Eines Nachmittags im Dezember ſahen erſtaunte Nachbarn den Lehrer Quandt wie beſeſſen aus ſeinem Haus und gegen die Neuſtadt ſtürmen, wo die Wohnung des Polizeileutnants lag. Er trat ins Zimmer des Leutnants, und ohne ſich Zeit zu gönnen, ſeinen Hut vom Kopf zu nehmen, griff er in die Rocktaſche und hielt Hickel wortlos ein dünnes Druckheft entgegen.
Es war die vor kurzem erſchienene Caſpar-Hauſer-Broſchüre Feuerbachs. Quandt hatte das Büchlein erſt heute in die Hände bekommen und es in einem Zug durchgeleſen.
Hickel nahm das Heft, beſah es rundum und ſagte gelaſſen: „Na, und? Was ſoll’s? Meinen Sie, daß das eine Neuigkeit für mich iſt? Sie echauffieren ſich doch nicht etwa? Der Alte ſchreibt, weil das ſein Geſchäft iſt. Eher können Sie einer Henne das Eierlegen abgewöhnen als einem geborenen Federfuchſer das Schreiben.“
Quandt atmete tief auf. „Schreiben, ſchön; ich laſſe ja vieles gelten,“ antwortete er, „aber das geht denn doch zu weit. Erlauben Sie —“ er packte das Heft, ſchlug das Titelblatt auf und las vor: „Caſpar Hauſer oder Beiſpiel eines Verbrechens am Seelenleben des Menſchen. Das klingt ja nach etwas,“ ſagte er bitter; „es ſtreut den Leuten von vornherein Sand in die Augen. Aber das Ganze iſt ein Roman, und nicht einmal einer von der beſten Sorte.“
Er blätterte und deutete mit dem Finger auf eine Stelle, die er gleichfalls höhniſch betont vorlas: „Caſpar Hauſer, das rare Exemplar der Gattung Menſch —! Lieber Herr Polizeileutnant, da bin ich mit meiner Weisheit zu Ende. Das kommt mir ſo vor, als ob man den notoriſch ſchlechteſten meiner Schüler vor verſammeltem Volk als einen großen Gelehrten erklärte. Rares Exemplar! In dem Punkt weiß ich beſſer Beſcheid, halten zu Gnaden, Exzellenz; da könnte ich einem verehrlichen Publiko ganz anders die Augen öffnen. Rares Exemplar, gewiß! Aber man muß nur auch das Alphabet von vorne und nicht von hinten leſen. Das iſt alſo der große Kriminaliſt, der beſtaunte Alleswiſſer! So ſieht der Ruhm aus, wenn man ihn aus der Nähe betrachtet! Und nun erſt das ganze dynaſtiſche Hintertreppenmärchen! Es wäre ja zum Lachen, wenn es nicht ſo traurig wäre. Herrgott, iſt das eine Zeit, iſt das eine Welt!“
Der Polizeileutnant hörte mit kaum merklichem Lächeln den Ausbruch des Lehrers an. Als Quandt zu Ende war, ſagte er gleichmütig: „Was wollen Sie? Als getreue Diener ſind wir nun einmal dazu verurteilt, die dummen Streiche unſrer Herrſchaft mitanzuſehen. Übrigens kann ich Sie in einer Hinſicht beruhigen. Der Präſident hat ſelber keine rechte Freude an dem Büchlein. Er klagt über Gedächtnisfehler, die ihm dabei paſſiert ſind, und daß es ihn mehr Mühe gekoſtet hat, die Geſchichte zu Papier zu bringen, denn ein ganzes Corpus juris. Und jetzt muß er’s erleben, daß man ihm draußen im Reich hart zuſetzt. Es geht die Rede, daß die Bundeskommiſſion zu Frankfurt die Schrift konfiszieren wird.“
„Recht ſo,“ rief Quandt. „Auch die Fürſten ſollten etwas dagegen unternehmen.“
„Das laſſen Sie nur die Sache der Fürſten ſein,“ verſetzte Hickel, deſſen Geſicht plötzlich böſe und ſorgenvoll wurde. „Potz Kreuz, lieber Quandt, Sie ereifern ſich ja da, als ob’s Ihnen an den Kragen ginge. Ich möchte nur gar zu gern wiſſen, ob Sie auch ſo viel Mut zeigen würden, wenn die Exzellenz dahier im Zimmer wäre.“
Quandt ſchaute ſich mißtrauiſch um. Dann zuckte er die Achſeln und erwiderte: „Sie belieben zu ſcherzen, Herr Polizeileutnant. Schlimm genug, daß man mit ſeiner wahren Meinung hinterm Berg halten muß. Wir haben alle vergeſſen, wie ein Mann den Kopf tragen ſoll. Kuſchen, das haben wir gelernt, das verſtehen wir von Grund aus. Aber ich will nicht mehr kuſchen.“
„Pſt!“ unterbrach ihn Hickel unwirſch; „laſſen wir das; es ſchmeckt nach Demagogentum. Sagen Sie mir lieber: Hat der Hauſer Kenntnis von der Broſchüre?“
„Nicht daß ich wüßte,“ entgegnete Quandt. „Aber es wird nicht zu vermeiden ſein, daß er davon erfährt, gibt es doch Unverſtändige genug, die ſich ein Vergnügen daraus machen werden. Haben Sie, Herr Polizeileutnant, nicht auch von der Schrift eines gewiſſen Garnier gehört?“
Bei der Nennung dieſes Namens zuckte Hickel zuſammen und ſah den Lehrer finſter an. Es dauerte eine ganze Weile, bevor er ſich zu einer Antwort entſchloß. „Garnier? Ja, das iſt ein landesflüchtiges Subjekt. In ſeinem Pamphlet bringt er dieſelben ſinnloſen Dinge vor wie der Staatsrat, bloß noch verbrämt mit dem windigſten Hofklatſch. Das Machwerk iſt nicht der Rede wert.“
„Wie ſoll ich mich aber verhalten, wenn der Hauſer irgendwie in den Beſitz eines dieſer Produkte kommt?“ fragte Quandt.
Hickel ſpazierte mit ſeinen langen Schritten herum und nagte mit den Zähnen nervös an der Unterlippe. „Treffen Sie Vorſorge,“ erwiderte er kalt. „Laſſen Sie ihn nicht aus den Augen. Mich kümmert das übrigens gar nicht; iſt mir völlig egal. Man wird den jungen Mann ſchon karwanzen.“
Quandt ſeufzte. „Herr Polizeileutnant,“ ſagte er bedrückt, „ich kann Ihnen nicht ſchildern, wie mir iſt. Meine halbe Seligkeit gäb’ ich drum, wenn es mir vergönnt wäre, den Menſchen zu einem offenen Geſtändnis zu bringen.“
„Man wird’s Ihnen billiger machen,“ verſetzte Hickel düſter.
„Wiſſen Sie denn das Neueſte?“ fuhr Quandt fort. „Der Präſident will den Hauſer als Schreiber beim Appellgericht beſchäftigen. Morgen ſoll er ſchon anfangen.“
„Und was wird der Graf dazu ſagen?“
„Man hat es ihm ſchreiben wollen; weiß aber nicht, wo er ſich aufhält. Es iſt ſeit vier Wochen nur ein einziger Brief von ihm gekommen, und den hat der Hauſer nicht einmal angeſehen. Meines Erachtens muß er ſich über die Maßregel freuen. Für ein Metier im engeren Sinn iſt der Hauſer doch nicht zu brauchen, er hat leider den Verkehr mit den gebildeten und höheren Ständen zu lange genoſſen, als daß es ihn nicht rebelliſch machen müßte, wenn er ihn plötzlich mit der Umgebung in einer Werkſtätte vertauſchen müßte. Anderſeits iſt er auch zu einem Beruf ungeeignet, der eine tiefere Ausbildung erfordert, denn zu einem ernſthaften Studium fehlt ihm Sinn und Ausdauer. Der Staatsrat hat demnach die beſte Löſung getroffen, die auch mich von einem Teil meiner Verantwortlichkeit entlaſtet. Bei der Schreiberei kann ſich der Hauſer nicht nur zu einem Beamten des niederen Dienſtes, ſondern bei einigem Fleiß ſogar für eine Stelle beim Regiſtratur- oder Rechnungsweſen ausbilden.“
Hickel hörte der weitläufigen Auseinanderſetzung kaum zu. Sie gingen nun zuſammen fort; vor der Hofapotheke verabſchiedete ſich Hickel, um ſich, wie er ſagte, ein Pülverchen gegen Schlafloſigkeit verſchreiben zu laſſen.
Auf dem Nachhauſeweg wurde Quandt vom Hofrat Hofmann ſehr freundlich gegrüßt, eine Tatſache, die hinreichend war, ſeine mürriſche Stimmung ungemein aufzuheitern. Beim Mittageſſen, es gab Kalbsbruſt und Ochſenmaulſalat, wurde er ſogar luſtig und trieb allerlei Scherze mit ſeiner Gattin. Aber wie es bei ſeriöſen Naturen der Fall zu ſein pflegt, geriet ſeine Aufgeräumtheit ziemlich ins Plumpe. Unter anderm nahm er das Meſſer und fuchtelte der Lehrerin lachend damit vor der Naſe herum. Da erblaßte Caſpar, ſtand auf und ſagte: „Um Gottes willen, Herr Lehrer, legen Sie doch das Meſſer weg, ich kann’s nicht ſehen.“
Quandt, gleich wieder verdrießlich, brummte: „Na, hören Sie mal, Hauſer, ein ſolches Betragen ſchmeckt ſtark nach Affektation.“
„Sie ſind ein ſchöner Tappel,“ ſagte die Lehrerin, „ein Mann muß mutig ſein. Was wollen Sie denn tun, wenn’s mal Krieg gibt? Da heißt es mit Anſtand ſterben.“
„Sterben? Nein, da ſag’ ich Dank, ſterben mag ich nicht,“ erwiderte Caſpar haſtig.
„Und doch haben Sie ſich damals vor dem Polizeileutnant in einer höchſt widerwärtigen Weiſe über denſelben Punkt geäußert,“ ließ ſich Quandt vernehmen.
„Nein, ſo feig,“ fuhr die Lehrerin fort, „mit dem Kadetten Hugenpoet von den Dragonern haben Sie ſich letzten Sommer ja auch einmal ſo feig benommen.“
„Was iſt denn das für eine Geſchichte?“ erkundigte ſich Quandt, „davon weiß ich gar nichts.“
„Er war doch mit dem Kadetten oft beiſammen; der hat dem Hauſer immerzu vorgeſchwärmt, er ſoll Soldat werden, in ein paar Jahren brächt’ er es leicht zum Offizier. Wär’ ja nicht ſo übel, die Kadetten haben es gut und kommen ſchnell vorwärts. Unſer Hauſer war auch begeiſtert von der Idee, aber auf einmal war die Freundſchaft aus.“
„Ei, und aus welchem Grund?“
„Das war ſo. An einem Abend im September iſt er mit dem Kadetten am Rezatufer ſpazieren gegangen, und ſie ſind zu einer Stelle gekommen, wo viele Knaben und Burſchen ſich gebadet haben, denn es war furchtbar warm an dem Tag. Der Kadett ſagt, das wollen wir auch machen, zieht ſich aus und will den Hauſer überreden, gleichfalls zu baden. Der war aber zu Tod erſchrocken von dem Vorſchlag und ſagt, ins Waſſer geht er nicht. Das hören die andern, ſteigen heraus, ſtellen ſich um ihn herum, verſpotten ihn und wollen ihn mit Gewalt ins Waſſer bringen. Da reißt er ſich los, eh’ man ſich’s verſieht, iſt er in ſeiner Höllenangſt über die Felder davongelaufen, und die nackigten Kerle höhnen hinter ihm her. Dem Kadetten war’s zu bunt, und er ſieht ihn nicht mehr an ſeitdem. Iſt’s wahr, Hauſer, oder nicht?“
Caſpar nickte. Der Lehrer ſchüttelte ſich vor Lachen.
Ein paar Tage ſpäter kamen Frau von Imhoff und das Fräulein von Stichaner, um Caſpar zu beſuchen. Die Lehrerin, ſtolz auf die vornehmen Gäſte, wich nicht vom Fleck. Der Unterhaltung zuliebe und weil ihr nichts Geſcheiteres einfiel, erzählte ſie im Beiſein Caſpars abermals die Geſchichte mit dem Kadetten und dem verweigerten Bad, doch hatte ſie nicht denſelben Erfolg wie vor ihrem Ehegemahl. Die beiden Damen hörten ſchweigend zu.
„Solche Feigheit iſt eigentlich nicht ſchön,“ bemerkte das Fräulein von Stichaner dann auf der Straße gegen Frau von Imhoff.
„Man kann es nicht gut Feigheit nennen,“ antwortete dieſe; „er liebt das Leben zu ſehr, das iſt es. Er liebt das Leben wie ein Toller, wie ein Tier liebt er es, wie ein Geizhals ſein Gold. Er hat mir ſelbſt geſtanden, daß er jedesmal vor dem Einſchlafen Angſt hat, ſein Schlaf könne ſich ihm unbewußt in Tod verwandeln, und er betet, Gott möge ihn doch ganz gewiß am andern Morgen wieder aufwachen laſſen. Nein, es iſt nicht Feigheit; es iſt vielleicht die Ahnung einer großen Gefahr, auch der Trieb, viel Verſäumtes nachzuholen. Man muß ihn nur manchmal ſehen, wie er ſich freuen kann, und über das Allergeringſte, woran jeder andre ſtumpf vorübergeht. Seine Freude hat etwas Großartiges, etwas Erdentrücktes, ſo wie ſeine Furcht und ſeine Traurigkeit etwas Schauerliches haben.“
Zu Hauſe wurde Frau von Imhoff durch einen Brief ihrer Freundin, der Frau von Kannawurf, überraſcht, doppelt angenehm überraſcht, da Frau von Kannawurf, ſie weilte gegenwärtig in Wien, ſchrieb, ſie wolle im März nach Ansbach kommen. In dem Brief war überdies viel von Caſpar die Rede. „Ich habe in den letzten Tagen die Feuerbachſche Schrift geleſen,“ hieß es unter anderm, „und muß dir geſtehen, daß mich noch niemals ein Buch dermaßen im Innerſten aufgewühlt hat. Ich kann ſeitdem nichts andres denken, und es flieht mich der Schlaf. Weiß Caſpar Hauſer ſelbſt von dieſer Schrift? Und wie ſtellt er ſich dazu? Was äußert er darüber?“
Frau von Imhoff verſäumte es, über den Punkt Beſcheid zu geben; es fiel ja auch ſchwer, Caſpar zu befragen. Hat er das Buch nicht geleſen, ſo iſt es peinlich und ſonderbar, ihn darüber in Unwiſſenheit zu ſehen, dachte ſie; noch peinlicher und ſonderbarer, wenn er es geleſen hat; peinlich und ſonderbar ſein Aufenthalt hier, ſein Kopiſtenamt auf dem Gericht, ſein ganzes Treiben; und wie iſt es möglich, eine Ausſprache herbeizuführen? Jedes offene Wort kann unheilvoll werden.
Trotzdem unternahm es Frau von Imhoff, Caſpar vorſichtig auszuholen, ob er überhaupt von der Sache wiſſe oder davon reden gehört. Und er wußte davon. Nicht im entfernteſten aber hegte er den Wunſch, ſich Klarheit zu verſchaffen. Erſtens aus Furcht; die Furcht ließ ihn vor jedem Schritt zurückbeben, der auf eine Veränderung ſeiner Lage zielte, ſeine Gedanken von der krampfhaft umklammerten Gegenwart ablenken konnte; und dann, weil er wahrſcheinlich annahm, es handle ſich bei der Schrift des Präſidenten auch nur um das bodenloſe Gerede, das er in- und auswendig wußte und von dem ihm, wie er zu ſagen pflegte, bloß Kopf- und Herzweh und ein dummes Nachſchauen blieb. Er hatte dergleichen oft genug erfahren, und aus lauter Überdruß daran war er am Ende ſo unneugierig geworden, daß eine einzige Andeutung, während eines Geſprächs etwa, hinreichte, um ſeinem Geſicht den Ausdruck ſchalſter Langweile zu geben.
Wie er ſchließlich doch dazu gelangte, das für ihn und um ſeinetwillen geſchaffene Werk kennen zu lernen, das hatte eine eigentümliche Bewandtnis.
Es war an einem unfreundlichen Vormittag im März, da verbreitete ſich plötzlich im Appellgerichtsgebäude und bald darauf in der ganzen Stadt die Nachricht, der Präſident ſei im großen Gerichtsſaal während einer Verhandlung, die er leitete, ohnmächtig vom Stuhl geſtürzt. Alle Beamten liefen ſofort aus ihren Zimmern und ſtanden alsbald auf den Treppen und Korridoren. Auch Caſpar hatte ſeinen Arbeitstiſch verlaſſen und geſellte ſich zu den übrigen. Er ſchlich aber abſichtlich wieder davon, um nicht Zeuge ſein zu müſſen, wie man den Präſidenten von oben heruntertrug.
Als er ſich in das Zimmer zurückbegab, in welchem er an allen Vormittagen von acht bis zwölf Uhr ſchrieb, und zwar nur in Geſellſchaft eines alten Kanzliſten, eines gewiſſen Dillmann, war dieſer ſein Amtsgefährte noch nicht wieder da. Caſpar, ſehr traurig und erſchrocken, ſtellte ſich zum Fenſter und malte, ſchmerzlich verſonnen, wie er war, mit dem Finger den Namen Feuerbach in die beſchweißte Scheibe.
Indes trat Dillmann ein und ging händeringend auf ſeinen Platz zu.
Bis auf dieſen Tag hatte der alte Kanzliſt, und Caſpar befand ſich nun über neun Wochen auf dem Amt, noch nicht ein Dutzend überflüſſiger Worte mit dem neuen Kollegen gewechſelt; er hatte ſich im mindeſten nicht um ihn gekümmert und eine grämliche Gleichgültigkeit gegen ihn zur Schau getragen. Im Verlauf der dreißig Jahre, während welcher er Akten, Erläſſe, Verordnungen und Urteile kopierte, hatte er es zu einer beſonderen Geſchicklichkeit im Schlafen gebracht, und es war komiſch zu ſehen, wenn er, den Federkiel aufs Papier geſpießt, leiſe ſchnarchend ſeine Sieſta hielt und ſogleich die Hand ſchreibend weiterbewegte, wenn ſich draußen der Schritt eines Vorgeſetzten vernehmen ließ, da er die Gangart jedes einzelnen Herrn genau ſtudiert und ſozuſagen im Kopf hatte.
Um ſo verwunderter war Caſpar, als Dillmann auf ihn zuſchritt und mit zitternder Stimme ſagte: „Der unvergleichliche Mann! Wenn ihm nur nichts zuſtößt! Wenn ihm nur nichts Menſchliches paſſiert!“
Caſpar drehte ſich um, entgegnete aber nichts.
„Na, Hauſer, und für Sie wäre es gar ein unerſetzlicher Verluſt,“ fuhr der Alte ſeltſam keifend und zänkiſch fort; „wo gibt’s denn in dieſer lummerigen Welt einen Menſchen, der ſich ſo für einen andern Menſchen einſetzt? Sollte mich nicht erſtaunen, wenn das ein ſchlimmes Ende nähme. Ja, es wird ein ſchlimmes Ende nehmen, ein ſchlimmes Ende.“
Caſpar hörte ſchweigend zu; ſeine Augen blinzelten.
„So ein Mann!“ rief Dillmann aus. „Ich hab’, ſeit ich hier ſitze, ſchon ſieben Präſidenten und zweiundzwanzig Regierungsräte zum Grab geleitet, Hauſer, aber ſo einer war nicht dabei. Ein Titan, Hauſer, ein Titan! Die Sterne könnt’ er vom Himmel reißen um der Gerechtigkeit willen. Man muß ihn nur betrachten; haben Sie ihn mal genau betrachtet? Der Buckel über der Naſe! Das deutet, wie man ſagt, auf eine genialiſche Konzeption; dieſe Jupiterſtirn! Und das Buch, Hauſer, das er für Sie geſchrieben hat! Das iſt ein Buch! Ein wahrer Scheiterhaufen iſt’s! Die Zähne muß man zuſammenbeißen und die Fäuſte ballen, wenn man’s lieſt.“
Caſpar machte ein mürriſches Geſicht. „Ich hab’s nicht geleſen,“ ſagte er kurz.
Dem alten Kanzliſten gab es einen Ruck. Er riß den Mund auf und ſchnappte. „Nicht geleſen?“ ſtotterte er. „Sie — nicht geleſen? Ja wie iſt denn das möglich? Da ſoll mich doch gleich der Teufel holen!“ Eilig trippelte er zu ſeinem Tiſch, ſchob eine Lade auf, ſuchte herum und brachte das Büchlein zum Vorſchein. Er reichte es Caſpar hin, ſtieß es ihm förmlich in die Hand und knurrte: „Leſen, leſen! Sapperlot, leſen!“
Caſpar machte es beinahe wie Hickel dem Lehrer Quandt gegenüber. Er drehte das Buch um und um und zeigte eine unſchlüſſige Miene. Dann erſt ſchlug er es auf und las, ſichtlich erbleichend, den Titel. Immerhin genügte auch dies noch nicht, um ihn neugierig oder ungeduldig werden zu laſſen. Er ſteckte das Buch in die Taſche und ſagte trocken: „Zu Hauſe will ich’s leſen.“
Schlag zwölf Uhr verließ er, wie gewöhnlich, das Amt, ſetzte ſich zu Hauſe, als ob nichts geſchehen wäre, zu Tiſch und hörte ſtill den Geſprächen zu, die ſich ausſchließlich um das dem Präſidenten widerfahrene Unglück drehten. „Am letzten Sonntag vor dem Kirchgang,“ plauderte die Lehrerin, „da hab’ ich den Staatsrat geſehen, gerade wie ihm vier Totenweiber begegnet ſind. Der Staatsrat iſt ganz erſchrocken geweſen, iſt ſtehengeblieben und hat ihnen nachgeſchaut. Ich hab’ mir gleich gedacht, das kann nichts Gutes bedeuten.“
„Wenn ihr Frauenzimmer nur nicht alleweil euch anmaßen wolltet, dem Herrgott in die Karten zu gaffen,“ verſetzte Quandt unwirſch. „Da predigt man und predigt das liebe lange Jahr, glaubt wunders wie auf den Höhen der Aufklärung zu wandeln und ſchließlich ſpuckt einem die eigne Sippſchaft am kräftigſten in die Suppe.“
Caſpar belachte dieſe Worte, was ihm von der Lehrerin einen giftigen Blick eintrug.
Er begab ſich dann in ſein Zimmer.
Um zwei Uhr ſollte er zum Unterricht kommen, erſt von vier Uhr an brauchte er im Amt zu ſein. Als zehn Minuten über die Zeit vergangen waren, trat Quandt in den Hausflur und rief. Es erfolgte keine Antwort. Er ging hinauf und überzeugte ſich, daß Caſpar nicht da war. Sein Unwillen verwandelte ſich in Schrecken, als er bei ſeiner ſpionierenden Umſchau die Feuerbachſche Schrift auf Caſpars Tiſch liegen ſah.
„Alſo doch,“ murmelte er bitter.
Er nahm das Buch an ſich, ſuchte unten ſeine Frau und ſagte mit tonloſer Stimme: „Jette, ich habe da eine furchtbare Entdeckung gemacht. Der Hauſer hat die Schrift des Staatsrats auf ſeinem Zimmer gehabt. O die gewiſſenloſen Menſchen! Wer doch das wieder eingefädelt hat!“
Die Lehrerin zeigte wenig Verſtändnis für den Vorfall. „Laß ihn gehen,“ oder „ſag’s ihm doch,“ oder „gib’s ihm nur ordentlich,“ war meiſt alles, was ſie zu entgegnen wußte, wenn Quandt ungehalten über Caſpar war.
„Wann iſt denn der Hauſer fort?“ erkundigte ſich Quandt bei der Magd. Dieſe wußte von nichts. Da trat Caſpar ſelber ins Zimmer und entſchuldigte ſich höflich.
„Wo waren Sie denn?“ forſchte der Lehrer.
„Ich bin zu Feuerbachs gegangen und wollte fragen, wie es dem Staatsrat geht.“
Quandt ſchluckte ſeinen Verdruß hinunter und begnügte ſich, Caſpars Fortgehen als Eigenmächtigkeit zu tadeln. Als er mit dem Jüngling allein war, wandelte er eine Weile ratlos auf und ab. Endlich begann er: „Ich war vorhin auf Ihrer Kammer, Hauſer. Ich habe bei dieſer Gelegenheit einen Fund gemacht, der mich, gelinde ausgedrückt, ſehr mit Bedenken erfüllt. Ich will mich nun über die Schrift des Herrn Staatsrats nicht weiter auslaſſen, obwohl alle vernünftigen Menſchen darüber einer Meinung ſind; ich halte mich nicht für befugt, Ihnen gegenüber einen ſo verdienſtvollen Mann herunterzuſetzen. Auch will ich nicht weiter unterſuchen, wer Ihnen das Buch in die Hand geſpielt hat, da ich mich dabei doch nur der Gefahr ausſetzen würde, von Ihnen angelogen zu werden. Aber mein Bedenken hat es erregt, daß Sie ſogar bei einem ſolchen Anlaß heimlich verfahren zu müſſen glauben. Warum kommen Sie nicht, wie ſich’s gehört, zu mir und ſprechen ſich aus? Denken Sie denn, daß ich Sie des Vergnügens beraubt hätte, eine hübſche Fabel zu leſen, die ein ehemals großer und berühmter, doch nun kranker und geiſtesmüder Mann verfaßt hat? Weiß ich denn nicht auch, wie Ihnen in Ihrem Innern zumute ſein muß, wenn man ein ſolches Märchen in Ihre Vergangenheit hineinſpinnt? Eine Vergangenheit, die Ihnen wahrlich beſſer bekannt iſt als dem armen Staatsrat? Aber warum denn um Gottes willen die ewige Verſteckenſpielerei? Hab’ ich das um Sie verdient? Bin ich nicht wie ein Vater zu Ihnen geweſen? Sie leben in meinem Haus, Sie eſſen an meinem Tiſch, Sie genießen mein Vertrauen, Sie nehmen teil an unſerm Wohl und Wehe, kann Sie denn nichts in der Welt bewegen, Sie heimlicher Menſch, einmal offen und rückhaltlos zu ſein?“
O wunderſam! Dem Lehrer ſtanden die Augen voller Tränen. Er zog die Schrift des Präſidenten aus der Taſche, ging zum Tiſch und legte das Büchlein mit Affekt vor Caſpar hin.
Caſpar blickte den Lehrer an, als ob dieſer in einer weiten Entfernung ſtehe. Es war etwas Stieres in ſeinem Blick und eine vollkommene Abweſenheit der Gedanken. Auf der Stirn lag es wie geiſterhaftes Gewölk, die Lippen waren geöffnet und zuckten.
Wie böſe er ausſieht, dachte Quandt und fing an, ſich zu ängſtigen. „Sprechen Sie doch!“ ſchrie er heiſer.
Caſpar ſchüttelte langſam den Kopf. „Man muß Geduld haben,“ ſagte er wie im Traum. „Es wird ſich was ereignen, Herr Lehrer, paſſen Sie nur auf. Es wird ſich bald was ereignen, glauben Sie mir.“ Unwillkürlich ſtreckte er die Hand nach dem Lehrer aus.
Quandt kehrte ſich angewidert ab. „Verſchonen Sie mich mit Ihren Redensarten,“ ſagte er kalt. „Sie ſind ein abſcheulicher Komödiant.“
Damit war das Geſpräch beendet und Quandt verließ das Zimmer.
Durch den Archivdirektor Wurm erfuhr Quandt, daß Caſpar allerdings zu Mittag im Feuerbachſchen Haus geweſen war, daß er aber nicht bloß nach dem Befinden des Präſidenten gefragt, ſondern auch mit auffallender Dringlichkeit den Staatsrat zu ſprechen verlangt habe. Natürlich habe man ihm durchaus nicht willfahren können. Er war noch eine halbe Stunde lang unbeweglich am Tor ſtehengeblieben, und bevor er ſich entfernt, war er um das ganze Haus herumgegangen und hatte zu den Fenſtern hinaufgeſchaut, wobei ſein Geſicht anders als je, wild und verſtört, ausgeſehen.
Nun kam er aber den nächſten Tag wieder, und ebenſo am dritten und vierten Tag, jedesmal mit demſelben dringenden Begehren, und jedesmal wurde er abgewieſen. Der Präſident bedürfe der Ruhe, wurde ihm geſagt; ſein Zuſtand, der anfangs zu Beſorgniſſen Grund gegeben, beſſere ſich jedoch ſtetig.
Direktor Wurm erzählte endlich dem Präſidenten davon. Feuerbach befahl, daß man Caſpar zu ihm führen ſolle, wenn er das nächſte Mal käme, und beſtand trotz dem Abreden Henriettes auf ſeinem Willen. Es verging aber die ganze Woche, ehe ſich Caſpar wieder ſehen ließ.
Eines Nachmittags, ſchon ziemlich ſpät, erſchien er und wurde von Henriette, nicht eben freundlich empfangen, in das Zimmer ihres Vaters geleitet. Der Präſident ſaß im Lehnſtuhl und hatte einen kleinen Berg von Akten vor ſich aufgeſchichtet. Er ſah ſehr gealtert aus, weiße Bartſtoppeln umſtanden Kinn und Wangen, ſein Auge blickte ruhig, hatte aber einen ängſtlichen Schimmer, wie bei einem, dem der äußerſt gefürchtete Tod näher geweſen iſt als er denken will.
„Nun, was wünſchen Sie von mir, Hauſer?“ wandte er ſich an Caſpar, der neben der Tür ſtehengeblieben war.
Caſpar trat heran, ſtolperte vor dem Schemel, fiel plötzlich auf die Knie und beugte in pagenhafter Demut das Haupt. Auch ſeine Arme ſanken ſchlaff herunter, und er verharrte mit ergebener und düſterer Miene in derſelben Stellung.
Feuerbach verfärbte ſich. Er packte Caſpar bei den Haaren und bog den Kopf zurück, aber die Augen Caſpars blieben geſchloſſen. „Was gibt’s, junger Mann?“ rief der Präſident hart.
Jetzt erhob Caſpar den ſprechenden Blick. „Ich hab’ es geleſen,“ ſagte er.
Der Präſident ballte die Lippen aufeinander, und ſeine Augen verſchwanden unter den Brauen. Ein langes Schweigen trat ein.
„Stehen Sie auf,“ herrſchte endlich der Präſident Caſpar an. Dieſer gehorchte.
Feuerbach packte ihn beim Handgelenk und ſagte halb drohend, halb beſchwörend: „Nicht muckſen, Hauſer, nicht muckſen! Stille halten! Stille ſein! Abwarten! Iſt vorläufig nichts weiter zu tun.“
Caſpars Geſicht, ſtumm erregt wie das eines Fiebernden, wurde ſtarrer.
„Es graut Ihnen, jawohl,“ fuhr der Präſident fort, „auch mir graut, und dabei muß es ſein Bewenden haben. Unſerm Arm ſind nicht alle Fernen und Höhen erreichbar. Wir haben nicht Joſuas Schlachttrompeten und Oberons Horn. Die hochgewaltigen Koloſſe ſind mit Flegeln bewehrt und dreſchen ſo hageldicht, daß zwiſchen Schlag und Schlag ſich unzerknickt kein Lichtſtrahl zwängen kann. Geduld, Hauſer, und nicht muckſen, nicht muckſen. Zu verſprechen iſt nichts; eine Hoffnung bleibt noch, aber dazu brauch’ ich Geſundheit. Genug für jetzt!“
Er machte eine verabſchiedende Geſte.
Caſpar ſah den alten Mann zum erſtenmal klar und ruhig an. Der feſte Blick wunderte den Präſidenten. Ei der Tauſend, dachte er, der Burſche hat Blut in ſich und kein Zuckerwaſſer. Schon im Fortgehen begriffen, drehte ſich Caſpar noch einmal um und ſagte: „Exzellenz, ich hätte eine große Bitte.“
„Eine Bitte? Heraus damit!“
„Es iſt mir ſo läſtig, daß ich bei jedem Ausgehen immer auf den Invaliden warten ſoll. Er kommt oft ſo ſpät, daß es ſich gar nicht mehr ums Weggehen lohnt. Ins Appellgericht kann ich doch alleine gehen und zu meinen Bekannten auch.“
„Hm,“ machte Feuerbach, „will’s überlegen, werd’ es richten.“
Als Caſpar das Zimmer verließ, huſchte eine weibliche Geſtalt längs des Korridors davon, einer ertappten Lauſcherin gleich. Es war Henriette, die, in beſtändiger Angſt um den Vater nichts ſo ſehr fürchtete wie die Gefahr, die aus deſſen leidenſchaftlichem Anteil an dem Schickſal Caſpars drohte. Es mag dafür ein Brief Zeugnis geben, den ſie an ihren in der Pfalz wohnenden Bruder Anſelm ſchrieb und der die unheilſchwere Luft, die in der Umgebung des Präſidenten laſtete, mit jeder Zeile ſpüren ließ.
„Der Zuſtand unſers Vaters,“ ſo begann das Schreiben, „hat ſich, Gott ſei Dank, zum Beſſern gewandt. Er vermag ſchon, auf einen Stock geſtützt, durchs Zimmer zu gehen und hat auch wieder Freude an einem guten Braten, wenngleich ſein Appetit nicht mehr der frühere iſt und er hin und wieder über Magenſchmerzen klagt. Was aber ſeine Stimmung im allgemeinen anbelangt, ſo iſt ſie ſchlechter denn je, und zwar hängt dies vornehmlich mit der unglückſeligen Caſpar-Hauſer-Schrift zuſammen. Du weißt, welch rieſiges Aufſehen die Broſchüre im ganzen Land hervorgerufen hat. Tauſende von Stimmen haben ſich dafür und dawider erhoben, aber es ſcheint, daß das Dawider allmählich die Oberhand behalten hat. Die geleſenſten Zeitungen brachten Artikel, die einander auffallend ähnlich waren und worin das Werk als Produkt eines überſpannten Kopfes höhniſch abgetan wurde. Nachdem zwei Auflagen in raſcher Folge verkauft waren, weigerte der Verleger plötzlich unter allerlei Ausflüchten den Druck, und als man ſich an zwei andre wandte, kamen ebenfalls Abſagen. Daß dahinter die tückiſcheſten Umtriebe ſtecken, ſamt und ſonders aus ein und derſelben Quelle, kann man ſich nicht verhehlen, und ich möchte mir die Lippen wund beißen, wenn ich daran denke, in was für Zuſtänden wir zu leben gezwungen ſind, daß ſelbſt ein Mann wie unſer Vater für eine Sache, die ſo, wie ſie iſt, zum Himmel ſchreit, kein williges Ohr findet, von tätiger Hilfe ganz zu ſchweigen. Wahrhaftig, die Menſchen ſind träge, ſtumpfe, dumme Tiere, ſonſt wäre mehr Empörung in der Welt. Nun magſt du dir aber erſt unſern Vater vorſtellen: ſeine bittere Verſtimmung, ſeinen Schmerz, ſeine Verachtung, und alles zurückgehalten, in ſeiner Bruſt zugeſchloſſen. Was mußte er fühlen, da ſogar aus dem nächſten Freundeskreis kein Zeichen des Beifalls, des Dankes, der Liebe mehr zu ihm flog! Gewiſſe hochgeſtellte Perſonen hielten mit ihrem Ärger nicht zurück, und hier, in dem abſcheulichen Krähwinkel, hatte man ohnehin wenig Aufhebens von der ganzen Geſchichte gemacht, begreiflicherweiſe, denn Chriſtus mag Rom erobern, zu Jeruſalem iſt er nur ein ſchäbiger Rabbi. Ich bin in großer Sorge für unſern Vater. Ich kenne ihn genug, um zu wiſſen, daß ſeine jetzige äußerliche Ruhe nur den inneren Sturm verbirgt. Manchmal ſitzt er ſtundenlang und ſtarrt auf eine einzige Stelle an der Wand, und wenn man ihn dann ſtört, ſchaut er einen mit großen Augen an und lacht lautlos und weh. Neulich ſagte er ganz plötzlich und mit finſterer Miene zu mir: das Rechte ſei, wenn aus ſolcher Urſache heraus wie in früheren Zeiten der ganze Mann ſich ſtelle, mit Haut und Haar müſſe man ſich opfern und dürfe ſich nicht hinter einem Wall bedruckten Papiers verſchanzen. Er wälzt Pläne in ſeinem Hirn, die Nachricht, daß im Badiſchen eine Revolution ausgebrochen iſt, hat ihn mächtig angegriffen, und in der Tat ſcheint dieſe Kataſtrophe mit der Caſpar-Hauſer-Sache in innigem Zuſammenhange zu ſtehen. Er glaubt in einem verabſchiedeten und irgendwo am Main lebenden Miniſter einen der Hauptanſtifter der an dem Findling begangenen Greuel vermuten zu dürfen, und — kaum will mir der Satz in die Feder! — er hat die Abſicht, den Mann aufzuſuchen, ihn zu einem Geſtändnis zu zwingen. Der Polizeileutnant Hickel, der unheimliche Geſelle, dem ich nicht über den Weg traue, kommt nun faſt täglich ins Haus und hat lange Konferenzen mit Vater, und ſoviel ich bis jetzt den Andeutungen des Vaters entnommen habe, ſoll ihn Hickel in einigen Wochen auf die Reiſe begleiten. Könnt’ ich doch das, nur das verhindern! Er wird um dieſer unſeligen Geſchichte willen den letzten Frieden ſeines Alters hingeben und er wird nichts ausrichten, nichts, nichts und wäre er ein Jeſajas an Beredſamkeit, ein Simſon an Kraft und ein Makkabäus an Mut. Ach, wir Feuerbachs ſind ein gezeichnetes Geſchlecht! Das Kainsmal der Ruheloſigkeit bedeckt unſre Stirnen. Sinnlos wirtſchaften wir mit unſern Kräften und unſern Vermögen, und wenn die Überbleibſel noch gerade bis zur Kirchhofsmauer reichen, iſt es ſchon ein Glück. Es iſt uns nicht gegeben, einen harmloſen Spaziergang zu machen, wir müſſen immer gleich ein Ziel haben, wir können nicht atmen, ohne eines wichtigen Zweckes zu gedenken, und in der Erwartung des nächſten Tages entgleitet uns jede holde Gegenwart. So iſt er, ſo biſt du, ſo bin ich, ſo ſind wir alle. Ich habe noch nie an einer Roſe gerochen, ohne darüber zu trauern, daß ſie morgen verwelkt ſein wird, noch nie ein ſchönes Bettelkind erblickt, ohne über die Ungleichheit der Loſe zu ſpintiſieren. Leb wohl, Bruder, der Himmel mache meine ſchlimmen Ahnungen unwirklich.“
So der Brief. Das darin zum Ausdruck gebrachte Mißtrauen gegen den Polizeileutnant wuchs ſchließlich dermaßen, daß Henriette alle möglichen Anſtrengungen machte, um den Vater mit Hickel zu entzweien. Es fruchtete nichts, aber Hickel roch Lunte und zeigte in ſeinem Benehmen gegen die Tochter des Präſidenten alsbald eine undurchdringliche, ſüßliche Liebenswürdigkeit. Als ihn Quandt aufſuchte und ſich lebhaft darüber beklagte, daß der Präſident ſich von Hauſer habe beſchwatzen laſſen und deſſen unbewachtes und unbehindertes Herumlaufen in der Stadt bewilligt habe, ſagte Hickel, das paſſe ihm nicht, er werde dem Staatsrat ſchon den Kopf zurechtſetzen.
Er ließ ſich bei Feuerbach melden und trug ihm ſeine Bedenken gegen die unerwünſchte Maßregel vor. „Eure Exzellenz dürften nicht überlegt haben, welche Verantwortung Sie mir damit aufbürden,“ ſagte er. „Wenn ich keine Kontrolle habe, wo der Menſch ſeine Zeit hinbringt, wie ſoll ich dann für ſeine Sicherheit Garantie bieten?“
„Larifari,“ knurrte Feuerbach; „ich kann einen erwachſenen Menſchen nicht einſperren, damit Sie Ihre Nachmittagsſtunden mit Gemütsruhe im Kaſino verſitzen können.“
Hickel heftete einen böſen Blick auf ſeine Hände, antwortete aber mit einer nicht übel geſpielten Treuherzigkeit: „Ich bin mir ja eines Laſters bewußt, das Eure Exzellenz ſo ſtreng verurteilen. Immerhin, ein Plätzchen muß der Menſch doch haben, wo er ſich wärmen kann, ſonderlich wenn er ein Hageſtolz iſt. Wenn Sie in meiner Haut ſteckten, Exzellenz, und ich in der Ihren, würde ich milder über einen geplagten Beamten denken.“
Feuerbach lachte. „Was iſt Ihnen denn über die Leber gekrochen?“ fragte er gutmütig. „Haben Sie Liebeskummer?“ Er hielt den Polizeileutnant für einen großen Suitier.
„In dieſem Punkt, Exzellenz, bin ich leider zu hartgeſotten,“ entgegnete Hickel, „obgleich ein Anlaß dafür vorhanden wäre; ſeit einigen Tagen hat unſre Stadt die Ehre, eine ganz ausgezeichnete Schönheit zu beherbergen.“
„So?“ fragte der Präſident neugierig. „Erzählen Sie mal.“ Er hatte, nicht zu leugnen, eine kleine naive Schwäche für die Frauen.
„Die Dame iſt bei Frau von Imhoff zu Beſuch —“
„Jawohl, richtig, die Baronin ſprach davon,“ unterbrach Feuerbach.
„Sie wohnte zuerſt im ‚Stern‘,“ fuhr Hickel fort, „ich ging ein paarmal vorüber und ſah ſie gedankenvoll am Fenſter weilen, den Blick zum Himmel aufgeſchlagen wie eine Heilige; ich blieb dann immer ſtehen und ſchaute hinauf, aber kaum daß ſie mich bemerkte, trat ſie erſchrocken zurück.“
„Na, das laſs’ ich mir gefallen, das heißt gut beobachten,“ neckte der Präſident, „es iſt alſo ſchon eine Art Einverſtändnis geſchaffen.“
„Leider nein, Exzellenz; offen geſtanden, für galante Abenteuer iſt die Zeit zu ernſt.“
„Das ſollt’ ich meinen,“ beſtätigte Feuerbach, und das Lächeln erloſch auf ſeinen Zügen. Er erhob ſich und ſagte energiſch: „Aber ſie iſt auch reif, die Zeit. Ich gedenke am 28. April aufzubrechen. Sie nehmen vorher Diſpens vom Amt und ſtellen ſich mir zur Verfügung.“
Hickel verbeugte ſich. Er ſchaute den Präſidenten erwartungsvoll an, und dieſer verſtand den Blick. „Ach ſo,“ ſagte er. „Ich muß Ihnen allerdings zugeben, daß es ſein Untunliches hat, den Hauſer ſich ſelbſt zu überlaſſen. Anderſeits iſt es nicht billig, ihm die Welt vor der Naſe zuzuriegeln. Davon mag er genug haben. Durch Einbuße an freiwilliger Betätigung wird ein zum Leben gewandter Wille ebenſo empfindlich getroffen wie durch Ketten und Handfeſſel.“ Er konnte nicht einig mit ſich werden; wie immer dem Polizeileutnant gegenüber fand er ſich in ſeinen Entſchlüſſen beengt; es war ein Anprall von Kraft, Jugend, Kälte und Gewiſſenloſigkeit, dem er dabei unterlag.
„Aber Eure Exzellenz kennen doch die Gefahren —“ wandte Hickel ein.
„Solange ich in dieſer Stadt die Augen offen habe, wird niemand wagen, ihm ein Haar zu krümmen, deſſen ſeien Sie ganz gewiß.“
Hickel hob die Brauen hoch und betrachtete wieder die geſtreckten Finger ſeiner Hand. „Und wenn er uns eines Tages über alle Berge rennt?“ fragte er finſter. „Dem iſt manches zuzutrauen. Ich ſchlage vor, daß man ihn wenigſtens des Abends und auf Spaziergängen überwachen läßt. Bei Beſorgungen in der Stadt mag er im Notfall allein bleiben. Dem alten Invaliden können wir den Laufpaß geben, und ich will ſtatt deſſen meinen Burſchen abrichten. Er ſoll ſich täglich um fünf Uhr nachmittags im Lehrerhaus melden.“
„Das wäre eine Löſung,“ ſagte Feuerbach. „Iſt der Mann verläßlich?“
„Treu wie Gold.“
„Wie heißt er?“
„Schildknecht; iſt ein Bäckersſohn aus dem Badiſchen.“
„Erledigt; ſei es ſo.“
Als Hickel ſchon unter der Tür war, rief ihn der Präſident noch einmal zurück und ſchärfte ihm wegen der bevorſtehenden gemeinſamen Reiſe unbedingtes Stillſchweigen ein. Hickel verſetzte, einer ſolchen Mahnung bedürfe es nicht.
„Ich könnte die Reiſe keinesfalls allein unternehmen,“ ſagte der Präſident, „ich brauche die Hilfe eines umſichtigen Mannes. Die Gelegenheit muß ſorgfältig ausgekundſchaftet werden. Vorſicht iſt geboten. Vergeſſen Sie niemals, daß ich Ihnen in dieſer Sache einen großen Beweis von Vertrauen gebe.“
Er ſchaute den Polizeileutnant durchbohrend an. Hickel nickte mechaniſch. Über Feuerbachs Stirn ſenkte ſich plötzlich eine Wolke ahnungsvoller Sorge. „Gehen Sie,“ befahl er kurz.