die angeſammelte Menge verſperrte den Weg nach rückwärts und ſeitwärts. Plötzlich ſah Caſpar ganz nahe die beiden Knaben, die in Frau Beholds Kutſche mitgefahren waren; ſie ſtanden auf der Treppe zum Tanzpodium und trugen einen langen Baumzweig mit einem weißen Pappendeckel an der Spitze, worauf in großen Lettern die Worte gemalt waren: „Hier iſt zu ſehen Seine Majeſtät Caſperle, König von Schwindelheim.“ Sie hielten die Tafel ſo, daß die Aufſchrift Caſpar zugekehrt war, auch alle Umſtehenden gewahrten ſie alsbald, und es erhob ſich ein ſchallendes Gelächter. Die Trompeter gaben einen Tuſch, und der Zug ſetzte ſich wieder, am Wirtshaus vorbei, gegen den illuminierten Wald in Bewegung.
Caſpar rief, man ſolle ihn herunterlaſſen, aber niemand achtete darauf. Nun zog er mit der einen Hand am Ohr des einen, mit der andern an den Haaren des zweiten ſeiner Träger. „Au, was zwickſt du mich!“ ſchrie dieſer und der andre: „Au, mich zebelt er!“ Wütend traten ſie beiſeite, wodurch Caſpar herunterglitt. Die beiden Schildträger ſtanden vor ihm und grinſten höhniſch. „Wir haben auch ein Fähnlein für dich,“ ſagte der ältere, „ſieh mal zu, ob es weht.“ Im ſelben Augenblick ſchraken ſie zuſammen, denn eine gebieteriſche Stimme ſchrie dröhnend ihren Namen. Es war der Vater der beiden, der General, der mit einigen andern Herren und mit Frau Behold in geringer Entfernung an einem abſeits ſtehenden Tiſch ſaß. Dieſe alle erhoben ſich, denn am Himmel waren ſchwere Wolken aufgezogen, und man hörte ſchon den Donner grollen.
Frau Behold empfing Caſpar mit den Worten: „Du machſt ja ſchöne Streiche, ſchämſt dich nicht? Allons! Wir fahren heim.“ Mit überlautem Weſen verabſchiedete ſie ſich von den Herren und eilte zum Ausgang des Feſtplatzes, wo ſie mit kreiſchender Stimme ihren Kutſcher rief. „Setz dich!“ herrſchte ſie Caſpar an, als ſie den Wagen erreicht hatten. Sie ſelbſt ſtieg zum Kutſcher auf den Bock, ergriff die Zügel, und nun begann ein tolles Fahren, erſt durch den Wald, dann die ſtaubſchäumende Chausſee entlang. Sie trieb die Tiere an, daß ſie nur ſo hüpften und von jedem Kieſelſtein, den ihr Huf traf, Funken ſpritzten. Kein Stern war zu ſehen, die Landſchaft breitete ſich düſter hin, häufig zuckten Blitze auf und der Donner rollte näher.
In wenig mehr denn einer halben Stunde waren ſie in der Stadt, und als die Pferde am Marktplatz hielten, dampfte der Schweiß von ihren Flanken. Frau Behold ſperrte das Haustor auf und ließ Caſpar vorangehen. Er taſtete ſich in der Dunkelheit bis zu ſeiner Zimmertür, doch die Frau ergriff ihn am Arm, zog ihn weiter und trat mit ihm in den ſogenannten grünen Salon, einen großen Raum, wo die Fenſter geſchloſſen waren und eine muffige Luft herrſchte. Frau Behold zündete eine Kerze an, warf Hut und Mantille auf das Sofa und ſetzte ſich in einen Lederſeſſel. Sie ſummte leiſe vor ſich hin, plötzlich unterbrach ſie ſich und ſagte in derſelben ſingenden Weiſe: „Komm einmal her zu mir, du unſchuldiger Sünder.“
Caſpar gehorchte.
„Knie nieder!“ gebot die Frau.
Zögernd kniete er auf den Boden und ſah Frau Behold ängſtlich an.
Wie am Nachmittag näherte ſie wieder ihr Geſicht dem ſeinen. Ihr ſchmales, langes Kinn zitterte ein wenig, und ihre Augen lachten ſonderbar. „Was ſträubſt du dich denn ſo?“ gurrte ſie, da er den Kopf zurückbäumte. „Ma foi, er ſträubt ſich, der Jüngling! Haſt wohl noch kein lebendiges Fleiſch gerochen? He, du Strick, wer’s glaubt! Was Teufel, fürchteſt dich am Ende? Hab’ ich dir nicht die beſten Biſſen auftragen laſſen? Hab’ ich dir nicht geſtern erſt eine ſchöne Amſel geſchenkt? Ich hab’ ein gutes Herz, Caſpar, da horch, wie’s ſchlägt, wie’s tickt ...“
Mit großer Kraft zog ſie ſeinen Kopf gegen ihre Bruſt. Er dachte, ſie wolle ihm ein Leids tun, und ſchrie, da drückte ſie die Lippen auf ſeinen Mund. Ihm wurde eiskalt vor Grauen, ſein Körper ſank zuſammen, wie wenn die Knochen aus den Gelenken gelöſt wären, und als Frau Behold dieſer jähen Erſchlaffung inne ward, erſchrak ſie und ſprang auf. Ihr Haar hatte ſich gelockert, und ein dicker Zopf lag wie eine Schlange auf der Schulter. Caſpar hockte auf dem Boden, krampfhaft umklammerte ſeine Linke die Rücklehne. Frau Behold beugte ſich noch einmal zu ihm und ſchnupperte ſeltſam, denn ſie liebte den Geruch ſeines Leibes, der ſie an Honig erinnerte. Aber kaum ſpürte Caſpar ihre abermalige Nähe, als er emportaumelte und ans andre Ende des Zimmers floh. Die Seite gegen die Tür geſchmiegt, den Kopf vorgeduckt, die Arme halb ausgeſtreckt, ſo blieb er ſtehen.
Die ferne Ahnung von etwas Ungeheuerm dämmerte in ihm auf. Kein jemals gehörtes Wort gab einen Hinweis, doch er ahnte es, wie man auf eine Feuersbrunſt, die hinter den Bergen wütet, aus der Röte des Himmels ſchließt. Schändlich war ihm zumut, insgeheim fühlte er ſich an, ob er denn auch ſeine Kleider am Körper trüge, und dann ſchaute er auf ſeine Hände nieder, ob ſie nicht voll Schmutz ſeien. Er ſchämte ſich, er ſchämte ſich, vor den Wänden, vor dem Seſſel, vor der brennenden Kerze ſchämte er ſich; er wünſchte, die Tür möchte von ſelber ſich öffnen, damit er unhörbar verſchwinden könne.
Es war wie das entſetzliche Aufleuchten von Augen, als ein roſiger Blitzſtrahl ins Zimmer fuhr; der Donner folgte wie ein enormer Schrei. Caſpar drückte die Schultern zuſammen und fing an zu zittern.
Mittlerweile ging Frau Behold mit wahren Mannesſchritten auf und ab, lachte ein paarmal kurz vor ſich hin, plötzlich ergriff ſie die Kerze und trat auf Caſpar zu. „Du Aas, du verdorbenes, was haſt du denn geglaubt,“ ſagte ſie erbittert, „glaubſt du vielleicht, mir liegt etwas an dir? Ja, einen alten Stiefel! Mach, daß du weiterkommſt, und unterſteh dich nicht, darüber zu ſprechen, ſonſt maſſakrier’ ich dich!“
Sie lachte dabei, als ſolle es im Grunde doch nur Scherz ſein, aber Caſpar erſchien ſie übergroß, ihr ſchwarzer Schatten erfüllte den ganzen Raum, außer ſich vor Furcht, rannte er hinaus, die Frau hinter ihm her, er, die Treppe hinab zum Tor, rüttelte an der Klinke; es war zugeſperrt. Er hörte draußen den Regen aufs Pflaſter praſſeln, zugleich vernahm er haſtig trippelnde Schritte, ein Schlüſſel drehte ſich im Schloß und der Magiſtratsrat erſchien auf der Schwelle. Die unaufhörlichen Blitze beleuchteten Caſpars ſchlotternde Geſtalt und das Donnergeſchmetter verſchlang die Fragen des beſtürzten Mannes.
Oben an der Stiege ſtand Frau Behold, der nahe Kerzenſchein durchfurchte ihr Geſicht mit verwildernden Lichtern, und ihre Stimme übertönte den Donner, als ſie ihrem Manne zuſchrie: „Er hat ſich betrunken, der Kerl! Auf dem Schmauſenbuk haben ſie ihn betrunken gemacht! Laß Er ſich heute nur nicht mehr blicken! Marſch, ins Bett mit ihm!“
Der Magiſtratsrat ſchloß das Tor und klappte den triefenden Parapluie zu. „Nun, nun ... aber, aber,“ machte er, „ſo ſchlimm wird’s doch nicht gleich ſein.“
Frau Behold antwortete nicht. Sie ſchlug eine Tür zu, dann war es ſtill und finſter.
„Komm Er nur mit, Caſpar,“ ſagte der Rat, „wir wollen mal Licht anzünden und nachſehen, was es denn da gibt. Reich Er mir den Arm, ſo.“ Er geleitete Caſpar in deſſen Zimmer, machte Licht und murmelte fortwährend kleine, beſchwichtigende Sätzchen vor ſich hin. Dann beroch er Caſpars Atem, um zu ſehen, ob er wirklich getrunken habe, ſchüttelte den Kopf und meinte verwundert: „Nichts dergleichen. Die Rätin iſt da ſicherlich im Irrtum. Aber mach Er ſich nichts draus, Caſpar, empfehl Er Seine Sache dem Herrn, und es wird wohl enden. Gute Nacht!“
Als Caſpar allein war, irrte ſein ſcheues Auge von Blitz zu Blitz. Bei jedem Aufflammen hatte er unter den Lidern Schmerzen wie von Nadelſtichen, bei jedem Donnerſchlag war ihm, als ob alles in ſeinem Leibe locker ſei. Hände und Füße waren ihm eiskalt. Er wagte ſich nicht ins Bett zu begeben, ſondern blieb wie angewurzelt ſtehen, wo er ſtand. Er erinnerte ſich mit Grauen des erſten Gewitters, das er im Turm auf der Burg erlebt hatte. Er war in einen Mauerwinkel gekrochen, und die Frau des Wärters war gekommen, ihn zu tröſten. Sie ſagte: „Man darf nicht hinausgehen, es iſt ein großer Mann draußen, der zankt.“ Immer wenn es donnerte, bückte er ſich ganz zur Erde, und die Frau ſagte: „Hab keine Angſt, Caſpar, ich bleib’ bei dir.“
Auch jetzt war es ihm, als ſei ein großer Mann draußen, der zankte. Aber es war niemand da, um ihn zu tröſten. Die Amſel, die in einem Käfig beim Fenſter geduckt auf dem Holzſtäbchen hockte, ließ bisweilen piepſende kleine Laute hören. Er hätte ſie ſchon längſt freigelaſſen, weil ihn das Tier erbarmte, doch fürchtete er Frau Beholds Zorn.
Als das Gewitter im Wegziehen war, entledigte er ſich ſchnell der Kleider, kroch ins Bett und deckte ſich bis zur Stirn hinauf zu, um das Blitzen nicht ſehen zu müſſen. In der Eile vergaß er ſogar, die Türe abzuriegeln, und dieſer Umſtand hatte ein gar ſonderbares Geſchehnis zur Folge.
Am Morgen beim Aufwachen ſpürte er einen durchdringenden Geruch. Ja, es roch nach Blut im Zimmer. Schaudernd blickte er ſich um, und das erſte, was er ſah, war, daß der Vogelbauer am Fenſter leer war. Caſpar ſuchte nach dem Tierchen und gewahrte, daß die Amſel auf dem Tiſch lag, tot, mit ausgebreiteten Flügeln, in einem Blutgerinnſel. Und daneben, auf einem weißen Teller, lag das blutige kleine Herz.
Was mochte dies bedeuten? Caſpar verzog das Geſicht, und ſein Mund zuckte wie bei einem Kind, bevor es weint. Er kleidete ſich an, um in die Küche zu gehen und die Leute zu fragen, doch als er das Zimmer verließ, erſchrak er, denn Frau Behold ſtand im Flur neben der Tür. Sie hatte einen Kehrbeſen in der Hand und ſah unordentlich aus. Caſpar ſchaute in ihr fahles Geſicht, er ſah ſie lange an, faſt ſo matt und bewegt, wie er den toten Vogel angeſehen.