Jakob Waſſermann: Caſpar Hauſer // oder // Die Trägheit des Herzens 1. Der fremde Jüngling In den erſten Sommertagen des Jahres 1828 liefen in Nürnberg ſonderbare Gerüchte über einen Menſchen, der im Veſtnerturm auf der Burg in Gewahrſam gehalten wurde und der ſowohl der Behörde wie den ihn beobachtenden Privatperſonen täglich mehr zu ſtaunen gab. Es war ein Jüngling von ungefähr ſiebzehn Jahren. Niemand wußte, woher er kam. Er ſelbſt vermochte keine Auskunft darüber zu erteilen, denn er war der Sprache nicht mächtiger als ein zweijähriges Kind; nur wenige Worte konnte er deutlich ausſprechen, und dieſe wiederholte er immer wieder mit lallender Zunge, bald klagend, bald freudig, als wenn kein Sinn dahinterſteckte und ſie nur unverſtandene Zeichen ſeiner Angſt oder ſeiner Luſt wären. Auch ſein Gang glich dem eines Kindes, das gerade die erſten Schritte erlernt hat: nicht mit der Ferſe berührte er zuerſt den Boden, ſondern trat ſchwerfällig und vorſichtig mit dem ganzen Fuße auf. Die Nürnberger ſind ein neugieriges Volk. Jeden Tag wanderten Hunderte den Burgberg hinauf und erklommen die zweiundneunzig Stufen des finſtern alten Turmes, um den Fremdling zu ſehen. In die halbverdunkelte Kammer zu treten, wo der Gefangene weilte, war unterſagt, und ſo erblickten ihre dichtgedrängten Scharen von der Schwelle aus das wunderliche Menſchenweſen, das in der entfernteſten Ecke des Raumes kauerte und meiſt mit einem kleinen weißen Holzpferdchen ſpielte, das es zufällig bei den Kindern des Wärters geſehen und das man ihm, gerührt von dem unbeholfenen Stammeln ſeines Verlangens, geſchenkt hatte. Seine Augen ſchienen das Licht nicht erfaſſen zu können; er hatte offenbar Furcht vor der Bewegung ſeines eignen Körpers, und wenn er ſeine Hände zum Taſten erhob, war es, als ob ihm die Luft dabei einen rätſelhaften Widerſtand entgegenſetzte. Welch ein armſeliges Ding, ſagten die Leute; viele waren der Anſicht, daß man eine neue Spezies entdeckt habe, eine Art Höhlenmenſch etwa, und unter den berichteten Seltſamkeiten war nicht die geringſte die, daß der Knabe jede andre Nahrung als Waſſer und Brot mit Abſcheu zurückwies. Nach und nach wurden die einzelnen Umſtände, unter denen der Fremdling aufgetaucht war, allgemein bekannt. Am Pfingſtmontag gegen die fünfte Nachmittagsſtunde war er plötzlich auf dem Unſchlittplatz, unweit vom neuen Tor, geſtanden, hatte eine Weile verſtört um ſich geſchaut und war dann dem zufällig des Weges kommenden Schuſter Weikmann geradezu in die Arme getaumelt. Seine bebenden Finger wieſen einen Brief mit der Adreſſe des Rittmeiſters Weſſenig vor, und da nun einige andre Perſonen hinzukamen, ſchleppte man ihn mit ziemlicher Mühe bis zum Haus des Rittmeiſters. Dort fiel er erſchöpft auf die Stufen, und durch die zerriſſenen Stiefel ſickerte Blut. Der Rittmeiſter kam erſt um die Dämmerungsſtunde heim, und ſeine Frau erzählte ihm, daß ein verhungerter und halbvertierter Burſche auf der Streu im Stall ſchlafe; zugleich übergab ſie ihm den Brief, den der Rittmeiſter, nachdem er das Siegel erbrochen, mit größter Verwunderung einige Male durchlas; es war ein Schriftſtück, ebenſo humoriſtiſch in einigen Punkten wie in andern von grauſamer Deutlichkeit. Der Rittmeiſter begab ſich in den Stall und ließ den Fremdling aufwecken, was mit vieler Anſtrengung zuſtande gebracht wurde. Die militäriſch gemeſſenen Fragen des Offiziers wurden von dem Knaben nicht oder nur mit ſinnloſen Lauten beantwortet, und Herr von Weſſenig entſchied ſich kurzerhand, den Zuläufer auf die Polizeiwachtſtube bringen zu laſſen. Auch dieſes Unternehmen war mit Schwierigkeiten verknüpft, denn der Fremdling konnte kaum mehr gehen; Blutſpuren bezeichneten ſeinen Weg, wie ein ſtörriſches Kalb mußte er durch die Straßen gezogen werden, und die von den Feiertagsausflügen heimkehrenden Bürger hatten ihren Spaß an der Sache. „Was gibt’s denn?“ fragten die, welche den ungewohnten Tumult nur aus der Ferne beobachteten. „Ei, ſie führen einen betrunkenen Bauern,“ lautete der Beſcheid. Auf der Wachtſtube bemühte ſich der Aktuar umſonſt, mit dem Häftling ein Verhör anzuſtellen; er lallte immer wieder dieſelben halb blödſinnigen Worte vor ſich hin, und Schimpfen und Drohen nutzte nichts. Als einer der Soldaten Licht anzündete, geſchah etwas Sonderbares. Der Knabe machte mit dem Oberkörper tanzbärenhaft hüpfende Bewegungen und griff mit den Händen in die Kerzenflamme; aber als er dann die Brandwunde verſpürte, fing er ſo zu weinen an, daß es allen durch Mark und Bein ging. Endlich hatte der Aktuar den Einfall, ihm ein Stück Papier und einen Bleiſtift vorzuhalten, danach griff der wunderliche Menſch und malte mit kindiſch-großen Buchſtaben langſam den Namen Caſpar Hauſer. Hierauf wankte er in eine Ecke, brach förmlich zuſammen und fiel in tiefen Schlaf. Weil Caſpar Hauſer — ſo wurde der Fremdling von nun ab genannt — bei ſeiner Ankunft in der Stadt bäuriſch gekleidet war, nämlich mit einem Frack, von dem die Schöße abgeſchnitten waren, einem roten Schlips und großen Schaftſtiefeln, glaubte man zuerſt, es mit einem Bauernſohn aus der Gegend zu tun zu haben, der auf irgendeine Weiſe vernachläſſigt oder in der Entwicklung verkümmert war. Der erſte, der dieſer Meinung entſchieden widerſprach, war der Gefängniswärter auf dem Turm. „So ſieht kein Bauer aus,“ ſagte er und deutete auf das wallende, hellbraune Haar ſeines Häftlings, das etwas nicht ausdrückbar Unberührtes hatte und glänzend war wie das Fell von Tieren, die in Finſternis zu leben gewohnt ſind. „Und dieſe feinen weißen Händchen und dieſe ſammetweiche Haut und die dünnen Schläfen und die deutlichen blauen Adern zu beiden Seiten des Halſes, wahrhaftig, er gleicht eher einem adligen Fräulein als einem Bauern.“ „Nicht übel bemerkt,“ meinte der Stadtgerichtsarzt, der in ſeinem zu Protokoll gegebenen Gutachten neben dieſen Merkmalen die beſondere Bildung der Knie und die hornhautloſen Fußſohlen des Gefangenen hervorhob. „So viel iſt klar,“ hieß es am Schluß, „daß man es hier mit einem Menſchen zu tun hat, der nichts von ſeinesgleichen ahnt, nicht ißt, nicht trinkt, nicht fühlt, nicht ſpricht wie andre, der nichts von geſtern, nichts von morgen weiß, die Zeit nicht begreift, ſich ſelber nicht ſpürt.“ Die hohe Polizeibehörde ließ ſich durch ein ſolches Urteil nicht aus dem vorgeſetzten Gang der Unterſuchung lenken; es beſtand der Verdacht, daß der Stadtgerichtsarzt durch ſeinen Freund, den Gymnaſialprofeſſor Daumer, beeinflußt und zu dieſen Überſchwenglichkeiten verführt worden ſei. Der Gefängniswärter Hill wurde beauftragt, den Fremdling insgeheim zu belauern. Er ſpähte oft durch das verborgene Loch in der Türe, wenn ſich der Knabe allein wähnen mußte; aber es war immer derſelbe traurige Ernſt in den bald ſchlaffen und beklommenen, bald wie durch den Anblick eines unſichtbaren Furchtgebildes verzerrten und zerriſſenen Zügen. Es war auch vergeblich, nachts, wenn er ſchlief, an ſein Lager zu ſchleichen, hinzuknien, auf den Atem zu horchen und zu warten, ob er verräteriſche Worte aus dem Innern auf die Lippen trug; Leute, die Übles im Schild führen, pflegen nämlich aus dem Schlaf zu reden, auch ſchlafen ſie eher bei Tag als bei Nacht, wo ſie ihren Gedanken und Entwürfen nachhängen, aber dieſen umfing der Schlummer, ſobald die Sonne ſank, und er erwachte, wenn ſich der erſte Morgenſtrahl durch die verſchloſſenen Läden zwängte. Es konnte Argwohn wecken, daß er jedesmal zuſammenzuckte, wenn die Tür ſeines Gefängniſſes geöffnet wurde; wahrſcheinlich jedoch gab ſich darin nicht die Angſt eines ſchuldbewußten Gemüts zu erkennen, ſondern vielmehr eine übermäßige Erregbarkeit der Sinne, denen jeder Laut von außen zu qualvoller Nähe kam. „Unſre Herren auf dem Rathaus werden noch viel Papier beſchmieren müſſen, wenn ſie auf dem Weg weiterkommen wollen,“ ſagte der gute Hill eines Morgens — es war der dritte Tag der Haft Caſpar Hauſers — zu Profeſſor Daumer, der den Fremdling beſuchen wollte; „ich kenne gewiß alle Schliche des Lumpenvolks, aber wenn {der} Burſche ein Simulante iſt, will ich mich hängen laſſen.“ Hill ſperrte auf, und Profeſſor Daumer trat in die Kammer. Wie gewöhnlich erſchrak der Gefangene, aber als der Ankömmling einmal im Raum war, ſchien ihn Caſpar Hauſer nicht mehr zu gewahren und ſchaute, bezaubert im dumpfen Nichtwiſſen, ſtill vor ſich nieder. Da geſchah es, als Hill den Fenſterladen geöffnet hatte, daß der Knabe, vielleicht wie nie zuvor in ſeinem Leben, den gefeſſelten Blick erhob, ihn von der ſchweigenden, gleichmäßigen Furcht wegkehrte, die das Innere ſeiner Bruſt beherbergen mochte, und ihn durchs Fenſter hinausſchweifen ließ in das beſonnte Freie, wo Ziegeldach an Ziegeldach ſich ſteil und glühendrot auf einem Hintergrund von bläulich dämmernden Wieſen und Wäldern malte. Er ſtreckte ſeine Hand aus; Überraſchung und freudloſes Staunen verzog ſeine Lippen, zögernd griff er mit dem Arm in das funkelnde Gemälde, als ob er das bunte Durcheinander draußen mit den Fingern anfaſſen wolle, und als er ſich überzeugt hatte, daß es nichts war, etwas Fernes, Trügeriſches, Ungreifbares, da verfinſterte ſich ſein Geſicht, und er wandte ſich unwillig und enttäuſcht ab. Am ſelben Nachmittag kam der Bürgermeiſter Binder in Daumers Wohnung und teilte im Verlauf eines Geſprächs über den Findling mit, daß die Herren vom Stadtmagiſtrat eher feindlich und ungläubig als wohlwollend gegen dieſen geſtimmt ſeien. „Ungläubig?“ entgegnete Daumer verwundert, „in welcher Beziehung ungläubig?“ „Nun ja, man nimmt an, daß der Burſche ſein Gaukelſpiel mit uns treibt,“ verſetzte der Bürgermeiſter. Daumer ſchüttelte den Kopf. „Welcher Menſch von Verſtand oder Geſchicklichkeit wird ſich aus purer Heuchelei dazu herbeilaſſen, von Brot und Waſſer zu leben, und alles, was dem Gaumen behagt, mit Ekel von ſich weiſen?“ fragte er. „Um welches Vorteils willen?“ „Gleichviel,“ antwortete Binder unſchlüſſig; „es ſcheint eine verwickelte Geſchichte. Da niemand ſagen noch vermuten kann, worauf das Spiel hinaus will, iſt Vorſicht um ſo mehr geboten, als man durch leichtſinnige Gutgläubigkeit den gerechten Hohn der Urteilsfähigen herausfordert.“ „Das klingt ja beinahe, als ob nur die Zweifler und Neinſager urteilsfähig heißen könnten,“ bemerkte Daumer ſtirnrunzelnd. „Von der Gilde haben wir leider genug.“ Der Bürgermeiſter zuckte die Achſeln und blickte den jungen Lehrer mit jener milden Ironie an, welche die Waffe der Erfahrenen gegenüber den Enthuſiaſtiſchen iſt. „Wir haben eine neuerliche Unterſuchung durch den Gerichtsarzt beſchloſſen,“ fuhr er fort. „Der Magiſtratsrat Behold, der Freiherr von Tucher und Sie, lieber Daumer, ſollen dieſer Unterſuchung kommiſſariſch beiwohnen. Der aufzunehmende Akt wird dann, zuſammen mit den bereits vorhandenen polizeilichen Protokollen, der Kreisregierung überſchickt.“ „Ich verſtehe: Akten, Akten,“ ſagte Daumer ſpöttiſch lächelnd. Der Bürgermeiſter legte ihm die Hand auf die Schulter und erwiderte gutmütig: „Seien Sie nicht ſo überlegen, Verehrter; unſre Welt ſchmeckt nun einmal nach Tinte, und daran habt ihr Bücherwürmer doch wahrlich nicht die wenigſte Schuld. Übrigens,“ er griff in die Rockbruſt und brachte ein zuſammengefaltetes Stück Papier zum Vorſchein, „als Mitglied der Kommiſſion werden Sie gebeten, Einblick in ein wichtiges Dokument zu nehmen. Es iſt der Brief, den unſer Gefangener beim Rittmeiſter Weſſenig abgegeben hat. Leſen Sie.“ Das mit keiner Namensunterſchrift verſehene Schreiben lautete: „Ich ſchicke Ihnen hier einen Burſchen, Herr Rittmeiſter, der möchte ſeinem König getreu dienen und will unter die Soldaten. Der Knabe iſt mir gelegt worden im Jahre 1815, in einer Winternacht, da lag er an meiner Tür. Hab’ ſelber Kinder, bin arm, kann mich ſelber kaum durchbringen, er iſt ein Findling, und ſeine Mutter hab’ ich nicht erfragen können. Hab’ ihn nie einen Schritt aus dem Haus gelaſſen, kein Menſch weiß von ihm, er weiß nicht, wie mein Haus heißt, und den Ort weiß er auch nicht. Sie dürfen ihn ſchon fragen, er kann es aber nicht ſagen, denn mit der Sprache iſt es noch ſchlecht bei ihm beſtellt. Wenn er Eltern hätte, wie er keine hat, wär’ was Tüchtiges aus ihm geworden, Sie brauchen ihm nur etwas zu zeigen, da kann er es gleich. Mitten in der Nacht hab’ ich ihn fortgeführt, und er hat kein Geld bei ſich, und wenn Sie ihn nicht behalten wollen, müſſen Sie ihn erſchlagen und in den Rauchfang hängen.“ Als Daumer geleſen hatte, gab er dem Bürgermeiſter das Schriftſtück zurück und ging mit ernſter Miene auf und ab. „Nun, was halten Sie davon?“ forſchte Binder; „einige unſrer Herren ſind der Anſicht, der Unbekannte ſelbſt könne den Brief geſchrieben haben.“ Daumer hielt mit einem Ruck in ſeiner Wanderung inne, ſchlug die Hände zuſammen und rief: „Ach, du himmliſche Gnade!“ „Dazu iſt natürlich gar kein Grund vorhanden,“ beeilte ſich der Bürgermeiſter hinzuzufügen. „Daß bei der Abfaſſung des Schreibens eine zweckvolle Tücke gewaltet hat, daß es dazu beſtimmt iſt, Nachforſchungen zu erſchweren und irrezuführen, iſt offenbar. Es iſt eine ſchnöde Kaltherzigkeit im Ton, die mir von Anfang an den Verdacht erregt hat, daß der Jüngling das unſchuldige Opfer eines Verbrechens iſt.“ Eine mutige Meinung, in welcher der Bürgermeiſter durch einen Vorgang ſehr beſtärkt wurde, der ſich ereignete kurz nachdem die Herren von der Kommiſſion am folgenden Morgen das Gefängnis Caſpar Hauſers betreten hatten. Während der Wärter damit beſchäftigt war, den Knaben zu entkleiden, ließ ſich drunten in einer Gaſſe am Burgberg eine Bauernmuſik hören und zog mit klingendem Spiel an der Mauer vorüber. Da lief ein grauenhaft anzuſchauendes Zittern über den Körper Hauſers, ſein Geſicht, ja ſogar ſeine Hände bedeckten ſich mit Schweiß, ſeine Augen verdrehten ſich, alle Fibern lauſchten dem Schrecken entgegen, dann ſtieß er einen tieriſchen Schrei aus, ſtürzte zu Boden und blieb zuckend und ſchluchzend liegen. Die Männer erbleichten und ſahen einander ratlos an. Nach einer Weile näherte ſich Daumer dem Unglücklichen, legte die Hand auf ſein Haupt und ſprach ein paar tröſtende Worte. Dies wirkte beruhigend auf den Jüngling, und er wurde ſtille; nichtsdeſtoweniger ſchien der ungeheure Eindruck des gehörten Schalls ſeinen Leib von innen und von außen verwundet zu haben. Tagelang nachher zeigte ſein Weſen noch die Spuren der empfundenen Erſchütterung; er lag fiebernd auf dem Strohſack, und ſeine Haut war zitronengelb. Teilnahmsvollen Fragen gegenüber war er allerdings herzlich bewegt, und er ſuchte nach Worten, um ſeine Erkenntlichkeit zu beweiſen, wobei ſein ſonſt ſo klarer Blick ſich in dunkler Pein trübte; beſonders für den Profeſſor Daumer, der zwei- bis dreimal täglich zu ihm kam, legte er eine zärtliche Dankbarkeit, ſchweigend oder ſtammelnd, dar. Bei einem dieſer Beſuche war Daumer mit dem Knaben ganz allein, und das zum erſtenmal; der Wärter hatte auf ſeine Bitte das untere Tor abgeſperrt. Er ſaß dicht neben dem Gefangenen, er redete, fragte, forſchte, alles mit einem vergeblichen Aufwand von Innigkeit, Geduld und Liſt. Zum Schluß beſchränkte er ſich darauf, das Tun und Laſſen des Jünglings voll Spannung zu beobachten. Plötzlich ſtieß Caſpar Hauſer ſeine verworrenen Laute aus: er ſchien etwas zu fordern und ſpähte ſuchend herum. Daumer erriet bald und reichte ihm den gefüllten Waſſerkrug, den Hill auf die Ofenbank geſtellt hatte. Caſpar nahm den Krug, ſetzte ihn an die Lippen und trank. Er trank in langen Schlücken, mit beſeligter Gelöſtheit und einem begeiſterten Aufleuchten der Augen, wie wenn er für den kurzen Zeitraum des Genuſſes vergeſſen hätte, daß das dämoniſch Unbekannte auf allen Seiten ihn bedrängte. Daumer geriet in eine ſeltſame Aufregung. Als er nach Hauſe kam, durchmaß er länger als eine halbe Stunde mit großen Schritten ſein Studierzimmer. Gegen acht Uhr pochte es an der Tür, ſeine Schweſter trat ein und rief ihn zum Abendeſſen. „Was glaubſt du, Anna,“ rief er ihr lebhaft und mit beziehungsvollem Ton zu, „zweimal zwei iſt vier, wie?“ „Es ſcheint ſo,“ erwiderte das junge Mädchen, verwundert lachend, „alle Leute behaupten es. Haſt du denn entdeckt, daß es anders iſt? Das ſähe dir ähnlich, du Aufwiegler.“ „Nicht gerade das hab’ ich entdeckt, aber doch etwas der Art,“ ſagte Daumer heiter und legte den Arm um die Schulter der Schweſter. „Ich will einmal unſre braven Philiſter tanzen laſſen! Ja, tanzen ſollen ſie mir und ſtaunen.“ „Betrifft es etwa gar den Findling? Haſt du was mit ihm vor? Sei nur auf der Hut, Friedrich, und laß dich nicht in Scherereien ein, man iſt dir ohnedies nicht grün.“ „Gewiß,“ gab er, raſch verſtimmt, zur Antwort, „das Einmaleins könnte Schaden leiden.“ „Nun, weiß man noch gar nichts über den Sonderling?“ fragte bei Tiſch Daumers Mutter, eine ſanfte alte Dame. Daumer ſchüttelte den Kopf. „Vorläufig kann man nur ahnen, bald wird man wiſſen,“ entgegnete er mit ſtarr nach oben gerichtetem Blick. Am folgenden Tag brachte die „Morgenpoſt“ einen Artikel, der die Überſchrift trug: Wer iſt Caſpar Hauſer? Wenngleich auf dieſen Appell keiner der Leſer eine Antwort zu erteilen vermochte, wurde der Zudrang der Neugierigen ſo groß, daß das Bürgermeiſteramt ſich genötigt ſah, die Beſuchsſtunden durch eine ſtrenge Vorſchrift zu regeln. Bisweilen ſtanden die Leute Kopf an Kopf vor der offenen Tür des Gefängniſſes, und in allen Geſichtern war die Frage zu leſen: Was iſt es mit ihm? Was iſt es für ein Menſch, der die Worte nicht verſteht und dennoch ſprechen kann, die Dinge nicht erkennt und dennoch ſehen kann, der zu lachen vermag, kaum daß ſein Weinen zu Ende, der arglos ſcheint und geheimnisvoll iſt und hinter deſſen unſchuldig leuchtenden Augen vielleicht Übeltat und Schande verborgen ſind? Sicherlich ſpürte der Gefangene, ſpürte es ſchmerzlich, was die lüſtern auf ihn gerichteten Blicke begehrten, und der Wunſch, ihnen zu willfahren, erzeugte möglicherweiſe die erſte erhellende Dämmerung, welche ihm ſelbſt die Vergangenheit langſam begreiflich machte, ſo daß er in beunruhigter Bruſt nach dem Geweſenen taſtete, ein Geweſenes erſt fühlte und die Gegenwart damit verband, im tiefſten ſchaudernd an der Zeit meſſen lernte, was ſie verändernd mit ihm getan, und was er ſah, mit dem verglich, was er ehedem geſehen. Er begriff das Fordernde der Frage und ward des Mittels inne, die verlangenden Mienen zu befriedigen. Mit durſtigen Sinnen ſuchte er das Wort. Sein flehentlicher Blick grub es heraus aus dem ſprechenden Mund der Menſchen. Hier war Daumer in ſeinem Element. Was keinem andern, dem Arzt nicht, dem Wärter nicht, dem Bürgermeiſter nicht, den Protokollanten erſt recht nicht gelingen wollte, das vermochte nach und nach ſeine Behutſamkeit und zweckvolle Geduld. Die Perſon des Findlings beſchäftigte ihn aber auch dermaßen, daß er ſeiner Studien und privaten Obliegenheiten, ja beinahe ſeines öffentlichen Amtes darüber vergaß, und er erſchien ſich wie ein Mann, den das Schickſal vor das ihm allein beſtimmte Erlebnis geſtellt hat, wodurch ſein ganzes Leben und Denken eine glückliche Beſtätigung erfährt. Unter ſeinen Notizen über Caſpar Hauſer lautete eine der erſten wie folgt: „Dieſe in einer fremden Welt hilflos ſchwankende Geſtalt, dieſer ſchlafumfangene Blick, dieſe angſtverhaltene Gebärde, dieſe über einem etwas verkümmerten Untergeſicht edel thronende Stirn, auf welcher Frieden und Reinheit ſtrahlen: es ſind für mich Zeugen von unbeſiegbarer Deutkraft. Wenn ſich die Vermutungen bewahrheiten, mit denen ſie mich erfüllen, wenn ich die Wurzeln dieſes Daſeins aufgraben und ſeine Zweige zum Blühen bringen kann, dann will ich der ſtumpfgewordenen Welt den Spiegel unbefleckten Menſchentums entgegenhalten, und man wird ſehen, daß es gültige Beweiſe gibt für die Exiſtenz der Seele, die von allen Götzendienern der Zeit mit elender Leidenſchaft geleugnet wird.“ Es war ein ſchwieriger Weg, den der eifervolle Pädagoge ging. Da, wo er zu beginnen hatte, war die menſchliche Sprache ein weſenloſes Ding, Wort um Wort mußte erſt ſeinem Sinn angeheftet, Erinnerung erſt erweckt, Urſache und Folge in ihrer Verkettung erſt entſchleiert werden. Zwiſchen einer Frage und der nächſten lagen Welten des Begreifens, ein Ja, ein Nein, oft hilflos hingeworfen, galt noch nichts, wo jeder Begriff erſt aus der Dunkelheit erſtand und die Verſtändigung von Vokabel zu Vokabel ſtockte. Und doch ſchien ein Licht wie aus weit entfernter Vergangenheit den Geiſt des Jünglings viel raſcher zu beflügeln, als ſelbſt der hoffnungsſelige Daumer zu erwarten gewagt hatte. Es war erſtaunlich, mit welcher Leichtigkeit und Kraft er einmal Geſagtes feſthielt und wie er aus dem Chaos unlebendiger Laute das für ihn Lebendige und Bedeutungsvolle bildvoll hervorzauberte, ſo daß es Daumer zumute war, als hebe er bloß Schleier von den Augen ſeines Schützlings, als ſpiele er die Rolle des Lauſchers bei den langſam hervorquellenden Erinnerungen. Er hielt den Körper, indes der Geiſt des Knaben zurückkehrte in den Bezirk, von wo er kam, und eine Kunde brachte, dergleichen kein Ohr je vernommen. 2. Bericht Caſpar Hauſers, von Daumer aufgezeichnet