Eines Nachmittags im Hochſommer erſchien Hickel und reichte Caſpar einen an ihn, den Polizeileutnant, gerichteten, aber im Grunde für Caſpar beſtimmten Brief des Grafen Stanhope, in welchem dieſer dem Jüngling klipp und klar befahl, das Tagebuch an Hickel auszuliefern.
Caſpar überlas das Schreiben dreimal, ehe er endlich Worte fand; er weigerte ſich zu gehorchen.
„Ja, mein Beſter,“ ſagte Hickel, „wenn es nicht gutwillig geht, muß ich leider Gewalt anwenden.“
Caſpar beſann ſich, dann ſagte er mit trüber Stimme, der einzige, dem er das Tagebuch geben könne, ſei der Präſident, und dem wolle er es morgen bringen, wenn man darauf beſtehe.
„Gut,“ entgegnete der Polizeileutnant, „ich werde Sie morgen früh abholen, und dann gehen wir mit dem Heft zum Präſidenten.“
Hickel wollte Zeit gewinnen. Er hatte natürlich keine Luſt, das Tagebuch in die Hände Feuerbachs kommen zu laſſen, gerade dies zu verhindern, hatte er Auftrag, und er überlegte, was zu tun ſei. Was Caſpar betrifft, ſo ſtahl er ſich gegen Mittag aus dem Haus und lief in die Wohnung des Präſidenten, um ſich zu beſchweren. Feuerbach war im Senat; Caſpar vertraute ſeine Sorge der Tochter an, und dieſe verſprach dem Vater Bericht zu geben.
Nachmittags läutete es bei Quandts, und der Präſident trat ins Zimmer. Mittlerweile hatte Caſpar, um auch dieſem ſonſt verehrten Mann den gehüteten Schatz nicht ausliefern zu müſſen, ſich eine Ausrede erdacht, und als der Präſident im Beiſein Quandts nach dem Tagebuch fragte und ob es wahr ſei, daß er es nicht zeigen wolle, ſagte er ſchnell, er habe es verbrannt.
Da gab es dem Lehrer einen Ruck, und er konnte ſich eines zornigen Ausrufs nicht enthalten.
„Wann haben Sie es verbrannt?“ fragte Feuerbach ruhig.
„Heute.“
„Und warum?“
„Damit ich’s nicht hergeben muß.“
„Warum wollen Sie es nicht hergeben?“
Caſpar ſchwieg und ſtarrte zu Boden.
„Das iſt eine Lüge, er hat es nicht verbrannt, Exzellenz,“ zeterte Quandt, bebend vor Ärger. „Und wenn er überhaupt ein Tagebuch geführt hat, ſo muß es ſchon länger beiſeitegebracht ſein. Von Weihnachten an hab’ ich es überall geſucht, in jedem Winkel ſeines Zimmers hab’ ich Umſchau gehalten, und nie, niemals war eine Spur davon zu finden.“
Der Präſident ſchaute Quandt aus großen Augen ſtumm und verwundert an; es war ein Blick, der etwas Mattes und Gramvolles hatte. „Wo war denn das Tagebuch aufbewahrt, Caſpar?“ fuhr er dann zu fragen fort.
Caſpar antwortete zaudernd, er habe es bald da, bald dort verſteckt; bald unter den Büchern, bald im Schrank, zuletzt an einem Nagel hinter der Schreibkommode. Quandt ſchüttelte dabei unaufhörlich den Kopf und lächelte böſe. „Haben Sie denn den Nagel ſelbſt eingeſchlagen?“ inquirierte er.
„Ja.“
„Wer hat Ihnen die Erlaubnis dazu erteilt?“
„Gehen Sie jetzt, Caſpar,“ ſchnitt der Präſident das Zwiegeſpräch gebieteriſch ab. „Ich begreife nicht,“ wandte er ſich, als Caſpar draußen war, an den Lehrer, „weshalb Lord Stanhope plötzlich ſo großes Gewicht auf das Tagebuch legt; wahrſcheinlich überſchätzt er die ohne Zweifel harmloſen Schreibereien. Mit Güte und Überredung wäre man übrigens beſſer gefahren als durch einen kategoriſchen Befehl.“
„Güte, Überredung?“ verſetzte Quandt händeringend. „Da haben Euer Exzellenz einen ſchlechten Begriff von dieſem Menſchen. Durch Güte entfeſſelt man nur ſeine Selbſtſucht, und jeder Verſuch, ihn zu überreden, vergrößert ſeine Bockbeinigkeit. Ja, er dünkt ſich ſchon etwas, ſtellt ſich auf die Hinterfüße, hält Widerpart und iſt fähig, mir eine Antwort zu geben, daß ich daſtehe wie vor den Mund geſchlagen. Euer Exzellenz mögen verzeihen, aber ich bin der Meinung, daß ſogar Sie durch Güte und Überredung nichts mehr bei ihm ausrichten können.“
„Na, na,“ machte Feuerbach, ſchritt zum Fenſter und ſah düſter in die regentriefenden Zweige des Birnbaums, der an der Hofmauer wuchs.
„Ich getraue mich auch, Euer Exzellenz auf das allerbeſtimmteſte zu verſichern, daß er das Tagebuch nicht verbrannt hat,“ ſchloß Quandt mit beſchwörender Stimme.
Der Präſident antwortete nichts. Wie widerwärtig war es ihm, all den kleinen Hader austragen zu ſollen, den ſie ihm da herbeiſchleppten. Ihn dürſtete nach Frieden. Das eine Werk noch, vollendet mußte es werden, dann — Friede.
Kaum war Feuerbach gegangen, ſo eilte Quandt in Caſpars Zimmer, rückte die Schreibkommode von der Wand und ſah nach, ob dort ein Nagel ſtecke. In der Tat war ein Nagel ins Holz geſchlagen. Quandt rief die Magd herauf. „Hat der Hauſer in letzter Zeit den Hammer gehabt und haben Sie ihn klopfen gehört?“ fragte er. Die Magd bejahte; er habe vorige Woche Hammer und Nägel aus der Küche geholt, und ſie habe ihn klopfen gehört.
Plötzlich hatte Quandt eine Erleuchtung. Wir ſind ja im Sommer, dachte er, und wenn er das Heft wirklich verbrannt hat, muß die Aſche noch im Ofen zu finden ſein. Er ging zum Ofen, kniete nieder, öffnete das Türchen und ſcheuerte mit gierigen Händen alles, was von verbrannten und verkohlten Reſten in dem Loch war, heraus auf den Boden.
Es kam viel Papieraſche zum Vorſchein. Quandt gab acht, daß die größeren Stücke nicht zerbrachen, da man auf Aſche eine Schrift noch leſen kann. Sorgſam ſchob er die Trümmer auseinander. Er fürchtete das eine oder das andre mit dem Finger anzugreifen und blies es mit dem Atem ſeines Mundes zur Seite; wenn es beſchrieben war, verſuchte er die Worte zu leſen, fand aber keinen Zuſammenhang.
Da näherten ſich Schritte und Caſpar trat ein, nicht wenig erſtaunt über die Lage, in der er den Lehrer ſah, deſſen Hände und Geſicht von Ruß geſchwärzt waren, indes ihm der Schweiß von den Haaren troff.
Quandt ließ ſich nicht ſtören. „So viel Aſche kann doch unmöglich von dem einen Tagebuch herrühren,“ ſagte er.
„Ich hab’ auch alte Briefe und Schriften damit verbrannt,“ erwiderte Caſpar.
Die kühlſachliche Antwort trieb Quandt die Zornröte ins Geſicht; er ſtand haſtig auf, murmelte etwas durch die Zähne und verließ das Zimmer, die Tür hinter ſich zudonnernd. „Sie kommen mir heut abend nicht mit auf die ‚Reſſource‘,“ ſchrie er auf der Stiege.
In der „Reſſource“ war ein Gartenfeſt, das der Schützenverein veranſtaltete. Quandt hatte eigentlich keine Luſt, hinzugehen, dergleichen koſtete immer Geld. Aber die Frau wollte auch einmal ein Amüſement haben, war des verdrießlichen Zuhauſehockens ſatt. Sie hatte ſich ſchon vor acht Tagen ein Kattunkleid für dieſen Zweck gemacht, und ſo mußte denn der Lehrer ſich fügen und, wie er ſich ausdrückte, der Unvernunft ſeinen Zoll entrichten, zumal das Wetter gegen Abend ſchön geworden war.
Caſpar blieb, bis die Dunkelheit anbrach, am offenen Fenſter ſitzen und genoß der Stille. Dann machte er Licht, und ein Lächeln umſpielte ſeine Lippen, als er zur Wand ging, den Stahlſtich über dem Kanapee herunternahm, die hinter dem Bild befeſtigte Holztafel loslöſte und nun das ſo verborgene Tagebuch hervorzog. Er ſetzte ſich damit zum Tiſch, blätterte nachdenklich in dem Heft herum und überlas einige Stellen.
Hier war ein Lebensalter, eine Menſchwerdung zuſammengepreßt in den Verlauf von nicht mehr als vier Jahren, mit unheimlicher Geſchwindigkeit Epoche an Epoche drängend. Was es an mangelhaft Ausgeſprochenem, Geſchildertem enthielt, die unſchuldigen Ergüſſe erſter Freuden und Schmerzen, das erſte bange Welterkennen, knabenhafte Philoſophie und trotziges Hadern mit ahnungsvoll als feindlich empfundenen Mächten irdiſcher und überirdiſcher Natur, alles das hätte die auf dieſe Beute verſeſſenen Jäger bitter enttäuſcht. Aber es war nicht für jene, es war für die Mutter, ihr war es zugelobt ein für allemal, und mit der ihm eignen Wunderlichkeit war Caſpar der Gedanke ganz unfaßlich, daß ein andres Auge je auf dieſen Blättern ruhen ſollte. Es mag auch ſein, daß ihm das Heft nach und nach in der Einbildung zu ſeinem einzigen wirklichen Beſitz geworden war; das einzige Ding, das ihm völlig zugehörte und ſein ganzes Vertrauen beſaß.
Auf einer der erſten Seiten ſtand: „Neulich hab’ ich aus Gartenkreſſe meinen Namen geſäet, iſt recht ſchön gewachſen und hat mir große Freude gemacht. Iſt einer in den Garten hereingekommen, hat Birnen geſtohlen, der hat mir meinen Namen zertreten, da hab’ ich geweint. Herr Daumer hat geſagt, ich ſoll ihn wieder machen, hab’ ich ihn wieder gemacht, am andern Morgen haben ihn Katzen zertreten.“
Es folgten in demſelben unbeholfenen Stil einige Verſuche, ſeine Kerkerhaft zu beſchreiben, etwa ſo: „Die Geſchichte von Caſpar Hauſer; ich will es ſelbſt erzählen, wie hart es mir ergangen. Zwar da, wo ich eingeſperrt war in dem Gefängnis, iſt es mir recht gut vorgekommen, weil ich von der Welt nichts gewußt und keinen Menſchen niemals geſehen habe.“
In dieſem Ton ging es weiter; ſpäterhin kamen einige zum Schönredneriſchen ſtrebende Stellen, und eine begann mit dem Satz: „Welcher Erwachſene gedächte nicht mit trauriger Rührung an meine unverdiente Einſperrung, in der ich meine blühendſte Lebenszeit zugebracht habe, und wo ſo manche Jugend in goldenen Vergnügungen lebte, da war meine Natur noch gar nicht erwecket.“
Träume, Hoffnungen, Sehnſuchtsbilder, Berichte über kleine Ausflüge, über Unterhaltungen mit Fremden; hier und da ein beherzigenswertes Wort, in einem Buch gefunden oder aus einem Wuſt ſonſt inhaltloſer Geſpräche geklaubt; allmählich Sätze, an denen etwas wie perſönlicher Schliff hervortrat und eine merkwürdige verhüllte Düſterkeit des Stils. Unmittelbar war nie ein Kummer, ein Urteil, eine Meinung ausgedrückt; er hatte es eben, wie Quandt dieſe Eigenſchaft formulierte, hinter den Ohren. Von einem bedeutungsvollen Tag ſtand oft nur das Datum vermerkt und daneben ein Sternchen; manches Ereigniſſes war nur in ſcheuen Umſchreibungen gedacht; auch Lakonismen waren dieſem Geiſt nicht fremd; ſo hieß es von dem Mordanfall in Daumers Hauſe kurz: „Der Erntemonat wäre bald mein Sterbemonat worden.“
Kleine Vorfälle des täglichen Lebens: „Geſtern hat mich eine Biene geſtochen, das Fräulein von Stichaner hat mir die Wunde ausgeſaugt, ſie ſagte, wen die Biene ſticht, der hat Glück.“ Oder: „Geſtern war eine Feuersbrunſt, über Dautenwinden hat der Wald gebrannt, ich bin die halbe Nacht am Fenſter geſeſſen und hab’ gedacht, die Welt geht unter.“
Sinnliche Empfindlichkeiten kamen zu lapidarem Ausdruck: „Herr Quandt riecht nach alter Luft, die Lehrerin nach Wolle, der Hofrat nach Papier, der Präſident nach Tabak, der Polizeileutnant nach Öl, der Herr Pfarrer nach Kleiderſchrank. Faſt alle Menſchen riechen ſchlecht, nur der Graf hat wie ein Leib gerochen, an dem nichts iſt als guter Odem.“
Dem Grafen war manche Seite gewidmet; hier wurde der Ton poetiſch und nicht ſelten drängend in der Art eines Gebets. Stanhope und die Sonne wurden zu Bildern von verwandter Kraft. Seit dem Abſchied aus Nürnberg hatte das aufgehört, der Name des Lords wurde nicht mehr erwähnt, nur das Gelöbnis vom achten Dezember war aufgeſchrieben.
Aus den letzten Tagen ſtammte eine Zeichnung, welche über die Hälfte einer Seite füllte: die Umriſſe eines männlichen Kopfes, mit auffallend geſchickter Hand feſtgehalten. Es war ein fremdartiges Geſicht, keinem irdiſchen ähnlich, eher dem einer Statue, doch wie aus einer ſchauerlichen Viſion geriſſen, von ſchmerzlicher Unbewegtheit. Darunter war geſchrieben:
O großer Menſch, was tueſt du mir an?
Du folgeſt mir, und meine Spur iſt blind,
Und ſo du mich erſchauſt, bin ich verwandelt.
Dem Kerker iſt entflohn das arme Kind,
Der Mantel fehlt und Krone auch und Schwert,
Und ohne Reiter läuft das weiße Pferd.
Die Zeichnung war in der Nacht gefertigt worden; aus einem Traum auffahrend, hatte Caſpar das Geſicht vor ſich geſehen; er war aus dem Bett geſprungen und hatte es beim Mondlicht gezeichnet. Die Verſe hatte er am Morgen beim Erwachen fertig auf den Lippen gefunden. Ihrem Sinn hatte er nicht weiter nachgegrübelt, erſt jetzt wurde er ſtutzig und flüſterte die Worte mehrere Male vor ſich hin.
Mittlerweile war es ſpät geworden, Caſpar wollte gerade vom Tiſch aufſtehen, da hörte er das Haustor knarren, raſche Schritte näherten ſich, es klopfte an die Tür, und Quandts Stimme befahl zu öffnen. Erſchrocken blies Caſpar das Licht aus. Im Finſtern taſtete er ſich zum Sofa, brachte das Tagebuch wieder in ſein Verſteck, und während Quandt immer ſtärker pochte, gelang es ihm, das Bild an den Nagel zu hängen.
Quandt hatte nämlich, vom Spitalweg kommend, ſchon aus der Ferne in Caſpars Zimmer Licht bemerkt. Er packte ſeine Frau am Arm und rief: „Sieh mal, Frau, ſieh mal!“
„Was gibt’s denn ſchon wieder?“ murrte die Frau, die voll Ärger darüber war, daß Quandt ihr mit ſeiner übeln Laune den ganzen Abend verdorben hatte.
„Jetzt haſt du doch den Beweis, daß er bei der Kerze ſitzt,“ ſagte Quandt.
Das Haus hatte durch ein Gartenpförtchen auch einen Zugang von der Rückſeite. Quandt wählte den, und als er mit der Frau im Hof ſtand, fiel ihm ein, ob er nicht zuerſt den Jüngling auf irgendwelche Art belauſchen und ſehen könne, was er treibe. Der Birnbaum an der Mauer war wie geſchaffen dazu. Quandt war geſchickt und kräftig, ohne Mühe erklomm er die Mauer und dann einen breiten Aſt, von wo er Caſpars Zimmer überſchauen konnte. Was er ſah, genügte. Nach kurzer Weile kam er aufgeregt herab, raunte ſeiner Frau zu: „Ich hab’ ihn erwiſcht, Jette,“ und ſtürzte ins Haus und die Stiege empor.
Da ſich auf ſein Klopfen drinnen nichts rührte, geriet er in Wut. Er fing an, mit den Fäuſten, ſodann mit den Abſätzen an die Tür zu trommeln, und als auch dies nichts half, beſchloß der beklagenswerte Mann in ſeiner Raſerei, ein Beil zu holen und die Türe einzuſchlagen. Vorher lief er noch geſchwind in den Hof zurück und ſah, daß es in Caſpars Zimmer indeſſen finſter geworden war, ein Umſtand, der ſeinen Zorn nur noch ſteigerte.
Von dem Lärm waren die Kinder und die Magd aufgewacht; die Lehrerin trat Quandt jammernd entgegen, als er mit der Holzhacke aus der Küche rannte. Er ſtieß ſie weg, ſchäumte: „Ich will’s ihm ſchon zeigen,“ und ſtürzte wieder hinauf.
Nach dem erſten Schlag mit dem Beil öffnete ſich die Tür, und Caſpar trat im Hemd auf die Schwelle. Der Anblick der ruhigen Geſtalt hatte etwas ſo Unerwartetes und Ernüchterndes für den Lehrer, daß er förmlich zuſammenklappte, nichts zu ſagen und zu tun wußte und nur ſonderbar mit den Zähnen knirſchte. „Machen Sie Licht,“ murmelte er nach einem langen Stillſchweigen. Doch ſchon kam die Frau mit einem Licht, leiſe heulend, die Stiege herauf. Caſpar erblickte das Beil im geſenkten Arm des Lehrers und fing an, heftig zu zittern. Bei dieſem Zeichen von Furcht verlor Quandt vollends die Haltung. Er ſchämte ſich, und tief aufſeufzend ſagte er: „Hauſer, Sie bereiten mir großen Kummer.“ Damit drehte er ſich um und ging langſam hinunter.
Caſpar ſchlief erſt ein, als der Tag dämmerte. Beim Frühſtück, vor der gewohnten Unterrichtsſtunde, erfuhr er, daß Quandt ſchon ausgegangen ſei. Es wurde Mittag, und während des Eſſens war der Lehrer vollkommen ſtumm; mit dem letzten Biſſen erhob er ſich und ſagte. „Um fünf Uhr ſeien Sie auf Ihrem Zimmer, Hauſer. Der Polizeileutnant will mit Ihnen ſprechen.“
Caſpar legte ſich oben aufs Kanapee. Es war ein heißer Auguſttag, Gewitterwolken lagerten am Himmel, am offenen Fenſter flogen Schwalben ängſtlich zwitſchernd vorüber, die ſchwül erhitzte Luft ſurrte und ſang im engen Gemach. Noch müde von der Nacht, entſchlummerte Caſpar alsbald, und erſt ein heftiges Rütteln an ſeiner Schulter weckte ihn. Hickel und der Lehrer ſtanden neben ihm, er ſetzte ſich auf, rieb die Augen und ſah die beiden Männer ſchweigend an. Hickel knöpfte mit einer amtlichen Gebärde ſeinen Uniformrock zu und ſagte: „Ich fordere Sie hiermit auf, Hauſer, mir Ihr Tagebuch abzuliefern.“
Caſpar erhob ſich tiefatmend und antwortete mit einer mehr von innerem Zwang als Mut eingegebenen Feſtigkeit: „Herr Polizeileutnant, ich werde Ihnen mein Tagebuch nicht geben.“
Quandt ſchlug die Hände zuſammen und rief klagend: „Hauſer! Hauſer! Sie treiben Ihre unkindliche Widerſetzlichkeit zu weit.“
Caſpar ſchaute ſich verzweifelt um und erwiderte zuckenden Mundes: „Ja, bin ich denn ein Eigentum von einem andern? Bin ich denn wie ein Tier? Was wollen Sie denn noch? Ich hab’ ja ſchon geſagt, daß ich das Buch verbrannt habe!“
„Wollen Sie etwa leugnen, Hauſer, daß Sie heute nacht bei der Kerze geſchrieben haben?“ fragte Quandt dringlich. „Briefe haben Sie doch nicht zu ſchreiben gehabt und mit den Exerzitien waren Sie fertig.“
Caſpar ſchwieg. Er wußte nicht ein noch aus.
„Ein guter Menſch hat überhaupt die Einſicht in ſein Tagebuch nicht zu ſcheuen,“ fuhr Quandt fort, „im Gegenteil, ſie muß ihm erwünſcht ſein, da doch ſeine Unbeſcholtenheit damit bezeugt wird. Sie am allerwenigſten, lieber Hauſer, haben Grund, ein geheimes Tagebuch zu führen.“
„Wie lange werden Sie uns noch warten laſſen?“ fragte Hickel mit höflicher Kälte.
„Da will ich doch lieber ſterben, als daß ich das alles aushalten ſoll!“ rief Caſpar und hob den Arm, um ſein Geſicht darin zu verbergen.
„Nun, nun,“ ſagte Quandt beunruhigt, „wir meinen es ja gut mit Ihnen, auch der Herr Polizeileutnant will nur Ihr Beſtes.“
„Freilich,“ beſtätigte Hickel trocken; „übrigens kann ich Ihnen ſagen, daß das Sterben zurzeit nicht der beſte Einfall von Ihnen wäre. Da könnte man unter Umſtänden auf Ihrem Grabſtein leſen: Hier liegt der Betrüger Caſpar Hauſer.“
„Ganz abgeſehen davon, daß ſich in einem ſolchen Satz eine höchſt verwerfliche Geſinnung ausdrückt,“ fügte Quandt tadelnd hinzu, „eine feige und unſittliche Geſinnung.“
„Es liegt mir am Leben nichts, wenn man mich immer mit ſolchen Geſchichten plagt und mir nicht glaubt,“ entgegnete Caſpar bedrückt; „ich hab’ ja früher auch nicht gelebt und hab’ lange nicht gewußt, daß ich lebe.“
Hickel ging indes an der Wand entlang und klopfte mit den Knöcheln wie ſpielend an einige Stellen der Mauer; plötzlich ſchien ſich ſeine Aufmerkſamkeit gegen das Bild über dem Sofa zu richten. Er nahm es lächelnd herab, betrachtete es nach allen Seiten und klappte ſchließlich die Scharniere auf, um die Holztafel zu entfernen.
Caſpar wurde ſchlohweiß und bebte wie Eſpenlaub.
Aber als nun Hickel das blaue Heft ſchmunzelnd in ſeiner Hand hielt, ging eine ſeltſame Verwandlung mit Caſpar vor. Es ſah aus, als wachſe er plötzlich und werde um Kopfeslänge größer. Mit zwei Schritten ſtand er dicht vor dem Polizeileutnant. Sein Geſicht war förmlich aufgeriſſen. In ſeiner Miene war etwas Erhabenes. Sein Blick glühte von einer leidenſchaftlichen und gebieteriſchen Kraft. Hickel, in dem dumpfen Gefühl, als werde er zermalmt oder zertreten, wich langſam und fasziniert gegen die Tür zurück. Der kalte Schweiß brach aus ſeiner Haut, als ihm Caſpar folgte, Schritt für Schritt, den Arm ausſtreckte, das Heft mit einem Ruck aus ſeinen umklammernden Fingern zog, es mitten durchriß, die beiden Hälften noch einmal und noch einmal zerriß, bis alles in Fetzen auf dem Boden lag.
Wer weiß, was noch geſchehen wäre, wenn die Dazwiſchenkunft einer vierten Perſon in dieſem Augenblick nicht die Situation verändert hätte. Es war der Pfarrer Fuhrmann, der im Vorübergehen Caſpar hatte beſuchen wollen, um ihn zu fragen, weshalb er heute vom Unterricht fortgeblieben war. Als er eintrat, mußte ſich ihm eine Ahnung des Geſchehenen aufdrängen; er blickte ſtumm von einem zum andern. Quandt, der dem ganzen Vorgang mit entſetzten Augen zugeſchaut, gewann nur mühſam ſeine Faſſung und ſagte in verlegenem Ton: „Was haben Sie denn da für ein Geſchnitzel gemacht, Hauſer?“
Hickel wanderte mit ein paar großen Schritten durchs Zimmer, dann grüßte er den Pfarrer militäriſch und ging mit kaltem und finſterem Geſicht. Unter der Tür drehte er ſich um, deutete auf den Papierhaufen und machte eine befehlende Kopfbewegung gegen Quandt. Dieſer begriff. Er bückte ſich, um die Schnitzel zuſammenzuſcharren. Aber Caſpar durchſchaute ſeine Abſicht; er ſtellte ſich mit den Füßen darauf und ſagte: „Das kommt ins Feuer, Herr Lehrer.“
Er kniete nieder, raffte das Papier mit zwei Händen auf, trug es zum Ofen, öffnete mit dem Fuß das Türchen und warf alles hinein. Darauf ſchlug er Feuer, und eine Minute ſpäter brannte es lichterloh.
Der Pfarrer Fuhrmann war bloß ſchweigender Zeuge des Auftritts, Hickel war gegangen, und der Lehrer, beſtändig hüſtelnd, ſchritt mit der Gleichmäßigkeit eines Wachpoſtens vor dem Ofen auf und ab, indes Caſpar kauernd zuſchaute, bis das letzte Fünkchen verglommen war; dann nahm er den Schürhaken und zerſchlug die Aſchenreſte zu Staub.
Der Pfarrer hatte nachher eine Unterredung mit Caſpar, welche trotz dem herabgeſtimmten Gemütszuſtande des jungen Menſchen und einer ſchier krankhaften Unluſt zu ſprechen doch zu mancherlei Eröffnungen führte, die den geiſtlichen Herrn bewogen, ſich wegen des Vorgefallenen an den Präſidenten Feuerbach zu wenden.
„Es iſt eigen mit dem Lehrer Quandt,“ ſagte er im Verlauf ſeiner Mitteilungen zu Feuerbach; „ein ſonſt ſo vortrefflicher Mann, und in allem, was den Hauſer betrifft, wie verhext. Die Ruhe des Hauſer macht ihn kribblig, ſeine Sanftheit rauh, ſeine Schweigſamkeit redſelig, ſeine Melancholie ſpöttiſch, ſeine Heiterkeit traurig, und ſeine Ungeſchicklichkeit gibt ihm die durchtriebenſten Liſten ein. Aus allem, was der Hauſer tut und ſagt, ſchließt er im ſtillen das Gegenteil, ſogar das Einmaleins aus dieſem Mund ſcheint ihm eine Lüge. Ich glaube, er möchte ihm am liebſten die Bruſt aufſchneiden, um zu ſehen, was drinnen iſt. Das iſt, weiß Gott, kein chriſtlicher Gedanke von mir, aber ich kann mir nicht helfen, wenn ich ſehe, wie da alles verdächtig gemacht wird. Verdächtig iſt, wenn dem Hauſer etwas neu erſcheint, und verdächtig, wenn er es ſchon kennt; verdächtig, wenn er lange ſchläft, und verdächtig, wenn er früh aufſteht; daß er das Theater liebt und die Muſik nicht liebt, verdächtig; daß er es hinunterſchluckt, wenn man ihn zankt, hingegen die Streitigkeiten zwiſchen andern, zum Beiſpiel zwiſchen Quandt und ſeiner Frau, immer ſchlichten will: verdächtig. Alles iſt verdächtig. Wie ſoll das enden!“
Aber, wie man ſo bezeichnend ſagt, ein Wort gab das andre, und zum Schluß kam nichts heraus.
Der Präſident, merkwürdig zerſtreut, verſprach, den Polizeileutnant zur Rede zu ſtellen. Er ließ Hickel rufen und ſchrie ihn gleich beim Eintritt an, daß dem Verdutzten Hören und Sehen verging. Leider diente die Schimpferei der Sache ſchlecht; als der Zorn verdampft war, trug Hickels überlegene Ruhe und berechnete Schmiegſamkeit den Sieg davon. Es kam nichts heraus. Es blieb alles beim alten. Nur daß der Polizeileutnant, in ſeiner Eitelkeit tief gekränkt, doppelt ſtill und kalt ſeiner Wege ging.
„Die Bemühung, dem Hauſer eine annehmliche Exiſtenz zu verſchaffen, muß man wohl als geſcheitert betrachten,“ ſagte Feuerbach eines Tages zu ſeiner Tochter. „Der Menſch leidet in ſeiner jetzigen Umgebung, und die Art, wie man ihn behandelt, ſcheint gegen alle Vernunft und Billigkeit.“
„Mag ſein; aber kann man es ändern?“ verſetzte Henriette achſelzuckend.
„Mich beruhigt nur die Zuverſicht, daß ja eine Entſcheidung ohnehin fallen muß, wenn die Schrift einmal erſchienen iſt,“ ſagte der Präſident vor ſich hin.
„Was ſchadet es auch dem jungen Menſchen, wenn die Wogen des Lebens über ſeinem Kopf zuſammenſchlagen?“ fuhr Henriette fort. „Vielleicht lernt er ſchwimmen dabei. Es iſt nicht an Ihnen, Vater, ſeinen Präzeptor zu machen.“
„Vielleicht lernt er ſchwimmen dabei. Vortrefflich ausgedrückt, meine Tochter. Dereinſt mag er dann der überſtandenen Prüfungen dankbar gedenken. Ein Gekrönter, der eine ſolche Schickſalsſchule erfahren hat, von der tiefſten Tiefe zur höchſten Höhe geſtiegen iſt — ei, das gäbe Hoffnungen! Fehlte es den Großen der Erde nicht an Lebenskenntnis, ſo wäre ihnen das Volk mehr und etwas andres als eine Melkkuh. Laſſen wir alſo den Stahl glühen, damit er hart werde. Sind heute Korrekturen gekommen?“
Henriette verneinte und ging ſeufzend hinaus.
Es gibt eine innere Stimme, die beredſamer iſt als die Weisheit der Sentenzen. Feuerbach erfuhr die Gewalt dieſer Stimme ſtets aufs neue, wenn er ſich Caſpar gegenüberbefand. Es war ihm nicht gegeben, ſich um den Appell einer höheren Inſtanz, als es Vernunft und Erfahrung ſind, herumzulügen. Den Freimut der Verantwortlichkeit, den er vor dem eignen Herzen empfand, hatte das Alter nicht abgeſtumpft, ſondern geläutert; er mußte ſich bekennen, daß das, was ihn quälte, ganz einfach das ſchlechte Gewiſſen war.
Welch ein Dilemma für einen ſolchen Mann! Auf der einen Seite die bis zur Selbſtverleugnung getriebene Erfüllung der Idee, auf der andern das vorwurfsvolle Auge deſſen, dem die Idee galt und dem er ſich nicht ergeben konnte und durfte — aus Furcht vor dem allzu beteiligten Gefühl, aus Furcht vor der Trübung des Urteils, aus Furcht, daß der Engel der Gerechtigkeit ſeiner vorgeſetzten Bahn entfliehen würde, wenn Neigung, Rückſicht und herzliche Annäherung ins Spiel kämen.
So wie an die nächſten Freunde ſchickte der Präſident in dieſen Tagen die Aushängebogen ſeiner Caſpar-Hauſer-Schrift auch an Stanhope, der ſich zurzeit in Rom aufhielt. Der Graf dankte oder antwortete mit keinem Wort.
Eines ſchlimmeren Zeichens bedurfte Feuerbach nicht. Wie hatte doch das große Wort gelautet, das er einſt in lebendiger Stunde zu jenem Mann geſprochen? „Wenn dieſes Antlitz trügt, Mylord, mit dem Sie hier vor mir ſtehen, dann ...“
Ja, dann! Was dann? Kindliche Anmaßung! Würde die Welt untergehen, weil ein Feuerbach ſich getäuſcht? Wie vielfältig iſt der Menſch, wie viele Geſichter ſind ihm eigen, wie viele Worte findet er um eines erbärmlichen Vorteils willen! Für den Biſſen Brot iſt jeder Bettler ſchon ein Fürſt der Worte, und was Staatskaroſſen, was Pairſchaft, was anmutige Manieren und überredendes Gefühl, wenn dem allen nur das Wort die Schminke iſt, das eine ausſätzige Haut verſchönt? Dazu alſo Herzen zergliedert, im Dunkel der Seelen gewühlt, mit Richterkunſt und -pathos Tat und Untat auf ihr menſchlich Maß geprüft, damit ein aufgeſchmückter Schelm aus England kam, um damit ein ſardoniſches Spiel zu treiben und alles lächelnd ins Abſurde zu führen.
Den alten Mann ekelte. Aber die Vorſtellung von der Macht und den Hilfsmitteln der Feinde, mit denen er ſich in ungleichen Kampf eingelaſſen, wurde allmählich ungeheuer, und wenn auch ſein Vorhaben nicht die geringſte Beeinträchtigung erfuhr und er nicht für die Dauer eines Augenblicks ins Schwanken geriet, nahm doch eine verdüſternde Unruhe von ihm Beſitz. Seit jenem nächtlichen Einbruch, deſſen Anſtifter aller aufgewandten Mühe zum Trotz unentdeckt geblieben waren, entbehrte er des dauernden Schlafs. Er erhob ſich bisweilen aus dem Bett, wanderte mit dem Licht durch die Zimmer, über Treppen und Flur, rüttelte an den Fenſtern, probierte die Feſtigkeit der Schlöſſer und erſchrak nicht ſelten vor ſeinem eignen Schatten. Es war für ſeine Kinder ein erſchütterndes Schauſpiel, dieſen Mann der Leidenſchaft und des eingefleiſchten Mutes in dergleichen Geſpenſterweſen verſtrickt zu ſehen. Einſtmals am frühen Morgen fand man an der äußeren Seite des Haustors folgende mit Kreide angeſchriebenen Verſe:
Anſelm, Ritter von Feuerbach!
Löſch ’s Feuer unter deinem Dach!
Laß den falſchen Freund nimmer ein!
Zieh den Degen und hau drein,
Sonſt wird’s um dich geſchehen ſein.
An einem Abend zu Ende Oktober kam Quandt und begehrte den Präſidenten zu ſprechen. Feuerbach ließ ihn eintreten und beobachtete ſofort in ſeinem Benehmen etwas Verlegenes und Beſtürztes, doch zeigte der Lehrer nicht die gewöhnliche Umſtändlichkeit, ſondern rückte ſchnell mit ſeinem Anliegen heraus. Er berichtete, Caſpar habe vorgeſtern einen Brief des Grafen erhalten und ſeitdem habe er ſich ganz verändert; ob Seine Exzellenz nicht eine Stunde erübrigen könne, um mit dem Menſchen zu reden, er ſelbſt bringe kein Wort aus ihm heraus.
Der Präſident fragte, worin die Veränderung beſtehe.
„Es iſt, als wäre er taubſtumm geworden,“ verſetzte Quandt. „Bei Tiſch läßt er die Speiſen unberührt, beim Unterricht iſt er äußerſt unaufmerkſam, ja geiſteſabweſend, die Aufgaben macht er nicht mehr, auf Fragen antwortet er nicht, ſchleicht herum wie ein Todkranker und ſtarrt in die Luft. Geſtern nachts hab’ ich und meine Frau ihn belauſcht und wir haben zugehört, wie er erſt eine ganze Weile vor ſich hingewimmert, dann auf einmal hat er einen gräßlichen Schrei ausgeſtoßen.“
„Wiſſen Sie vielleicht, was in dem Brief des Grafen geſtanden hat?“ forſchte der Präſident.
„O ja, das weiß ich wohl,“ entgegnete der Lehrer harmlos; „es iſt meine Gepflogenheit, alle Briefe, die er erhält, vorher zu öffnen.“
Feuerbach blickte jäh empor und ſah den Lehrer mit finſterer Neugier an. „Nun, und?“ fragte er.
„Ich könnte den Inhalt des Schreibens durchaus nicht mit einer ſolchen Wirkung zuſammenreimen,“ erwiderte Quandt bedächtig.
Der Präſident ſtampfte ungeduldig mit dem Fuß. „Gut, gut,“ rief er barſch, „aber was ſtand denn drin, da Sie es doch einmal wiſſen?“
Quandt erſchrak. „Es ſtand drin, der Graf könne in dieſem Jahr nicht mehr nach Ansbach kommen, unerwartete Zwiſchenfälle nötigten ihn, dieſen Plan ins Unbeſtimmte zu verſchieben. Nun iſt mir freilich bekannt, daß Hauſer mit der Herkunft des Lords ſtark gerechnet hat, er ſprach ſogar immer von einem feſten Termin und hielt es für einen Frevel, wenn man ihm das ausreden wollte; er ſchien es geradezu für eine Pflicht des Grafen zu erachten, denn in ſeinem kindiſchen Kopf glaubt er noch fix daran, daß ihn der Graf mit nach England auf ſeine Schlöſſer nehmen werde, und er ahnt gar nicht, daß der Herr Graf ſchon längſt ſein Herz von ihm abgewandt hat —“
„Woher wiſſen Sie das, Mann?“ brauſte der Präſident auf und erhob ſich mit ſolchem Ungeſtüm, daß der Stuhl hinter ihm umſtürzte.
„Eure Exzellenz verzeihen,“ ſtotterte Quandt furchtſam, „aber das iſt doch ſonnenklar.“ Er ging hin, ſtellte den Stuhl mit einer höflichen Grimaſſe wieder auf, und während der Präſident mit ſeinen ſteifen, kurzen Schritten auf und ab wanderte, ſagte er ſchüchtern: „Trotz allem iſt mir die Wirkung dieſer in den urbanſten Formen gehaltenen Abſage unerklärlich und beſorgniſerregend; es muß da etwas dahinter ſtecken, und Eure Exzellenz ſind vielleicht imſtande, es herauszubringen.“
„Ich werde der Sache nachgehen,“ ſchnitt Feuerbach das Geſpräch kurz ab. Quandt machte ſeinen Bückling und entfernte ſich. Er ging nicht heimwärts, ſondern wandte ſich gegen die Herrieder Vorſtadt, da er ſeine Frau vom Haus ihrer Mutter abholen wollte. Es war ein heftiger Sturm, Blätter und Zweige wirbelten durch die Luft, Quandts Mantelumhang flatterte hochauf, und mit beiden Händen mußte er die Ränder ſeines Schlapphuts feſthalten.
Kurz nach dem Lehrer hatte Caſpar heimlich das Haus verlaſſen, eigentlich ohne Ziel. Als er auf der Straße war, fiel ihm ein, ob er nicht zu Frau von Imhoff gehen könne, und ungeachtet der Dunkelheit und des böſen Wetters, und obgleich das Imhoffſchlößchen eine Viertelſtunde vor der Stadt gelegen war, entſchloß er ſich dazu. Aber als er angelangt war, als er am Gittertor ſtand und zu den erleuchteten Fenſtern hinaufſchaute, ſchwand ihm alle Luſt und er fürchtete ſich vor den hellen Zimmern. Sah er ſich doch ſchon droben; hörte er doch ſchon die Worte, die ihm nichts waren und nichts galten, er kannte ſie alle, er hätte ſie auswendig an der Schwelle herſagen können. Ja, er kannte nun die Worte der Menſchen, er erfuhr nichts Neues durch ſie, ſie fielen in das unermeßliche Meer ſeiner Traurigkeit wie kleine trübe Tropfen, deren Aufſchall die Tiefe verſchlang.
Ein Schatten glitt an den Fenſtern vorbei, ein andrer folgte. So weilten ſie in ihren Wohnungen, ſtill und emſig, zündeten ihre Lichter an und wußten nicht, wer draußen ſtand am Tor.
Mitten im Windgebrauſe vernahm Caſpar Töne wie von einem Saiteninſtrument, das unter den Wolken aufgehängt war. Es befand ſich nämlich auf dem Dach des Schlößchens eine Aeolsharfe, Caſpar wußte dies nicht und hielt es für eine geiſterhafte Muſik. Als er den Rückweg antrat, ſchlugen immer von Zeit zu Zeit die orgelnden Akkorde an ſein Ohr.
Er wünſchte noch nicht heimzugehen; der gleiche dumpfe Drang, der ihn vor das Schlößchen der Imhoffs getrieben hatte, führte ihn noch zum Hauſe des Generalkommiſſärs, dann zum Haus des Regierungspräſidenten, dann zum Feuerbachſchen Haus und ſchließlich vor ein Gebäude, das unbewohnt war und das mit ſeinen verſchloſſenen Läden, ſeinen bemoſten Simſen und ſeinem hochbogigen Tor, über welchem ein Auge in den Stein und darüber die Worte gemeißelt waren: „Zum Auge Gottes“, ſchon lang vorher ſeine Wißbegier aufgeweckt hatte. Zur Markgrafenzeit ſollte ein Goldmacher darin gewohnt haben.
Es war ihm zumute, wie wenn er in all dieſen Häuſern zu Gaſt geweſen ſei, wie wenn er unſichtbar unter ihren Bewohnern oder in ihren leeren Räumen herumgegangen ſei und als ob er dabei eine merkwürdige Kenntnis von dem vergangenen und gegenwärtigen Leben ihrer Menſchen gewonnen hätte.
Ziemlich müde und dabei tief erregt langte er im Lehrerhaus an. Quandt und ſeine Frau waren noch nicht daheim, die Kinder ſchliefen, die Magd war nicht zu ſehen, es herrſchte eine große Stille, nur der Wind umheulte die Mauern, und das Flurlämpchen flackerte wie vor Furcht. Da, während Caſpar zur Treppe ſchritt, vernahm er eine langgezogene feine Stimme, ähnlich dem Zirpen der Sommergrille, und die Stimme rief:
„Stephan!“
Er blieb befremdet ſtehen und ſah ſich um. Da alles ruhig war, glaubte er ſich getäuſcht zu haben, glaubte, es ſei eine Stimme draußen auf der Straße geweſen. Aber kaum hatte er drei Schritte getan, ſo erſchallte die Stimme neuerdings, nur unvergleichlich lauter, anſcheinend aus dichterer Nähe:
„Stephan!“
Es war etwas unendlich Ergreifendes in dem Ton; es klang, wie wenn einer, der zu ertrinken fürchtet, aus dem Waſſer ruft. Unverkennbar war es eine männliche Stimme, die nun zum drittenmal wie von Schluchzen erſtickt ausrief:
„Stephan!“
Kein Zweifel, der Ruf galt ihm, ihm, Caſpar. Er ſtreckte die Arme aus und fragte: „Wo? Wo biſt du? Wo biſt du?“
Da ſah er oben über der Tür, körperlos ſchwebend, ein fahlleuchtendes Geſicht. Es war das Geſicht Stanhopes, mit aufgeriſſenen Augen und aufgeriſſenem Mund, wie in äußerſtem Schrecken verzerrt, häßlich, ſchier unkenntlich häßlich.
Caſpar verharrte angewurzelt an ſeinem Platz, ſeine Glieder, ja ſeine Augen waren wie verſteinert. Als er zum zweitenmal hinblickte, war das Antlitz verſchwunden, auch die Stimme ließ ſich nicht mehr vernehmen. Flur und Stiege erleuchtet, alle Türen zu, kein Menſch zu ſehen, kein Laut zu hören.