Jakob Waſſermann: Caſpar Hauſer // oder // Die Trägheit des Herzens 7. Daumer ſtellt die Metaphyſik auf die Probe Der Präſident blieb länger als eine Woche in der Stadt. Während dieſer Zeit kam er entweder ins Daumerſche Haus, um Caſpar zu ſprechen, oder er ließ den Jüngling zu ſich in den Gaſthof rufen. Feuerbach liebte nicht Zeugen ſeines Zuſammenſeins mit Caſpar. Seit er an einem der erſten Tage mit ihm durch die Straßen gegangen war (wo der früh gealterte, doch mächtig anzuſchauende Mann neben dem zarten, ein wenig gebückt gehenden jungen Menſchen allenthalben Aufſehen erregt hatte) und an einer Ecke, an der die beiden vorüber mußten, ein Kerl wie aus der Erde gewachſen plötzlich neben ihnen hergeſchlichen war, verzichtete der Präſident darauf, ſich mit ſeinem Schützling öffentlich zu zeigen. Seine Geſpräche mit Caſpar, ſo geſchickt ſie auch eine Beziehungsloſigkeit bisweilen vortäuſchen mochten, verfolgten natürlich einen ganz beſtimmten Zweck. Caſpar, der davon wenig merkte, teilte ſich ſeinem hohen Gönner ohne Befangenheit mit, und durch ſein unſchuldiges Geplauder wurde Feuerbachs Herz oft ſonderbar bewegt, ſo daß er, dem Wort und Sprache in Fülle gegeben waren, ſich nicht ſelten zum Schweigen verurteilt fand. Ja, er verlor an Sicherheit; „Caſpars Blick gleicht dem Glanz eines morgendlich reinen Himmels, bevor die Sonne aufgeht,“ ſchrieb er an eine altvertraute Freundin, „und manchmal iſt mir unter dieſem Blick zumute, als hielte der raſend dahinſtürmende Schickſalswagen zum erſten Male ſtill; die ganze Vergangenheit ſteht auf, erlittene Willkür und der Trug des Rechts, die Kränkungen des Neides und manche Tat, deren Früchte faul und ekel am Wege liegen. Dazu kommt, daß ich in betreff ſeiner unbekannten Herkunft auf einer Spur bin, die mich, ich fürchte ſehr, an den Rand eines verderblichen Abgrunds führt, wo es gilt, ſich den Göttern zu vertrauen, denn Menſchen werden dort keinem Geſetz mehr untertan ſein.“ Am letzten Tag der Anweſenheit Feuerbachs ſchickte ſich Caſpar eine Stunde vor Abend zum Ausgehen an, da der Präſident ihn zu ſich beſtellt hatte. Er trat ins Wohnzimmer, um zu ſagen, daß er gehe, und fand Anna Daumer allein. Sie ſaß am Fenſter und las gerade das Büchlein des Polizeirats Merker. Kaum daß Caſpar die Tür geöffnet, verſteckte ſie das Heft raſch und erſchreckt unter der Schürze. „Was leſen Sie denn da und warum verbergen Sie es denn?“ fragte Caſpar lächelnd. Anna errötete und ſtotterte etwas. Darauf ſchaute ſie mit feuchten Augen empor und ſagte: „Ach, Caſpar, die Menſchen ſind doch gar zu ſchlecht.“ Er entgegnete nichts, ſondern lächelte noch immer. Das erſchien Anna auffallend, aber Caſpar dachte ſich weiter gar nichts dabei. Es war eine ſeiner Seltſamkeiten, daß er ſich nie entſchließen konnte, eine Frauensperſon ganz ernſt zu nehmen; Frauenzimmer können nichts als daſitzen und ein wenig nähen oder ſtricken, pflegte er zu ſagen; ſie eſſen und trinken unaufhörlich und alles durcheinander und deswegen ſind ſie immer krank; auf andre Weiber ſchmähen ſie und wenn ſie dann mit ihnen beiſammen ſind, tun ſie ſchön und lieb. Als er einmal in ſolcher Weiſe redete, beklagte ſich Frau Daumer, doch er antwortete ihr: „Sie ſind kein Frauenzimmer, Sie ſind eine Mutter.“ Auch ereignete es ſich einſt, daß er bei einem Paradezug von Seiltänzern einem zu Pferd ſitzenden Mädchen, deſſen bunter Putz und Reitkunſt ſeine Aufmerkſamkeit erweckt hatte, ein paar Straßen weit folgte; darüber ärgerte er ſich nachher gewaltig, und er meinte, nun ſei ihm doch auch einmal geſchehen, was bei andern, wie er höre, zuweilen der Fall ſei, er ſei einem Weibe nachgelaufen. Er ſagte, daß er zum Nachteſſen wieder zu Hauſe ſein werde, aber Anna erwiderte, das ſei wohl zu ſpät, ihr Bruder habe davon geſprochen, daß er den Abend mit Caſpar bei der Magiſtratsrätin Behold verbringen wollte; die Rätin habe ſchon einige Male darum gebeten, ſie ſei eine einflußreiche Perſon, und wenn Daumer ſich nicht eine Feindin an ihr machen wolle, müſſe er der Einladung folgen. „Der Herr Präſident geht vor,“ ſagte Caſpar verdroſſen und ging. Es war mildes Wetter, der Schnee war längſt verſchwunden, weiße Wolken zogen über die ſpitzgiebligen Dächer hin. Als Caſpar in das Zimmer trat, das der Präſident bewohnte, ſaß dieſer am Schreibtiſch und blickte mit zurückgelehntem Körper düſter ſinnend ins Leere. Erſt nach einer Weile wandte er ſich zu Caſpar und redete ihn, aus ſeinem dunkeln Nachdenken heraus, ohne Begrüßung an. „Ich kehre morgen nach Ansbach zurück, Caſpar, wie Sie ja wiſſen,“ begann er und verdeckte die Augen mit der Hand; „Sie werden mich einige Wochen, ja vielleicht monatelang nicht ſehen. Ich möchte hie und da von Ihnen Nachricht haben, von Ihnen ſelbſt, will Sie aber nicht auffordern, mir regelmäßig zu ſchreiben, damit Ihnen nicht eine ungern erfüllte Pflicht daraus erwachſe. Nun dachte ich mir, Ihnen eine Gelegenheit zur Mitteilung zu geben, bei der Sie mehr auf ſich ſelbſt als an andre gewieſen ſind. Sie ſollen nicht zur Rechenſchaft befohlen ſein, aber was Sie einem Freund oder ſagen wir Ihrer Mutter vertrauen würden, das ſollen Sie hier bewahren.“ Damit reichte er Caſpar ein in blauen Pappendeckel gebundenes Schreibheft. Caſpar ergriff es mechaniſch und las auf einem weißen herzförmigen Schildchen: Tagebuch — Stundenbuch für Caſpar Hauſer. Er ſchlug es auf und gewahrte, auf der erſten Seite eingeklebt, das Bild Feuerbachs und darunter, von der Hand des Präſidenten geſchrieben, die Worte: Wer die Stunde liebt, der liebt Gott; der Laſterhafte entflieht ſich ſelbſt. Caſpar ſchaute den Präſidenten mit großen Augen ängſtlich an. Er wiederholte für ſich im ſtillen, mit ſichtbarer Bewegung der Lippen, die geſchriebenen Worte und dann, was der Präſident zu ihm geſagt; alles verfloß im Nebel und, des feierlichen Tones halber, in eine Ahnung von Gefahr. Es pochte an der Tür und auf das Herein des Präſidenten brachte ein Eilbote einen Brief. Kaum hatte Feuerbach, ohne das Schreiben zu öffnen, einen Blick auf das Siegel geworfen, als er die Handglocke läutete und dem eintretenden Diener den Befehl gab, es ſolle ſogleich angeſpannt werden. „Ich muß noch dieſen Abend reiſen,“ ſagte er zu Caſpar. In unbeſtimmtem Lauſchen und Warten blieb Caſpar ſtehen. Der Poſtillon im Hof knallte mit der Peitſche. Ein Hauch der Ferne umwehte Caſpar, er ſpürte plötzlich etwas von der Größe der Welt, und die Wolken am Himmel ſchienen Arme herunterzuſtrecken, um ihn emporzuheben. Als ihm der Präſident die Hand zum Abſchied reichte, bat er ſchmeichelnd, mit verlangendem Lächeln: „Möcht’ auch mitfahren.“ „Wie, Caſpar!“ rief der Präſident in geſpielter Überraſchung, und plötzlich wieder das frühere Du der Anrede wählend, „willſt du denn fort von den Nürnbergern? Haſt du denn vergeſſen, was du deinem gütigen Pflegevater ſchuldig biſt? Was würde Herr Daumer ſagen, wenn du ihn ſo undankbar verließeſt? und viele andre wackere Männer, die ſich deiner angenommen haben? Es erſtaunt mich, Caſpar. Biſt du denn nicht gern hier?“ Caſpar ſchwieg und ſenkte die Augen. Hier iſt immer dasſelbe, dachte er. Er ſehnte ſich fort; er dachte, einmal könne man fortgehen, man könnte in der Nacht das Tor öffnen und könnte gehen, ohne den Weg zu wiſſen. Vielleicht käme dann einer, um zu fragen: wohin, Caſpar? Und er führte ihn zu einem Schloß, vor dem viel Volks verſammelt iſt; drinnen ruft eine Stimme Caſpars Namen, die Leute machen Platz und viele Arme deuten auf das Tor, dem er zuſchreitet. „Sprich!“ mahnte der Präſident barſch. „Sie ſind alle gut mit mir,“ flüſterte Caſpar mit zuckenden Lippen. „Nun alſo!“ „Es iſt nur_—“ „Was? Was iſt_—? Heraus mit der Sprache!“ Caſpar ſchlug langſam die Augen auf, machte mit dem Arm eine weite Geſte, als wolle er den ganzen Erdkreis in das Wort einbeziehen und ſagte: „Die Mutter.“ Feuerbach wandte ſich weg, ging zum Fenſter und blieb ſchweigend ſtehen. Eine Viertelſtunde ſpäter ſchritt Caſpar durch die engen Gaſſen beim Rathaus und kam alsbald auf den menſchenverlaſſenen Egydienplatz. Es war ſchon dunkel geworden, vor der Kirche brannte eine Öllaterne, und während er nach links abbog, wo das niedere Buſchwerk einer Gartenanlage den Platz gegen die Laufergaſſe ſchloß, gewahrte er einen ruhig ſtehenden Mann, der gebeugten Kopfes nach ihm herſah. Caſpar ging ein wenig langſamer, plötzlich ſah er, daß der Mann den Arm erhob und mit dem Finger winkte. Caſpars Herz klopfte laut. Irgend etwas zwang ihn, der ſtummen Aufforderung des Unbekannten zu folgen. Der Mann fuhr fort, mit dem Finger zu winken, und wie hingezogen tat Caſpar ein paar Schritte auf ihn zu. Da ging der Mann tiefer in das Gehölz, hörte aber nicht auf zu winken. Caſpar konnte ſein Geſicht nicht ſehen, das unter dem weit in die Stirn gedrückten Hut verſteckt war. Er folgte dem Menſchen, obwohl alle Fibern ſeines Leibes widerſtrebten, mit Grauen fühlte er ſich Schritt um Schritt gezogen, ſeine Augen waren aufgeriſſen, Staunen und Schrecken lagen in ſeinem Geſicht, und die Hände hielt er mit geſpreizten Fingern von ſich geſtreckt. Schon war er dem Unbekannten ſo nahe, daß er deſſen gelbe Zähne zwiſchen den Lippen ſchimmern ſah, und wer weiß, was geſchehen wäre, wenn ſich nicht in dieſem Augenblick auf der andern Seite des Gebüſches ein Trupp betrunkener junger Leute hätte hören laſſen; der fremde Mann ſtieß einen gurrenden Laut aus, bückte ſich raſch und war unter dem Schutz des Laubwerks im Nu verſchwunden. Auch Caſpar kehrte um und rannte gegen die Kirche; er lief geradeswegs mitten in die Schar der Lärmmacher hinein, die ihn aufzuhalten ſuchten, und ſo vermiſchte ſich ein Schrecken mit dem andern. Nur mit Mühe riß er ſich los, einige folgten ihm ſchreiend, er verdoppelte ſeine Eile, der Hut fiel ihm vom Kopf, er ließ ihn liegen, rannte, ſo ſchnell er konnte, durch die Judengaſſe und weiter und ging erſt wieder langſamer, als er ſich auf der Brücke zur Inſel Schütt befand. Daumer war ſchon unruhig geworden und wartete vor dem Haustor. Betroffen hörte er Caſpars haſtigen und unklaren Bericht an, und nach einiger Überlegung meinte er, er glaube nicht recht an das Abenteuer; „da hat dir wohl deine allweil erregte Phantaſie einen törichten Streich geſpielt,“ ſagte er ungewöhnlich ſtreng. „Nein, es iſt wirklich wahr,“ beteuerte Caſpar. Dann klagte er, daß er den Hut verloren habe, und ſchließlich zeigte er, auf einmal ganz heiter geworden, das Heft, das ihm der Präſident geſchenkt und das er während der ganzen Zeit krampfhaft in der Hand feſtgehalten hatte. Zerſtreut beſah es Daumer. „Hat dir Anna nicht geſagt, daß wir zur Magiſtratsrätin gehen?“ fragte er mißgelaunt. „Es iſt höchſte Zeit; mach flink und zieh dir den Sonntagsrock an.“ Caſpar ſchaute ihn mit ſchrägem Blick von unten an und ging zögernd ins Haus. Daumer, der ſchon im Geſellſchaftskleid war, wandelte zweimal bis zum Pegnitzufer und wieder zurück; eine halbe Stunde verfloß und Caſpars langes Ausbleiben machte ihn endlich ungeduldig. Er eilte die Stiege hinan und betrat Caſpars Zimmer, wo eine Kerze brannte. Zu ſeinem Ärger nahm er wahr, daß Caſpar angekleidet auf dem Bette lag und ſchlief. Er rüttelte ihn an der Schulter, ließ aber plötzlich ab, durchmaß ein paarmal das Zimmer, ohne ſeines Mißmuts Herr zu werden, dann ſtieß er zornig hervor: „Ach was, ſoll die Neugier der guten Leute um ihren Schmaus betrogen werden!“ Durch den finſtern Flur ſchritt er ins Gemach der Schweſter, die vor dem Klavier ſaß und ſpielte. Er legte ihr den Fall vor und Anna gab ihm ohne weiteres recht, daß er Caſpar zu Hauſe laſſe. „Dann muß jemand zur Rätin und unſer Ausbleiben entſchuldigen,“ ſagte Daumer in einem Ton, als ob das Verſäumnis ſonſt ſchlecht ausgelegt werden könne und er Unannehmlichkeiten zu befürchten habe. Anna erwiderte, die Magd ſei nicht da, und nach einigem Beſinnen erklärte ſie ſich bereit, den Gang ſelbſt zu tun. Als ſie fort war, ſetzte ſich Daumer zu den Büchern, rückte die Lampe zurecht und las. Doch er hatte ein ſchlechtes Gewiſſen und fuhr bei jedem Laut zuſammen. Nach einer geraumen Weile hörte er Schritte; Anna trat hinter ſeinen Stuhl und ſagte haſtig, die Magiſtratsrätin ſei mitgekommen, um Caſpar zu holen. Daumer ſprang auf; „das heiße ich den Spaß zu weit getrieben,“ murmelte er entrüſtet. Anna legte ihm die Hand auf den Mund, denn ſchon ſtand die Rätin in der Türe; reich geſchmückt, im Seidenmantel, ein koſtbares Spitzentuch um den Kopf. Sie war eine nicht mehr ganz junge, aber ſehr ſtattliche Frau, ungewöhnlich groß gewachſen, mit ungewöhnlich kleinem Kopf. In ihrem Betragen vermiſchte ſich das Modiſch-Franzöſiſche und das Nürnbergeriſch-Provinzliche auf eine nicht immer ganz einwandfreie Weiſe, und wo jenes zur Geltung kommen ſollte, guckte dieſes wie der Zipfel eines ſchlechtverborgenen Armeleutgewands unter einer brokatenen Tunika hervor. Sie rauſchte auf Daumer zu, majeſtätiſch wie eine ſchaumige Woge, und der gute Mann, niedergeſchmettert von ſo viel Glanz, vergaß ſeinen Groll und führte die dargereichte Hand der Dame an ſeine Lippen. „Muß ich ſelbſt Sie an Ihr Verſprechen erinnern?“ rief ſie mit einer ſonoren, kräftigen Stimme. „Was ſoll’s bedeuten, Profeſſor? Was iſt vorgefallen? Weshalb die Abſage? Sie ſehen, ich verlaſſe meine Gäſte, um ein Wort einzulöſen, das Ihnen zu brechen ſo leicht wird. Keine Ausflucht, lieber Daumer, Caſpar muß mit, wo iſt er?“ „Er ſchläft,“ erwiderte Daumer zaghaft. „[Nom de Dieu!] Er ſchläft! Daß dich das Mäusle beißt! So wird man ihn halt wecken. Marſch, marſch, voran!“ Daumer hatte nicht den Mut, zu widerſprechen, dies zupackende Gebaren beraubte ihn der gegenſtändlichen Gründe. Er nahm die Lampe und ſchritt voraus. Anna, die zurückblieb, räuſperte ſich empört, dies beirrte aber Frau Behold keineswegs, als Antwort zuckte ſie nur verächtlich die Achſeln. Daumer ſtand ſo verſonnen an Caſpars Lager, daß er die Lampe wegzuſtellen vergaß. In der Tat mochte es ſchwerlich etwas Schöneres zu ſehen geben als den Engelsfrieden und die roſenhafte Heiterkeit, die auf dem Geſicht des Schläfers leuchteten. Frau Behold ſchlug unwillkürlich die Hände zuſammen, und darin lag Wahrheit und Gefühl. „Beſtehen Sie noch darauf, ihn zu wecken?“ fragte Daumer richterlich. „Der Schlaf iſt heilig. Die ſeligen Geiſter werden fliehen, ſobald unſre Hand ihn berührt.“ Frau Behold klappte die Lider auf und zu, als wolle ſie das bißchen Rührung davonjagen, wie man Fliegen mit einem Wedel vertreibt. „Schön geſagt,“ ſpottete ſie, und ihre Stimme ſurrte wie das Rädchen einer Spindel. „Aber ich beſtehe auf meinem Schein. Ich will dem Buben was dafür ſchenken, und was die ſeligen Geiſter betrifft, die kommen wieder, zum Schlafen gibt’s Nächte genug.“ Während Daumer den Schlafenden bei den Schultern emporhob und durch zärtliches Zureden mehr ſich ſelbſt als Caſpar zu beſchwichtigen ſchien, zeigte ſich in dem kleinen Geſicht der Frau Behold eine wunderliche Erregung. Sie blinzelte mit den Augen, ihre Unterlippe wurde ſchlaff und entblößte eine ſchmale, feſte Zahnreihe wie bei einem Nagetier. „[Pauvre diable],“ murmelte ſie, „armes Herzle,“ und erfaßte Caſpars Hand. Davon erwachte Caſpar völlig, befreite die Hand mit einem Ruck und ſchüttelte ſich. Sein trunken-müder Blick fragte, was man mit ihm vorhabe, Daumer erklärte es, ſchenkte Waſſer in ein Glas und gab es ihm zu trinken, nahm den Sonntagsrock, der ſchon bereitlag, und hielt ihn zum Anziehen hin. Caſpar heftete den verdunkelten Blick auf Frau Behold und ſagte trotzig: „Ich will nicht zu der Frau.“ „Wie, Caſpar?“ rief Daumer erſtaunt und verletzt. Zum erſtenmal vernahm er dies „ich will nicht“, zum erſtenmal ſtand Caſpars Wille gegen ihn auf. Caſpar war ſelber erſchrocken, ſein Blick war ſchon wieder gefügig, als Daumer mit ernſthaftem Ton fortfuhr: „Ich aber will es. Ich will auch, daß du die Dame um Verzeihung bitteſt. Es geht nicht an, daß du eine Laune über dich Herr werden läßt. Wenn wir uns der Rückſichten gegen die Menſchen entbinden würden, ſtünden wir alle ſo hilflos da wie du am erſten Tag.“ Mit niedergeſchlagenen Augen tat Caſpar, was ihm befohlen worden. Frau Behold nahm den ganzen Auftritt nicht ſchwer. Sie tätſchelte Caſpars Wange und fand den Profeſſor Daumer ziemlich komiſch. Eine halbe Stunde ſpäter waren ſie in den feſtlich erleuchteten Zimmern der Rätin. Caſpar, von Menſchen umdrängt, mußte die gewöhnliche Flut der Fragen über ſich ergehen laſſen. Frau Behold wich nicht von ſeiner Seite, ſie lachte beinahe zu allem, was er ſagte, und er wurde allmählich verwirrt und unruhig, empfand Angſt vor den Worten; es ſchien ihm gefährlich, zu ſprechen, es war, als ob alle Worte zweifach vorhanden wären, einmal offenbar, das andre Mal verhüllt, und ſo wie die Worte hatten auch die Menſchen etwas Zwiefaches, und unwillkürlich ſuchten ſeine Blicke in ein und derſelben Perſon die zweite, die lauernd hinterherging und verführeriſch mit dem Finger winkte. Es war ihm unverſtändlich, was ſie von ihm wollten, ihre Kleidung, ihre Gebärden, ihr Nicken, ihr Lächeln, ihr Beiſammenſein, alles war ihm unverſtändlich, und auch er ſelbſt, er ſelbſt fing an, ſich unverſtändlich zu werden. Indeſſen verlebte Daumer eine böſe Stunde. Frau Behold, die ſtolz darauf war, ihr Haus zum Sammelort vornehmer Fremden zu machen, hatte heute einen Herrn zu Gaſt, der, wie man ſich erzählte, unter falſchem Namen reiſte, da er in wichtiger diplomatiſcher Miſſion nach einer Reſidenz im Oſten des Landes unterwegs ſei. Man raunte ſich auch zu, daß der hohe Fremde großes Intereſſe an dem Findling Hauſer nehme und daß er vielen einflußreichen Perſonen gegenüber ſich abfällig und tadelnd über die unſinnigen Gerüchte geäußert habe, die Caſpars Herkunft zum Gegenſtand hatten. Und man muß geſtehen, daß die einflußreichen Perſonen ſich dem Gewicht einer ſolchen Meinung nicht verſchloſſen, aber das Treiben des vornehmen Herrn gab auch Anlaß zu mancherlei Verdacht, und der Redakteur Pfiſterle, Querulant wie immer, behauptete ſogar, der diplomatiſche Herr ſei nach ſeiner Anſicht nichts andres als ein verkappter Spion. Wie dem auch war, von all dieſen Neuigkeiten hatte Daumer in ſeiner Weltverlorenheit nichts erfahren. Der Fremde geſellte ſich nach kurzer Weile zu ihm, und ſie kamen ins Geſpräch, wobei es jener leicht anzuſtellen wußte, daß ſie ſich von den übrigen Gäſten abſonderten. Daumer, eingeſchüchtert durch die Manieren, die delikate Zwangloſigkeit des hohen Herrn, deſſen Rockbruſt voller Orden hing, wußte zuerſt kaum etwas zu ſagen, antwortete bloß wie ein Schüler mit nein und ja. Allmählich gab er ſich freier und erzählte ſeinem Zuhörer vieles von Caſpar, kam auf deſſen furchtſames Weſen zu ſprechen und ſchilderte wie zur Erläuterung das Benehmen des Jünglings, als er heute abend, vor einem eingebildeten, ohne Zweifel eingebildeten, Verfolger flüchtend nach Hauſe gekommen war. Der Fremde hörte aufmerkſam zu. „Vielleicht hat er ſich aber gar nicht getäuſcht,“ entgegnete er vorſichtigen Tons, „es mag ſich da mancherlei in der Verborgenheit abſpielen. Meines Wiſſens haben ja auch Sie, lieber Profeſſor, vor längerer Zeit eine Art von Warnung erhalten. Sie dürfen ſich daher nicht wundern, wenn aus gewiſſen Drohungen Ernſt wird.“ Daumer ſtutzte, doch der Fremde fuhr mit liebenswürdiger Offenheit, ſcheinbar harmlos plaudernd, fort: „Sie ſollten ſich an den Gedanken gewöhnen, daß da Mächte im Spiel ſind, die vor nichts zurückſchrecken, um ihre Maßregeln mit Nachdruck durchzuführen. Das unruhige Gemunkel wird vielleicht als ſtörend empfunden, vielleicht hat man etwas auf dem Kerbholz und möchte die Öffentlichkeit vermeiden. Vorläufig mag es der Gewalt, die da im Hintergrund iſt, darum zu tun ſein, die Dinge möglichſt in Verborgenheit abzumachen, aber ſie könnte wohl auch offenes Spiel treiben, ſie könnte der Polizei und den Gerichten mit Gemütsruhe die Hände binden. Einſtweilen begnügt man ſich aber, die Fäden hinter den Kuliſſen zu ziehen.“ Von neuem ſtutzte Daumer; die Worte ſeines Gegenüber ſchienen einen genauen Bezug zu haben; doch der Fremde ließ ihm keine Zeit zu überlegen, er fuhr mit heller Stimme, faſt vertraulichen Tones fort: „Ich glaube vor allem, daß man die Verbreitung all des hirnloſen Geſchwätzes durch das bequeme und naheliegende Mittel der Druckſchrift fürchtet und ahnden wird. Man demaskiert ſich dort oben ungern, noch weniger will man von andern demaskiert werden, man liebt es nicht auf den Markt zu treten, noch ſeine privaten Angelegenheiten da ausgeboten zu ſehen; das iſt begreiflich. Der Staatsbürger hat Freiheiten genug; in ſeinem Bereich mag er ſich tummeln, nach oben ſoll er ſich gebunden finden.“ Was war das? Daumer meinte zu verſtehen, worauf es hinauswollte; er beſchloß, dem dunkeln Befehl zu gehorchen; war doch dem Zwang ſchon ſeine eigne Freiwilligkeit zuvorgekommen. „Ich möchte mir eine Frage erlauben, verehrter Profeſſor,“ begann der Fremde wieder; „ſind Sie wirklich überzeugt, daß der hergelaufene Knabe, an dem ich auf meine Art, ich will es nicht leugnen, ein gewiſſes äußeres Intereſſe nehme, die ununterbrochene Aufmerkſamkeit ernſthafter Männer verdient und rechtfertigt? Lohnt es ſich denn, die ganze Welt mit ſeiner zweifelhaften Sache zu beſchäftigen? Was bleibt für die großen Angelegenheiten der Nation, der Wiſſenſchaft, der Kunſt, der Religion, des Lebens überhaupt, wenn ein Mann wie Sie die beſten Geiſteskräfte an ein empfindſames Naturſpiel verſchwendet? Man rühmt die außergewöhnlichen Gaben des Findlings. Ich bemühe mich umſonſt, ſolche Gaben zu entdecken; ich bin kühn genug, zu behaupten, daß ich damit nur an Ihre eigne Ungewißheit rühre. Laſſen wir noch ein wenig Zeit vergehen und wir werden über dieſen Punkt eine betrübende Sicherheit gewinnen. Innerhalb der menſchlichen Geſellſchaft gibt es Hunderttauſende von Weſen, die, mit ebenſogroßen oder noch größeren Eigenſchaften geboren, gleichwohl einem ungleich elenderen Los verfallen ſind. Die wahrhafte Tugend müßte ſich auch für ſie entflammen, denn in der Idee darf dem Erbarmen mit der menſchlichen Not keine Grenze geſetzt ſein. Aber wo endete der Mann, der ſein Herz nach allen Seiten hin zerriſſe und in Fetzen austeilte? Er ſtünde leer da an dem Tage, wo ein würdiger Gegenſtand ein würdiges Opfer von ihm forderte. Denken Sie ſich von Caſpars Lebensalter ein Dutzend Jahre hinweg und das vermeintliche Wunder iſt enthüllt bis auf den Grund und hat Ihnen nichts mehr zu geben als die beſchämende Selbſtverſtändlichkeit einer natürlichen Tatſache. Beſtenfalls bleibt ein Kurioſum, mit welchem man ein Tiſchgeſpräch würzen kann. Ein Kurioſum und das bißchen Geheimnis, das allen unreifen Köpfen ſo aufregend dünkt.“ Widerſpruch und Abwehr malten ſich in Daumers Zügen; ſein umherſchweifender Blick ſuchte nach Caſpar, aber alles, was er zu ſagen wußte, war: „Nicht durch Worte kann die Seele für ſich zeugen.“ Der Fremde lächelte bitter. „Die Seele! die Seele!“ erwiderte er ſpöttiſch. „Sie kann nicht durch Worte zeugen, denn ſie iſt nur ein Wort wie jedes andre. Das Auge ſchaut, der Finger ſpürt, jedes Härchen lebt auf eigne Weiſe, das Blut durchſpritzt die Adern, jeder Sinn macht den Raum lebendig, den Tod fühlbar, was ziert ihr euch da und wollt ein Beſonderes haben und ſprecht von Seele, als ſei die Seele wie ein Schmuckſtück, das eine eitle Frau im Käſtchen verſchließt und gelegentlich an ihren Buſen ſteckt, um beim Ball damit zu glänzen! Jeder iſt im allgemeinen ausgeteilt und ſein Zuſchuß von Kräften iſt kein Privileg, ſondern nur eine Hoffnung. Oder dürfte der Adler die Seele für ſich in Beſchlag nehmen, weil er beſſer zu fliegen vermag als die Gans? Die Seele! Ihr Herren beleidigt den Schöpfer damit, ob ihr ſie leugnet oder ob ihr Bücher ſchreibt, um ſie zu beweiſen.“ Es entſtand ein Schweigen. Er ſpricht wie ein Satan, dachte Daumer, und als er ſich anſchickte zu antworten, kam ihm der Fremde mit höflicher Eindringlichkeit zuvor. „Ich weiß, Sie lieben Caſpar,“ ſagte er mit veränderter Stimme, ernſt und herzlich, „Sie lieben ihn brüderlich, und nicht Mitleid nährt dieſen Trieb, ſondern die ſchöne Begierde, die ſtets den Gott in der Bruſt des andern ſucht und nur im Ebenbild ſich ſelbſt erkennen will. Aber Sie möchten eine Ausrede haben für Ihre Liebe, das iſt es. Muß ich Ihnen ſagen, daß es keine tieferen Wunden gibt als die Enttäuſchungen aus ſolchem Zwieſpalt? Ich rate Ihnen, fliehen Sie den Anblick und die Geſellſchaft deſſen, der Ihnen nichts mehr zu bieten hat als Enttäuſchung.“ „Alſo ſind wir denn zu ſchwach, dem Erlebnis gegenüber ſo zu bleiben wie wir zu ſein glaubten, indem wir es erſehnten!“ rief Daumer verzweifelt. Der Fremde verzog ſein faltig-altes Geſicht zu einer Grimaſſe des Bedauerns. Eine leichte Gebärde verriet, daß das Geſpräch für ihn erſchöpft ſei, und ſie miſchten ſich wieder unter die übrigen Gäſte. Daumer, völlig aus der Faſſung gebracht, wünſchte nichts weiter, als den lärmenden Kreis zu verlaſſen. Er ſuchte Caſpar und bemerkte ihn, blaß und ſchweigſam, mitten unter ſchillernden Roben und grauen und braunen Fräcken; Frau Behold ſaß auf einem niedrigen Schemel faſt zu ſeinen Füßen, und ihr Geſicht ſah hart und düſter aus. Der Abſchied war umſtändlich. Als ſie auf den vereinſamten Gaſſen ſchweigend ein Stück Wegs zurückgelegt hatten, ſchlang Daumer den Arm um Caſpars Schulter und ſagte: „Ach, Caſpar, Caſpar!“ Es klang wie eine Beſchwörung. Caſpar, den es nach Belehrung dürſtete und deſſen Herz zum Überfließen voll von Fragen war, ſeufzte auf und lächelte ſeinem Lehrer in wiedererwachtem Vertrauen zu. Sei es nun, daß Blick und Lächeln Daumer an einer Stelle ſeines Innern trafen, wo er ſich unſicher und ſchuldig fühlte, ſei es, daß die Nacht, die Einſamkeit, die quälenden Zweifel, das wunderliche Geſpräch, das er eben geführt, ſeinen Geiſt zu übertriebener Inbrunſt entzündeten, er blieb ſtehen, umarmte Caſpar noch feſter und rief mit emporgewandten Augen: „Menſch, o Menſch!“ Das Wort ging Caſpar durch Mark und Bein. Ihm war, als eröffne ſich ihm auf einmal, was dies zu bedeuten habe: Menſch! Er ſah ein Geſchöpf, tief unten verſtrickt und angekettet, von tief unten hinaufſchauend, fremd ſich ſelbſt, fremd dem andern, dem es das Wort Menſch zuſchrie und der ihm nichts antworten konnte als eben dieſen inhaltsvollen Ruf: Menſch. Sein Ohr hielt den Klang feſt, der durch die Ergriffenheit Daumers etwas Weihevolles für ihn bekommen hatte. Am andern Morgen nahm er ſein Tagebuch zur Hand, und die erſte Eintragung, die er darin machte, waren die drei Worte: Menſch, o Menſch — für jeden andern natürlich eine ſinnloſe Hieroglyphe, für ihn aber ein deutungsvoller Hinweis, ein entſchleiertes Geheimnis beinahe, ein Wahl- und Zauberſpruch zur Abwendung von Gefahren. Es entſprach ſeinem kindiſchen Weſen, daß er von derſelben Stunde ab das Tagebuch als eine Art von Heiligtum betrachtete, welches nur in Zeiten der Andacht und Sammlung zugänglich war, und in einer jener ſehnſüchtigen und angſtvoll traurigen Stimmungen, die ihn häufig befielen, faßte er den ſonderbaren und folgenſchweren Entſchluß, daß kein andrer Menſch außer ſeiner Mutter jemals Einblick in dieſes Heft erlangen, jemals leſen ſollte, was er darin aufſchreiben würde. Solche Vorſätze ſtarrſinnig zu halten, dazu war er durchaus imſtande. Als wenige Tage nachher die Prinzeſſinnen von Kurland in Daumers Haus kamen, die mit Feuerbach befreundet waren und große Teilnahme für Caſpar hegten, kam zufälligerweiſe die Rede auf das Geſchenk, das der Präſident ſeinem Schützling gemacht, und da Daumer erzählte, es befände ſich in dem Büchlein ein ſehr gutes Stahlſtichporträt des Präſidenten, wünſchten die Damen das Heft gern zu ſehen. Zu aller Erſtaunen weigerte ſich Caſpar, es zu zeigen. Daumer warf ihm erſchrocken ſeine Unhöflichkeit vor, aber er blieb hartnäckig. Die Damen beſtanden nicht weiter darauf, ja ſie lenkten ſogar die Unterhaltung taktvoll in eine andre Richtung, aber als ſie fortgegangen waren, nahm Daumer den Jüngling ins Gebet und fragte ihn nach dem Grund ſeiner Weigerung. Caſpar ſchwieg. „Und würdeſt du auch mir, wenn ich es verlangte, das Heftchen vorenthalten?“ fragte Daumer. Caſpar ſah ihn groß an und antwortete treuherzig: „Sie werden es gewiß nicht verlangen, bitte ſchön!“ Daumer war ſehr betroffen und entfernte ſich ſtill. Gegen Abend kam Herr von Tucher, bat Daumer um eine Unterredung unter vier Augen, und als ſie allein waren, ſagte er ohne weitere Einleitung: „Ich muß Sie leider davon in Kenntnis ſetzen, daß ich unſern Caſpar zweimal beim Lügen ertappt habe.“ Daumer ſchlug ſtumm die Hände zuſammen. Das fehlte nur noch, dachte er. Beim Lügen! Zweimal beim Lügen ertappt! Ei du gütiger Himmel, wie war das zugegangen! Die Sache verhielt ſich ſo: Am Sonntag ſei er mit dem Bürgermeiſter in Caſpars Zimmer getreten, erzählte Herr von Tucher, und habe den Jüngling erſucht, ihn in ſeine Wohnung zu begleiten. Da habe Caſpar, der bei den Büchern geſeſſen, erwidert, er dürfe nicht, Daumer habe ihm verboten, das Haus zu verlaſſen. Dem Bürgermeiſter ſei das gleich bedenklich erſchienen, beſonders da ihn Caſpar kaum anzuſehen gewagt, er habe ſich unauffällig bei Daumer erkundigt, wie dieſer ſich wohl erinnern werde, und ſeinen Verdacht beſtätigt gefunden. Am andern Tag ſeien beide, Herr Binder und Herr von Tucher, während Daumer vom Hauſe fortgeweſen, zu Caſpar gekommen und hätten ihm ſeine Unwahrheit vorgehalten. Unter Erglühen und Erblaſſen habe er ſein Vergehen zugeſtanden, habe aber, wie ein geſcheuchter Haſe in die Enge getrieben und den erſten beſten Ausweg ergreifend, albernerweiſe eine Geſchichte erfunden von einer Dame, die bei ihm geweſen und die ihm ein Geſchenk verſprochen, weshalb er auf ſie gewartet habe. „Auf unſer mehr beſtürztes als ſtrenges Zureden bekannte er ſich auch dieſer Unwahrheit ſchuldig,“ fuhr Herr von Tucher mit unerſchütterlichem Ernſt fort. „Er gab zu, daß er nur in Ruhe habe ſtudieren wollen und daß ihm kein andres Mittel eingefallen ſei, um die läſtigen Störungen abzuwenden. Inſtändig flehte er uns an, Ihnen nichts von ſeinem Fehltritt zu erzählen, er wolle es nie wieder tun. Ich hab’ mir’s aber überlegt und bin zu dem Schluß gelangt, daß es beſſer iſt, wenn Sie alles wiſſen. Es iſt vielleicht noch Zeit, um das böſe Laſter mit Erfolg zu bekämpfen. Man kann ihm ja nicht ins Herz ſchauen, doch ich glaube noch immer an die Unverdorbenheit ſeines Gemüts, wenngleich ich überzeugt bin, daß uns nur die äußerſte Wachſamkeit und unerbittliche Maßnahmen vor gröberen Enttäuſchungen bewahren können.“ Daumer ſah vollkommen vernichtet aus. „Und das von einem Menſchen, auf deſſen heiliges Wahrheitsgefühl ich Eide geſchworen hätte,“ murmelte er. „Wenn Sie es nicht wären, der mir das erzählt, ich würde lachen. Noch vor einer Stunde hätte ich jeden für einen Schurken erachtet, der mir geſagt hätte, Caſpar ſei einer Lüge fähig.“ „Auch mir iſt es nahgegangen,“ verſetzte Herr von Tucher. „Aber wir müſſen Geduld haben. Sehen Sie zu, halten Sie die Augen offen, warten Sie auf den nächſten gegründeten Anlaß, dann greifen Sie ein, und zwar mit wuchtiger Hand.“ Eine Lüge; nein, zwei Lügen auf einmal! Der arme Daumer, er wußte ſich keinen Rat. Er ging hin und überlegte. Herr von Tucher nimmt den ganzen Vorgang zu ſchwer, ſagte er ſich; Herr von Tucher iſt eine ſehr gerechte Natur, aber ohne Zweifel ein Mann mit vielen Vorurteilen, die ihn dazu verführen, eine Lüge mit allen verfehmenden Zeichen der Übeltat auszuſtatten; Herr von Tucher kennt das tägliche Leben nicht, das unſereinen unterſcheiden lehrt zwiſchen dem, was ſchlecht iſt und was der Andrang gebieteriſcher Umſtände auch dem Redlichſten entpreßt. Aber was geht mich Herr von Tucher an, hier handelt es ſich um Caſpar. Ich glaubte einſt, von ihm fordern zu dürfen, was keiner ſonſt von keinem fordern darf. War es eine Verblendung, eine Anmaßung von mir? Wir wollen ſehen; ich muß jetzt herausbekommen, ob er ſchon zu den Gewöhnlichen gehört oder ob ſein Wille noch einer unhörbar rufenden Stimme zu gehorchen fähig iſt. Hat ſich ſein Ohr jedem Geiſterhauch und -ſchall ſchon verſchloſſen, dann iſt ſeine Lüge eine Lüge wie jede andre, kann ich aber noch überſinnliche Kräfte des Verſtehens in ihm wecken, dann will ich die Philiſter verachten, die immer gleich mit dem Bakel erſcheinen. Es bedurfte einer ſchlafloſen Nacht, um dem ſonderbaren Plan Daumers, der eine Art Gottesurteil in ſich ſchließen ſollte, auf die Beine zu helfen. Die Weigerung Caſpars, ſein Tagebuch zu zeigen, gab den Anſtoß. Ich will ihn bewegen, mir aus eignem Trieb das Heft zu bringen, kalkulierte Daumer; ich will etwas wie eine metaphyſiſche Kommunikation zwiſchen mir und ihm herſtellen; ich werde ihn, ohne ein Wort zu ſprechen, mit meinem geiſtigen Verlangen zu erfüllen trachten und werde eine Stunde feſtſetzen, innerhalb deren das nur Gewünſchte zu geſchehen hat. Kann er folgen, ſo iſt alles gut; wenn nicht, dann ade, Wunderglaube, dann hat dieſer beredſame Materialiſt recht gehabt, mir die Seele wegzudiſputieren. Am Morgen, ſo gegen neun Uhr, kam Anna zu ihrem Bruder und ſagte, Caſpar gefalle ihr heute ganz und gar nicht; er ſei ſchon um fünf aufgeſtanden und es ſei eine Unruhe in ihm, die ſie noch nie wahrgenommen; beim Frühſtück habe er fortwährend ängſtlich um ſich herumgeſchaut und keinen Biſſen gegeſſen. Daumer lächelte. Sollte er jetzt ſchon ſpüren, was ich mit ihm vorhabe? dachte er, und ſeine Stimmung wurde mild und zuverſichtlich. Ein ſchicklicher Vorwand, die Frauen aus dem Haus zu ſchaffen, fand ſich ungezwungen; Frau Daumer mußte ohnehin auf den Markt, Anna wurde überredet, einige Beſuche zu machen. Um elf Uhr machte ſich Caſpar an ſeine Schularbeiten, Daumer ging ins Nebenzimmer, ließ aber die Tür offen. Er ſetzte ſich, das Geſicht gegen Caſpars Platz gerichtet, ein wenig hinter der Schwelle auf ein Stühlchen, und es gelang ihm alsbald, mit erſtaunlicher Energie all ſeine Gedanken auf das eine Ziel zu richten, auf dem einen Punkt zu ſammeln. Im Haus war es ſehr ſtill, kein Laut ſtörte das wunderliche Beginnen. Bleich und geſpannt ſaß er alſo und beobachtete, daß Caſpar häufig aufſtand und zum Fenſter trat. Einmal öffnete er das Fenſter, das andre Mal ſchloß er es wieder. Dann begab er ſich zur Tür und ſchien zu überlegen, ob er hinausgehen ſolle. Sein Auge war ohne Stetigkeit und ſein Mund eigentümlich gramvoll verzogen. Aha, es rumort in ihm, frohlockte Daumer, und immer, wenn Caſpar ſich dem Schränkchen näherte, in dem das blaue Heft wahrſcheinlich lag, bekam der unglückliche Magier vor Erwartung Herzklopfen. Wie weit war Caſpar davon entfernt, auch nur zu ahnen, was in Daumer vorging! zu ahnen, daß in dieſer Stunde ſein Geſchick und Weſen vor ein Tribunal geſtellt wurde! Es war ihm ungeheuer bang heute. Es war ihm ſo bang, daß er ein paarmal die ganz beſtimmte Vorſtellung hatte, es würde ihm etwas Schlimmes zuſtoßen. Ja, er hatte das unabweisbare Gefühl, daß einer unterwegs ſei, der ihm etwas zuleide tun werde. Erſtickend lag die Luft im Raum, die Wolken am Himmel blieben lauernd ſtehen; wenn durch die Baumkronen vor dem Fenſter eine Schwalbe ſtrich, ſah es aus, als ob eine ſchwarze Hand pfeilſchnell auf- und niedertauche; das Deckengebälk bog ſich niedriger, hinter dem Getäfel der Wand knackte es unheimlich. Caſpar ertrug es nicht mehr. Sein Blick ſtach, eine kühlſchaurige Angſt floß ihm durch die Haare, die Bruſt wurde eng, es trieb ihn hinaus, hinaus_... Plötzlich verließ er mit fliehenden Gebärden das Zimmer. Ruhig blieb Daumer ſitzen und ſtierte vor ſich hin wie einer, der aus dem Rauſch erwacht. Vorüber, die Friſt war verſtrichen. Er ſchämte ſich ſowohl ſeiner Niederlage als auch ſeines vermeſſenen Unterfangens, denn er war ja ein geſcheiter Kopf und hatte Selbſtbeſinnung genug, um die ſpieleriſche Willkür deſſen, was er gewollt, ernüchtert zu empfinden. Trotzdem ergriff ihn eine finſtere Gleichgültigkeit. Der Hoffnungen zu gedenken, die ſich noch vor kurzem an den Namen Caſpar geknüpft, verurſachte ihm einen ſchalen Geſchmack auf der Zunge. Er faßte den unerſchütterlichen Vorſatz, ſein Leben wie ehedem dem Beruf, der Einſamkeit und den Studien zu widmen und die Kräfte des Geiſtes nur dort zu opfern, wo im Frieden der Erkenntnis und des Forſchens jede Gabe ſichtbar bezahlt wird. 8. Eine vermummte Perſon tritt auf