Am ſelben Abend ſuchte Hickel den Lehrer auf und teilte ihm mit, daß der Soldat Schildknecht von nun an den Hauſer überwachen werde. Caſpar war nicht daheim, und auf die Frage nach ihm antwortete Quandt, er ſei ins Theater.
„Schon wieder ins Theater!“ rief Hickel. „Das dritte Mal ſeit vierzehn Tagen, wenn ich recht zähle.“
„Er hat eine große Vorliebe dafür gefaßt,“ erwiderte Quandt; „beinahe ſein ganzes Taſchengeld verwendet er dazu, um Billette zu kaufen.“
„Mit dem Taſchengeld wird es, nebenbei bemerkt, nächſtens hapern,“ ſagte der Polizeileutnant, „der Graf hat mir diesmal nur die Hälfte des vereinbarten Monatswechſels geſchickt. Offenbar wird ihm die Sache zu koſtſpielig.“
Stanhope hatte von Anfang an die für Caſpar zu verwendenden Gelder an Hickel geſandt.
„Koſtſpielig? Dem Lord? Einem Pair der Krone Großbritannien? Dieſe Lappalie koſtſpielig!“ Quandt riß vor Erſtaunen die Augen auf.
„Das erzählen Sie nur keinem andern, ſonſt denkt man, Sie machen ſich luſtig über den Grafen,“ ſagte die Lehrerin. Neugierig prüfend ſchaute ſie den Polizeileutnant an. Dieſer aalglatte und geſchniegelte Mann war ihr ſtets merkwürdig und reizvoll erſchienen. Er brachte das bißchen Phantaſie, das ſie hatte, in Bewegung.
„Kann nicht helfen,“ ſchloß Hickel unwirſch das Geſpräch, „es iſt ſo. Der Poſtzettel liegt bei mir zur Einſicht vor. Der Graf wird ſchon wiſſen, was er tut.“
Als Caſpar nach Hauſe kam, fragte ihn Quandt, wie er ſich unterhalten habe. „Gar nicht, es war ſoviel von Liebe in dem Stück,“ antwortete er ärgerlich. „Ich kann das Zeug nun einmal nicht ausſtehen. Da ſchwätzen ſie und jammern, daß einem ganz dumm wird, und was iſt das Ende? Es wird geheiratet. Da will ich lieber mein Geld einem Bettler ſchenken.“
„Vorhin war der Herr Polizeileutnant hier und hat uns eröffnet, daß der Graf Ihre Bezüge erheblich gemindert hat,“ ſagte Quandt. „Sie werden alſo alle Ausgaben überhaupt beſchränken und den Theaterbeſuch, fürchte ich, ganz aufgeben müſſen.“
Caſpar ſetzte ſich zum Tiſch, aß ſein Abendbrot und ſagte lange nichts. „Schade,“ ließ er ſich endlich vernehmen, „übernächſte Woche iſt der ‚Don Carlos‘ von Schiller. Das ſoll ein herrliches Stück ſein, das möcht’ ich noch ſehen.“
„Wer hat Ihnen denn mitgeteilt, daß es ein herrliches Stück iſt?“ fragte Quandt mit der nachſichtig überlegenen Miene des Fachmannes.
„Ich hab’ Frau von Imhoff und Frau von Kannawurf im Theater getroffen,“ erklärte Caſpar, „beide haben es geſagt.“
Die Lehrerin hob den Kopf: „Frau von Kannawurf? Wer iſt denn das nun wieder?“
„Eine Freundin von der Imhoff,“ erwiderte Caſpar.
Quandt beſprach ſich mit ſeiner Frau noch bis Mitternacht darüber, wie man ſich in die vom Grafen getroffene Veränderung zu ſchicken habe. Es wurde vereinbart, daß Caſpar von jetzt ab den Mittagstiſch für zehn und den Abendtiſch für acht Kreuzer haben ſolle. „Wenn das ſo iſt, wie der Polizeileutnant ſagt, muß ich in jedem Fall draufzahlen,“ meinte die Lehrerin.
„Wir dürfen nicht vergeſſen, daß der Hauſer im Eſſen und Trinken wirklich beiſpiellos mäßig iſt,“ verſetzte Quandt, deſſen Redlichkeit ſich gegen eine unrechtmäßige Beſchränkung ſträubte.
„Macht nichts,“ beharrte die Frau, „ich muß doch immer um ſo viel mehr in der Küche haben, daß ein Hungriger ſatt wird. Das krieg’ ich nicht geſchenkt.“
Am andern Nachmittag brachte Hickel das Monatsgeld. Er und Quandt traten gerade in den Flur, als Caſpar, zum Ausgehen fertig, aus ſeinem Zimmer herunterkam. Vom Lehrer gefragt, wohin er gehe, antwortete er verlegen, er wolle zum Uhrmacher, ſeine Uhr ſei nicht in Ordnung, und er müſſe ſie richten laſſen. Quandt verlangte die Uhr zu ſehen, Caſpar reichte ſie ihm, der Lehrer hielt ſie ans Ohr, beklopfte das Gehäuſe, probierte, ob ſie aufzuziehen ſei, und ſagte ſchließlich: „Der Uhr fehlt ja nicht das mindeſte.“
Caſpar errötete und ſagte nun, er habe ſich bloß ſeinen Namen auf den Deckel gravieren laſſen wollen; doch er hätte ein viel geſchickterer Heuchler ſein müſſen, um ſeinen Worten den Stempel der Ausflucht zu nehmen. Quandt und Hickel ſahen einander an. „Wenn Sie einen Funken Ehrgefühl im Leib haben, ſo geſtehen Sie jetzt offen, wohin Sie gehen wollten,“ ſagte Quandt ernſt.
Caſpar beſann ſich und erwiderte zögernd, er habe die Abſicht gehabt, in die Orangerie zu gehen.
„In die Orangerie? Warum? Zu welchem Zweck?“
„Der Blumen wegen. Es ſind dort im Frühjahr immer ſo ſchöne Blumen.“
Hickel räuſperte ſich bedeutſam. Er blickte Caſpar ſcharf an und ſagte ironiſch: „Ein Poet. Unter Blumen — laß mich ſeufzen ...“ Dann nahm er ſeine militäriſche Miene an und erklärte bündig, er habe den Präſidenten beſtimmt, die unbedacht gewährte Erlaubnis zu freiem Ausgehen wieder zu kaſſieren. Täglich um fünf Uhr werde ſein Burſche antreten, und in deſſen Geſellſchaft möge Caſpar tun, was ihm beliebe.
Caſpar blickte ſtill auf die Gaſſe hinaus, wo die Frühlingsſonne lag. „Es ſcheint —“ murmelte er, ſtockte aber und ſah ergeben vor ſich hin.
„Was ſcheint?“ fragte der Lehrer. „Nur heraus damit. Halbgeſagtes verbrennt die Zunge.“
Caſpar richtete die Augen forſchend auf ihn. „Es ſcheint,“ beendete er den Satz, „daß beim Präſidenten doch recht behält, wer zuletzt kommt.“ Als er der Wirkung dieſer bitteren Worte inne ward, hätte er ſie gern wieder ungeſprochen gemacht. Der Lehrer ſchüttelte entſetzt den Kopf, Hickel pfiff leiſe durch die geſpitzten Lippen. Dann nahm er ſein Notizbuch, das zwiſchen zwei Knöpfen ſeines Rockes ſtak, und ſchrieb etwas auf. Caſpar beobachtete ihn mit ſcheuen Blicken, es flackerte wie ein Blitz über ſeine Stirn.
„Natürlich werde ich den Staatsrat von dieſer unziemlichen Bemerkung unterrichten,“ ſagte Hickel in amtlichem Ton.
Als der Polizeileutnant gegangen war, bat Caſpar den Lehrer, er möge ihn doch ausnahmsweiſe heute fortlaſſen, weil ſo ſchönes Wetter ſei. „Es tut mir leid,“ entgegnete Quandt, „ich muß nach meiner Inſtruktion handeln.“
Der Burſche Hickels erſchien erſt gegen halb ſechs. Caſpar begab ſich mit ihm auf den Weg nach dem Hofgarten, aber als ſie hinkamen, war die Orangerie ſchon geſchloſſen. Schildknecht ſchlug vor, am Onolzbach entlang ſpazierenzugehen; Caſpar ſchüttelte den Kopf. Er ſtellte ſich an eines der offenen Fenſter des Gewächshauſes und blickte hinein.
„Suchen Sie wen?“ fragte Schildknecht.
„Ja, eine Frau wollte mich hier treffen,“ erwiderte Caſpar. „Macht nichts, gehen wir wieder heim.“
Sie kehrten um; als ſie auf den Schloßplatz gelangten, ſah Caſpar Frau von Kannawurf, die in der Mitte des Platzes ſtand und einer großen Menge von Spatzen Broſamen hinſtreute. Caſpar blieb außerhalb der Sperlingsverſammlung ſtehen; er ſchaute zu und vergaß ganz zu grüßen. Die Fütterung war bald beendet, Frau von Kannawurf ſetzte den Hut wieder auf, den ſie am Band über den Arm gehängt hatte, und ſagte, ſie ſei anderthalb Stunden lang im Gewächshaus geweſen.
„Ich bin kein freier Menſch, kann nicht halten, was ich verſpreche,“ antwortete Caſpar.
Sie gingen die Promenade hinunter, dann links gegen die Vorſtadtgärten. Schildknecht marſchierte hinterdrein; der rotbackige kleine Menſch in der grünen Uniform ſah drollig aus. Der größte von den dreien war überhaupt Caſpar, denn auch Frau von Kannawurf hatte eine kindliche Geſtalt.
Nachdem ſie lange Zeit ſchweigend nebeneinander her gewandert waren, ſagte die junge Frau: „Ich bin eigentlich Ihretwegen in dieſe Stadt gekommen, Hauſer.“ Die ein wenig ſingende Stimme hatte einen fremden Akzent, und während ſie ſprach, pflegte ſie hie und da mit den Lidern zu blinzeln, wie Leute tun, die ermüdete Augen haben.
„Ja, und was wollen Sie von mir?“ verſetzte Caſpar mehr unbeholfen als ſchroff. „Das haben Sie mir ſchon geſtern im Theater geſagt, daß Sie meinetwegen gekommen ſind.“
„Das iſt Ihnen nichts Neues, denken Sie. Aber ich will nichts von Ihnen haben, im Gegenteil. Es iſt ſehr ſchwer, im Gehen darüber zu reden. Setzen wir uns dort oben ins Gras.“
Sie ſtiegen den Abhang des Nußbaumberges hinan und ließen ſich vor einer Hecke auf den Raſen nieder. Ihnen gegenüber ſank die Sonne gegen die Waldkuppen der ſchwäbiſchen Berge. Caſpar ſchaute andächtig hin, Frau von Kannawurf ſtützte den Ellbogen aufs Gras und ſah in die violette Luft. Schildknecht, als verſtehe er, daß ſeine Gegenwart nicht erwünſcht ſei, hatte ſich weit unterhalb auf einen umgeſtürzten Baum geſetzt.
„Ich beſitze ein kleines Gut in der Schweiz,“ begann Frau von Kannawurf, „ich habe es vor zwei Jahren gekauft, um mir in einem freien Land einen Zufluchts- und Ruheplatz zu ſchaffen. Ich mache Ihnen den Vorſchlag, mit mir dorthin zu reiſen. Sie können dort ganz nach Ihrem Wunſch leben, ohne Beläſtigung und ohne Gefahr. Nicht einmal ich ſelbſt werde Sie ſtören, denn ich kann nirgends bleiben, es treibt mich immer woanders hin. Das Haus liegt vollſtändig einſam zwiſchen hohen Bergen im Tal und an einem See. Nichts Großartigeres läßt ſich denken als der Anblick des ewigen Schnees, wenn man dort im Garten unter den Apfelbäumen ſitzt. Da es viel Schwierigkeiten und viel Zeit koſten würde, wenn ich es durchſetzen wollte, Sie vor aller Welt hinzubringen, bin ich dafür, daß Sie mit mir fliehen. Sie brauchen nur ja zu ſagen und alles iſt bereit.“
Sie hatte Caſpar jetzt das Geſicht voll zugewandt, und dieſer kehrte den etwas geblendeten Blick von dem roten Sonnenball weg und ſchaute ſie an. Er hätte von Holz ſein müſſen, um dieſem wunderſchönen Antlitz gegenüber unempfindlich zu bleiben, und ganz von ſelbſt, und als ob er ihr gar nicht zugehört hätte, fielen die verwunderten Worte von ſeinen Lippen: „Sie ſind aber ſehr ſchön.“
Frau von Kannawurf errötete. Es gelang ihr nicht, hinter ihrem ſpöttiſchen Lächeln ein ſchmerzliches Gefühl zu verbergen. Ihr Mund, der etwas Kindlich-Süßes hatte, zuckte beſtändig, wenn ſie ſchwieg. Caſpar geriet in Verwirrung unter ihrem erſtaunten Blick und ſah wieder in die Sonne.
„Sie antworten mir nicht?“ fragte Frau von Kannawurf leiſe und enttäuſcht.
Caſpar ſchüttelte den Kopf. „Es iſt unmöglich zu tun, was Sie von mir wollen,“ ſagte er.
„Unmöglich? warum?“ Frau von Kannawurf richtete ſich jäh auf.
„Weil ich dort nicht hingehöre,“ ſagte Caſpar feſt.
Das junge Weib ſah ihn an. Ihr Geſicht hatte den Ausdruck eines aufmerkſamen Kindes und wurde nach und nach ſo blaß wie der Himmel über ihnen. „Wollen Sie ſich denn opfern?“ fragte ſie ſtarr.
„Weil ich dorthin muß, wo ich hingehöre,“ fuhr Caſpar unbeirrt fort und blickte immer noch gegen die Stelle, wo die Sonne jetzt verſchwunden war.
Ihn zu meinem Plan zu bekehren, iſt vergeblich, dachte Frau von Kannawurf ſogleich; großer Gott, wie wahr, wie einfach alles vor ihm liegt: ja — nein, ſchön — häßlich; er betrachtet die Dinge nur von oben. Und wie ſein Geſicht grenzenloſe Güte mit einer naiven und zärtlichen Traurigkeit vereint; man iſt benommen und erſtaunt, wenn man ihn anſchaut.
„Was aber wollen Sie tun?“ fragte ſie zaudernd.
„Ich weiß es noch nicht,“ entgegnete er wie im Traum und verfolgte mit den Augen eine Wolke, welche die Geſtalt eines laufenden Hundes hatte.
Alſo was man mir berichtet hat, iſt falſch; er fürchtet ſich ja gar nicht, dachte das junge Weib. Sie erhob ſich und ging ungeſtüm voraus, den Hügel hinunter an Schildknecht vorbei, der zu ſchlafen ſchien. Man muß ihn ſchützen, dachte ſie weiter, er iſt imſtande und rennt in ſein Verderben; was er tun wird, weiß er nicht, natürlich, er iſt wahrſcheinlich nicht fähig, einen Plan zu machen, aber er wird handeln, er trägt eine Tat mit ſich herum und wird vor nichts mehr zurückſchrecken; es iſt nicht ſchwer, ihn zu erraten, obwohl er ausſieht wie das Schweigen ſelbſt.
Sie blieb ſtehen und wartete auf Caſpar. „Ei, Sie können ordentlich laufen,“ ſagte er bewundernd, als er wieder an ihrer Seite war.
„Die friſche Luft macht mich ein bißchen wild,“ antwortete ſie und holte tief Atem.
Als Frau von Kannawurf und Caſpar durch den Torbogen des Herrieder Turmes gingen, ſahen ſie plötzlich neben einem leeren Schilderhäuschen den Polizeileutnant. Und beide blieben unwillkürlich ſtehen, denn der Anblick hatte etwas Erſchreckendes. Hickel lehnte nämlich mit der Schulter gegen das Häuschen und ſah aus wie zur Bildſäule erſtarrt. Trotz der Dunkelheit konnte man wahrnehmen, daß ſein Geſicht aſchfahl war, und es lag über ſeinen Zügen eine bleierne Düſterkeit. Hinter ihm ſtand ſein Hund, eine große graue Dogge; das Tier war genau ſo regungslos wie ſein Herr und blickte unverwandt an ihm empor.
Caſpar zog grüßend den Hut; Hickel bemerkte es nicht. Frau von Kannawurf ſah noch einmal zurück und flüſterte fröſtelnd: „Wie furchtbar! Was für ein Mann! Was mag ihn peinigen!“
War es denkbar, daß der Polizeileutnant, etwa durch neue Spielverluſte in Verzweiflung gebracht, ſich ſo weit vergeſſen konnte, daß er, wennſchon durch die Dunkelheit und einen Mauerwinkel geſchützt, auf offener Gaſſe das Schauſpiel eines vom Krampf Befallenen darbot? Das iſt den Spielern ſonſt nicht eigen; ſie überſchlafen ihren Unglücksrauſch und geben ſich kaltblütig dem tückiſchen Zufall von neuem in die Hände. Aber Spieler pflegen ſkrupellos zu ſein; ſetzen ſie nicht Geld auf Karten, ſo ſetzen ſie auf Seelen, und dabei kann es ſich wohl ereignen, daß ihnen der Teufel eine gräßliche Schuldverſchreibung vorhält, die ſie mit ihrem Blut unterzeichnen müſſen.
Als Hickel am Nachmittag nach Hauſe gekommen war, trat ihm vor der Tür ſeiner Wohnung ein unbekannter Mann entgegen, übergab ihm ein verſiegeltes Schreiben und verſchwand wieder, ohne geſprochen zu haben. Der erfahrene Blick des Polizeileutnants konnte nicht im unklaren darüber bleiben, daß der Menſch falſches Haar und falſchen Bart getragen hatte. Der Brief, den Hickel ſogleich öffnete, war chiffriert; ſeine Entzifferung koſtete, trotzdem der Schlüſſel bekannt war, den Reſt des Nachmittags. Der Inhalt des Schreibens bezog ſich auf die mit dem Präſidenten gemeinſchaftlich anzutretende Reiſe. Hickel las, las und las wieder. Er hatte ſchon beim erſten Male verſtanden, aber er las, um nicht denken zu müſſen.
Punkt ſieben Uhr erhob er ſich vom Schreibtiſch und ging zehn Minuten lang pfeifend im Zimmer auf und ab. Sodann öffnete er ein Glasſchränkchen, nahm eine Flaſche mit Whisky heraus, die er vom Grafen Stanhope geſchenkt erhalten hatte, füllte ein nettes ſilbernes Becherchen damit und trank es in einem Zuge leer. Hierauf griff er zur Bürſte, reinigte den Rock, danach hing er den Säbel um und um halb acht verließ er mit dem Hund ſeine Wohnung. Er ſchien gutgelaunt, denn er pfiff und ſummte noch immer vor ſich hin und knipſte hier und da mit den Fingern. Doch unter dem Bogen des Herrieder Turmes blieb er auf einmal ſtehen und ſah angelegentlich zur Erde nieder. Ein durchfahrender Handwagen ſtieß ihn an der Hüfte an, deshalb ging er ein paar Schritte weiter bis zum Schilderhauſe um die Ecke. Dort gewahrte ihn das heimkehrende Paar.
Es würde einen ungenügenden Einblick in den Charakter des Polizeileutnants beweiſen, wenn man annehmen wollte, daß dieſe Sinnesverdunklung länger gedauert habe, als gemeinhin eine vorübergehende Blutleere im Kopf dauert. Um acht Uhr ſaß er ſchon mit einigen Kollegen beim Fiſcheſſen in der „Goldenen Gabel“ und um neun Uhr war er im Kaſino; ſollte dieſe genaue Stundenangabe etwas Verdrießliches haben, ſo ſei hinzugefügt, daß er in der Zeit von neun bis vier Uhr überhaupt keinen Glockenſchlag mehr, ſondern nur noch das eintönige Kniſtern der Spielkarten vernahm. Er gewann. Auf dem Heimweg durch die grauende Frühe paſſierte dann das Auffällige, daß er vor dem Sterngaſthof in der Mitte der Straße Halt machte, den Säbel an das Bein preßte und einen langen, ſaugenden Blick gegen dasſelbe Fenſter hinaufſchickte, hinter dem er einſt die ſchöne Fremde geſehen hatte.
Am Morgen ſchlief er lange, und als der Burſche mit dem Rapport kam, hörte er kaum zu. Schildknecht war verpflichtet, jeden Morgen Bericht zu erſtatten, wo er den Nachmittag oder Abend vorher mit Caſpar geweſen. Faſt jedesmal hieß es von nun ab: wir haben die Frau von Kannawurf abgeholt, oder: die Frau von Kannawurf iſt uns begegnet und wir ſind ſpazierengegangen, oder bei Regenwetter: wir ſind im Imhoffſchen Garten in der Laube geſeſſen. Dieſes „Wir“ hatte aber in Schildknechts Mund einen ſehr beſcheidenen Klang; er ſprach von Caſpar ſtets mit achtungsvoller Zurückhaltung. Da er die Wahrnehmung machte, daß ſein Herr die Berichte über das regelmäßige Beiſammenſein der beiden mit Unruhe aufnahm, wußte er in ſeinen Ton etwas wie eine Verſicherung von Harmloſigkeit zu legen, fügte zum Beiſpiel hinzu: „ſie haben viel über das Wetter geſprochen,“ oder: „ſie haben ſich über gebildete Sachen unterhalten.“ Solche Einzelheiten erfand er, denn in Wirklichkeit hielt er ſich jedesmal in einer taktvollen Entfernung hinter den beiden.
Hickel begann dem jungen Menſchen zu mißtrauen.
Eines Abends erwiſchte er ihn, wie er in einem Winkel der Küche hockte, eine Kerze vor ſich, und mit dem Zeigefinger buchſtabierend über die Zeilen eines Buches glitt. Als er ſich geſtört fand, war er wie entgeiſtert, ſeine roten Backen hatten die Farbe verloren. Hickel nahm das Buch, und ſein Geſicht wurde finſter wie die Nacht, als er ſah, daß es die Feuerbachſche Schrift war. „Woher hat Er das?“ ſchrie er Schildknecht an. Der Burſche erwiderte, er habe es auf dem Bücherſchrank des Herrn Leutnant gefunden. „Das iſt eine widerrechtliche Aneignung, ich werde Ihn davonjagen und disziplinieren laſſen, wenn ſo etwas nochmal vorkommt, merk’ Er ſich das!“ donnerte Hickel.
Wahrſcheinlich hätte die erſtbeſte Seeräubergeſchichte die Neugier des Tölpels ebenſo gereizt, ſagte ſich Hickel ſpäter und erklärte ſein Aufbrauſen für eine Unbeſonnenheit. Gleichwohl witterte er Gefahr, der Burſche war nicht nach ſeinem Sinn, und er beſchloß, ſich ſeiner zu entledigen. Ein Anlaß ergab ſich bald.
Als Schildknecht tags darauf Caſpar abholte, merkte er, daß dieſer verſtimmt war. Er ſuchte ihn aufzuheitern, indem er ein paar luſtige Schnurren aus dem Kaſernenleben vorbrachte. Caſpar ging auf die Unterhaltung ein, er fragte den zutraulichen Menſchen nach ſeiner Heimat, nach ſeinen Eltern, und Schildknecht bemühte ſich, auch davon möglichſt gutgelaunt zu erzählen, obſchon es ein trauriges Kapitel für ihn war. Er hatte eine Stiefmutter gehabt, der Vater hatte ihn in früher Jugend unter fremde Leute gegeben, kaum war er von Hauſe fort, ſo hatte ein Liebhaber der Frau den Vater im Raufhandel erſchlagen. Jetzt ſaß der Liebhaber ſamt der Frau im Zuchthaus, und die Brüder hatten das Vermögen durchgebracht.
Schildknecht wagte zu fragen, weshalb Caſpar heute ſeine Freundin nicht treffe.
„Sie geht ins Theater,“ antwortete Caſpar.
Warum denn er nicht gehe, fragte Schildknecht weiter.
Er habe kein Geld.
„Kein Geld? Wieviel braucht man denn dazu?“
„Sechs Groſchen.“
„Soviel hab’ ich grad’ bei mir,“ meinte Schildknecht, „ich leih’s Ihnen.“
Caſpar nahm das Anerbieten mit Vergnügen an. Es wurde nämlich der „Don Carlos“ gegeben, auf den er ſich ſchon lange gefreut hatte.
Das Stück erregte mit Ausnahme des verrückten Frauenzimmers, das den Prinzen verführen will, ſein Entzücken. Und wie ward ihm, als der Marquis zum König ſprach:
Sie haben umſonſt
Den harten Kampf mit der Natur gerungen,
Umſonſt ein großes königliches Leben
Zerſtörenden Entwürfen hingeopfert.
Der Menſch iſt mehr, als Sie von ihm gehalten.
Des langen Schlummers Bande wird er brechen
Und wiederfordern ſein geheiligt Recht.
Er erhob ſich von ſeinem Platz, ſtarrte gierig, mit funkelnden Augen auf die Bühne und enthielt ſich nur mit Mühe eines lauten Ausrufs. Zum Glück wurde die Störung in der herrſchenden Dunkelheit nicht weiter beachtet; ſein Nachbar, ein böſer alter Kanzleirat, zerrte ihn grob auf den Sitz zurück.
Das Ausbleiben über den Abend hatte zunächſt ein Verhör durch den Lehrer zur Folge. Er geſtand, im Schloßtheater geweſen zu ſein. „Woher haben Sie Geld?“ fragte Quandt. Caſpar erwiderte, er habe das Billett geſchenkt bekommen. „Von wem?“ Gedankenlos, noch ganz gefangen von der Dichtung, nannte Caſpar irgendeinen Namen. Quandt erkundigte ſich am andern Tag, erfuhr ſelbſtverſtändlich, daß ihn Caſpar belogen hatte, und ſtellte ihn zur Rede. In die Enge getrieben, bekannte Caſpar die Wahrheit, und Quandt machte dem Polizeileutnant Mitteilung.
Um fünf Uhr nachmittags ertönte im Hof vor Caſpars Fenſter der wohlbekannte Pfiff, zwei melodiſche Triolen, mit denen ſich Schildknecht zu melden pflegte. Caſpar ging hinunter.
„Es iſt aus mit uns beiden,“ ſagte Schildknecht zu ihm, „der Polizeileutnant hat mich entlaſſen, weil ich Ihnen das Geld geliehen hab’. Ich muß jetzt wieder Kaſernendienſt tun.“
Caſpar nickte trübſelig. „So geht mir’s eben,“ murmelte er, „ſie wollen’s nicht leiden, wenn einer zu mir hält.“ Er reichte Schildknecht die Hand zum Abſchied.
„Hören Sie mal zu, Hauſer,“ ſagte Schildknecht eifrig, „ich will jede Woche zwei- oder dreimal, überhaupt wenn ich frei bin, dahier in den Hof kommen und meinen Pfiff pfeifen. Vielleicht brauchen Sie mich mal. Warum nicht, kann ja möglich ſein.“
Es lag in den Worten eine über alle Maßen tiefe Herzlichkeit. Caſpar richtete den aufmerkſamen Blick in Schildknechts freundlich lächelndes Geſicht und erwiderte langſam und bedächtig: „Es kann möglich ſein, das iſt wahr.“
„Topp! Abgemacht!“ rief Schildknecht.
Sie gingen durch den Flur nach der Straße. Vor dem Tor ſtand ein Amtsdiener, und da er Caſpars anſichtig wurde, ſagte er, er habe ihn geſucht, der Herr Staatsrat ſchicke ihn her, Caſpar ſolle gleich hinkommen. Caſpar fragte, was es gäbe. „Der Herr Staatsrat reiſt um ſechs Uhr mit dem Herrn Polizeileutnant ab und will noch mit Ihnen ſprechen,“ antwortete der Mann.
Caſpar machte ſich auf den Weg. Ein paar hundert Schritte vom Lehrerhaus entfernt konnte er nicht weiter. Ein Ziegelwagen war vor dem Einfahren in ein Tor mit gebrochener Radachſe umgeſtürzt und verſperrte die Gaſſe. Caſpar wartete eine Weile, kehrte dann um und mußte nun durch die Würzburger Straße und über die Felder. Infolgedeſſen kam er zu ſpät. Als er vor dem Feuerbachſchen Garten anlangte, war der Präſident ſchon weggefahren. Henriette und der Hofrat Hofmann ſtanden am Gartentor und nahmen Caſpars triftige Entſchuldigung ſchweigend auf. Henriette hatte verweinte Augen. Sie blickte lange die Gaſſe hinunter, wo der Wagen verſchwunden war, dann drehte ſie ſich wortlos um und ſchritt gegen das Haus.