Kurd Laßwitz: Auf zwei Planeten 44. Torms Flucht Der Fremde war inzwiſchen auf die Straße getreten, wo jetzt der Schein der ſpärlichen Laternen auf dem feuchten Pflaſter glitzerte. Bald war er wieder vor der Sternwarte angelangt und wurde in das Haus geführt. Im Vorflur trat ihm Grunthe entgegen. „Was wünſchen Sie?“ fragte dieſer, den ſpäten Gaſt mißtrauiſch muſternd. „Ich möchte Sie in einer Privatangelegenheit ſprechen“, ſagte der Fremde mit einem Blick auf den Hausburſchen. Beim Klang der Stimme zuckte Grunthe zuſammen. „Bitte, treten Sie in mein Zimmer.“ Der Fremde ſchritt voran. Grunthe ſchloß die Tür. Beide blickten ſich eine Weile wortlos an. „Erkennen Sie mich wieder?“ fragte der Fremde langſam. „Torm?“ rief Grunthe fragend. „Ich bin es. Zum zweiten Male von den Toten erſtanden. Ja, ich habe noch zu leben, bis —“ Er ſchwankte und ließ ſich auf einen Stuhl nieder. „Wo iſt meine Frau?“ fragte er dann. „In Berlin.“ „Und Ell?“ „In Berlin.“ Torm erhob ſich wieder. Seine Augen funkelten unheimlich. „Und wie — wovon lebt ſie dort?“ ſagte er ſtockend. „Was wiſſen Sie von ihr?“ „Ich — ich bitte Sie, legen Sie zunächſt ab, machen Sie es ſich bequem. Was ich weiß, iſt nicht viel. Ihre Frau Gemahlin iſt vollſtändig ſelbſtändig und lebt in geſicherten Verhältniſſen. Sie hat alle Anerbietungen von der Familie Ills und von Ell zurückgewieſen und nur die Stelle als Leiterin einer der martiſchen Bildungsſchulen angenommen. Sie müſſen wiſſen, daß ſich vieles bei uns geändert hat —“ „Ich meine, was wiſſen Sie ſonſt? Was ſagt man —“ Er brach ab. Nein, er konnte nicht von dem ſprechen, was ihm am meiſten am Herzen lag, am wenigſten mit Grunthe. „Was ſagt man von mir?“ fragte er. „Meinen Sie, daß ich mich zeigen darf, daß ich wagen darf, nach Berlin zu reiſen?“ „Ich wüßte nicht, was Sie abhalten ſollte. Allerdings weiß ich ja auch nicht, was mit Ihnen geſchehen iſt, wie es kam, daß Sie plötzlich verſchwunden waren —“ „Werde ich denn nicht verfolgt? Bin ich nicht von den Martiern, die ja jetzt die Gewalt in Händen zu haben ſcheinen, verurteilt? Hat man keine Bekanntmachung erlaſſen?“ „Ich weiß von nichts — ich würde es doch aus den Zeitungen erfahren haben, oder ſicherlich von Saltner, von Ell ſelbſt — ich weiß wohl, daß Ell ſich bemüht hat, Ihren Aufenthalt ausfindig machen zu laſſen, aber ich habe das als perſönliches Intereſſe aufgefaßt, es iſt niemals eine Äußerung gefallen, daß man Sie — ſozuſagen — kriminell ſucht. ...“ „Das verſtehe ich nicht. Dann müſſen beſondere Gründe vorliegen, weshalb die Martier ſchweigen — ich vermute, man will mich ſicher machen, um mich alsdann dauernd zu beſeitigen. ...“ „Aber ich bitte Sie, ich habe nie gehört, daß Sie Feinde bei den Numen haben.“ Torm lachte bitter. „Es könnte doch jemand ein Intereſſe haben —“ Grunthe runzelte die Stirn und zog die Lippen zuſammen. Torm ſah, daß es vergeblich wäre, mit Grunthe von dieſen Privatangelegenheiten zu ſprechen. „Ich bin in der Tat“ ſagte er leiſe, „in den Augen der Martier ein Verbrecher, obwohl ich von meinem Standpunkt aus in einer berechtigten Notlage gehandelt habe. Und in dieſem Gefühl bin ich hierhergekommen und ſchleiche umher wie ein Böſewicht, in der Furcht, erkannt zu werden. Ich weiß nichts von den Verhältniſſen in Europa. Ich bin hierhergekommen, weil ich glaubte, Ell ſei hier, und mit ihm wollte ich ab—, wollte ich ſprechen, gleichviel, was dann aus mir würde. Mein einziger Gedanke war, nicht eher von den Martiern gefaßt zu werden, bis ich Ell perſönlich gegenübergetreten war. Und das werde ich auch jetzt ausführen. Ich gehe morgen nach Berlin. Ich habe noch Gelder auf der hieſigen Bank, aber ich habe nicht gewagt, ſie zu erheben, weil ich überzeugt war, man warte nur darauf, mich bei dieſer Gelegenheit feſtzunehmen.“ „Ich ſtehe natürlich zu Ihrer Verfügung, aber ich glaube, daß Ihre Befürchtungen völlig grundlos ſind. Und, wenn ich das ſagen darf, daß Sie auch Ell irrtümlich für Ihren Feind halten. Er hat ſich ſtets gegen Ihre Frau Gemahlin ſo rückſichtsvoll, freundſchaftlich und fürſorgend verhalten, daß ich wirklich nicht weiß, worauf ſich Ihr Argwohn ſtützt —“ „Laſſen wir das, Grunthe, laſſen wir das. Sagen Sie mir vor allem, wie iſt das alles gekommen, wie ſind dieſe Martier hier Herren geworden, wie ſind die politiſchen Verhältniſſe?“ „Sie ſollen alles erfahren. Aber ich bitte Sie, erklären Sie mir zunächſt, worauf Ihre Beſorgnis gegen die Martier ſich gründet — ich bin ja völlig unwiſſend über Ihre Erlebniſſe. Wir hatten die Hoffnung aufgegeben, Sie wiederzuſehen. Wo kommen Sie her, wo waren Sie, daß Sie ſo ohne jeden Zuſammenhang blieben mit den Ereigniſſen, welche die ganze Welt umgeſtürzt haben?“ „Nun gut, hören Sie zuerſt, was mir geſchehen iſt. Ich kann mich kurz faſſen. Sie wiſſen, daß ich die Abſicht hatte, ſelbſt nach dem Mars zu reiſen, falls meine Frau nicht kräftig genug war, die Reiſe nach der Erde anzutreten.“ „Gewiß. Ill bewilligte Ihnen eine Lichtdepeſche, und Sie erfuhren daraus, daß Sie nicht abreiſen ſollten, da Ihre Frau Gemahlin mit einem der nächſten Raumſchiffe nach der Erde käme. Sie gingen darauf Anfang Mai nach dem Nordpol, um Ihre Frau dort zu erwarten. Ich erhielt noch am 10. Mai einen Brief von Ihnen, in welchem Sie die Hoffnung ausſprachen, bald mit Ihrer Frau, die in den nächſten Tagen zu erwarten ſei, nach Deutſchland zurückzukehren. Am 12. war dann jener unſelige Tag der Protektoratserklärung — und ſeitdem war jede Spur von ihnen verſchwunden.“ „So iſt es“, ſagte Torm. „An dem Tag, dem 12. Mai kam das Raumſchiff, aber es brachte weder meine Frau noch Ell, ſondern die Nachricht, daß der Arzt die Reiſe für die nächſte Zeit noch unterſagt hätte. Ich geriet dadurch in eine gereizte Stimmung, die ſich noch ſteigerte, als ich erfuhr, daß die politiſchen Verhältniſſe ſich bis zum Abbruch der friedlichen Beziehungen zugeſpitzt hatten. Meine Pflicht rief mich nun unbedingt nach Deutſchland zurück; denn obwohl ſeit dieſem Tag der Verkehr mit Deutſchland aufgehoben war, mußte ich doch annehmen und erfuhr es auch bald aus ausländiſchen Blättern, daß das geſamte Heer mobiliſiert werde. Wie aber ſollte ich in die Heimat gelangen? Die Luftboote nach Deutſchland verkehrten nicht mehr, und auf meine direkte Bitte um Beförderung nach einem engliſchen Platz wurde mir erwidert, daß ich in meiner Eigenſchaft als Offizier der Landwehr während der Dauer des Kriegszuſtandes zurückgehalten werden müßte, es ſei denn, daß ich mich ehrenwörtlich verpflichtete, mich nicht zu den Waffen zu ſtellen. Das konnte ich ſelbſtverſtändlich nicht tun. Nach dem Mars zu gehen, war mir geſtattet, aber damit war mir nun nicht mehr gedient. Ich mußte nach Deutſchland. Wiederholte unangenehme Dispute mit den Offizieren der Martier, von denen die Inſel jetzt wimmelte, machten mir den Aufenthalt unerträglich. Ich erwog hundert Pläne zur Flucht, ſelbſt an unſern alten Ballon, der noch immer dort lagert, dachte ich. Endlich beſchloß ich auf eigene Fauſt die Wanderung über das Eis zu verſuchen, die mir ja ſchon einmal gelungen war. Im Fall der vorzeitigen Entdeckung konnte doch, wie ich meinte, meine Lage nicht verſchlimmert werden. Natürlich wurde ich entdeckt und zurückgebracht. Man kündete mir an, daß ich wegen Verdachts der Spionage die Inſel Ara nicht mehr verlaſſen dürfe — vorher hatte man meinen Beſuchen auf den benachbarten Inſeln nichts in den Weg gelegt — und daß ein Kriegsgericht oder dergleichen über mein weiteres Schickſal beſchließen würde. Schon glaubte ich, daß man mich nach dem Mars bringen würde; dann konnte ich wenigſtens hoffen, meine Frau zu treffen. Aber ich erfuhr bald, daß ich jedenfalls auf der Außenſtation interniert werden würde, von wo jede Flucht für mich unmöglich war. In dieſer Zeit dort untätig als Gefangener zu ſitzen, war mir ein entſetzlicher Gedanke. Ich faßte einen Entſchluß der Verzweiflung. Jetzt ſehe ich ein, daß es eine Torheit war. Doch Sie müſſen ſich in meine damalige Stimmung verſetzen — wenn Sie es können. Ich bildete mir außerdem ein, man werde mich daheim für einen fahnenflüchtigen Feigling halten, wenn ich nicht vom Pol zurückkehrte. Ich hatte auch keine Zeit zur Überlegung, denn am nächſten Tag ſollte das Kriegsgericht ſein, worauf ich ſofort in den Flugwagen gebracht worden wäre. — Kurzum, ich beſchloß, die Zeit zu benutzen, während der ich mich noch auf der Inſel frei bewegen durfte. Die Luftſchiffe zu betreten und zu ſtudieren, war mir immer erlaubt geweſen, ich kannte jetzt ihre Einrichtung genau und erinnerte mich an das Abenteuer, das Saltner auf dem Mars erlebt hatte, als er ſich in dem Luftſchiff des Schießſtandes verſteckte. Ich wußte, welches Schiff im Lauf der nächſten Stunden abgehen würde, denn ſowohl nach dem Schutzſtaat England als auch nach andern Teilen der Erde fand lebhafter Verkehr ſtatt. So glaubte ich, wenn es mir gelänge, mich in dem nach England gehenden Schiffe zu bergen, von den Martiern ſelbſt fortbefördert zu werden. Ich wollte es wagen. Ich verſah mich mit etwas Proviant, denn ich war entſchloſſen, im Notfall zwei Tage in meinem Verſteck zu verbleiben. Da fiel mir ein, daß ich ohne Sauerſtoff apparat unmöglich in der Höhe aushalten könnte, in der die Schiffe zu fahren pflegen. Hier blieb mir nichts anderes übrig, als zu ſtehlen. Ich eignete mir zwei von den Abſorptionsbüchſen der Martier an, mehr konnte ich nicht fortſchaffen. Trübes Wetter — wir hatten ja freilich keine Nacht — begünſtigte mein Vorhaben durch ein ſtarkes Schneegeſtöber, ſo daß kein Martier, der nicht durch ſein Amt gezwungen war, ſich auf dem Dach der Inſel ſehen ließ. So gelang es mir leichter, als ich glaubte, mich in das noch gänzlich unbeſetzte Schiff einzuſchleichen, deſſen Wächter in einer der Kajüten beſchäftigt war. Es war ein ausnehmend geräumiges Boot, und ich fand meine Zuflucht, wie damals Saltner, zwiſchen und hinter dem Stoff, den Saltner für Heu hielt, der aber, wie Sie jetzt wiſſen werden, den beſondern Zwecken der Diabarieverteilung dient. Bei gutem Glück rechnete ich, da noch drei Stunden bis zur Abfahrt des Schiffes waren, in acht oder neun Stunden in England zu ſein und dann das Schiff ebenſo unbemerkt verlaſſen zu können. Und wirklich hatte man mich noch nicht vermißt oder nicht im Schiff geſucht — das Schiff erhob ſich. Stunde auf Stunde verging, und ich ſchlummerte von Zeit zu Zeit in meinem dunklen Gefängnis ein. Nun ſagte mir meine Uhr, daß wir in England ſein müßten. Aber aufs neue verging Stunde auf Stunde, ohne daß das Schiff zur Ruhe kam. Ich bemerkte die Bewegung natürlich nur an dem leichten Geräuſch des Reaktionsapparats und dem Ziſchen der Luft. So oft ich aus Sparſamkeit mit dem Sauerſtoffatmen aufhörte, fühlte ich alsbald, daß wir noch immer in ſehr hohen Schichten ſein müßten, und ich geriet in große Sorge, ob mein Vorrat ausreichen würde. Endlich, nach mehr als zehnſtündiger Fahrt, als ich ſchon überlegte, ob ich mich nicht, um dem Erſtickungſtod zu entgehen, den Martiern ergeben ſollte, erkannte ich zu meiner unbeſchreiblichen Freude an der Veränderung der Luft, daß das Schiff ſich ſenke. Bald hörte ich auch aus dem veränderten Geräuſch, daß es mit Segelflug arbeite. Ich ſchloß daraus, daß man eine Landungsſtelle ſuche und ſich alſo nicht einem der gewohnten Anlegeplätze nähere. Können Sie ſich meinen Zuſtand, meine nervöſe Erregung vorſtellen? Seit zehn Stunden im Finſtern eingeſchloſſen, zuletzt unter Atemnot, in fortwährender Gefahr, entdeckt zu werden, ohne zu wiſſen, wohin die Reiſe geht, wo ich das Licht des Tages wieder erblicken werde und wie es mir möglich werden wird, unbemerkt dem Schiff zu entfliehen! Ich ſuchte mir einen Plan zu machen — aber wo würde ich mich dann befinden? Der Zeit nach zu ſchließen, mußten wir ſechs- bis ſiebentauſend Kilometer zurückgelegt haben. Ich konnte in Alexandria ſein oder in New-Orleans, ebenſogut auch in der Sahara oder in China. Wie ſollte ich dann weiterkommen, falls ich den Martiern entfliehen konnte? Ich mußte alles vom Augenblick abhängig machen. Endlich verſtummte das Geräuſch der Fahrt, ich fühlte den Landungsſtoß, das Schiff ruhte. Es kam nun darauf an, ob es die Martier verlaſſen würden. Wenn ich wenigſtens gewußt hätte, ob es Tag oder Nacht war. Aber das hing ja ganz davon ab, nach welcher Himmelsrichtung wir gefahren waren. Aus der Landung ſelbſt konnte ich nichts ſchließen, da ich nichts von der Beſtimmung des Schiffes wußte, für welche ebenſogut die Nacht als der Tag die paſſende Ankunftszeit ſein konnte, je nach den Abſichten der Martier. Noch eine Stunde vielleicht hörte ich über mir Tritte und Stimmen, dann wurde es ſtill. Ich ſchlich aus meinem Verſteck nach der Drehtür. Geräuſchlos öffnete ſich eine Spalte. Es war Nacht! Denn nur ein ganz ſchwaches Fluoreszenzlicht ſchimmerte durch das Innere des Schiffes. Man hatte alſo Grund, nach außen hin kein Licht zu zeigen, man wollte nicht bemerkt ſein. Nun öffnete ich die Drehtür vollends und ſpähte in den Raum. Die Martier lagen in ihren Hängematten und ſchliefen. Wachen befanden ſich jedenfalls außerhalb des Schiffes, aber nach innen konnten ſie nicht gut blicken und hatten auch dort nichts zu ſuchen. Ich konnte alſo ohne Bedenken aus dem untern Raum herausſteigen und zwiſchen den Hängematten nach dem Ausgang ſchreiten; ſelbſt wenn mich jemand hier bemerkte, hätte er mich doch für einen von der Beſatzung gehalten. So gelangte ich ungefährdet bis an die Treppe, die aufs Verdeck und von dort ins Freie führte. Die Luke ſtand offen, aber auf der oberſten Stufe der Treppe ſaß ein Martier, der, von ſeinem Helm gegen die Schwere geſchützt, nach außen hin Wache hielt. An ihm mußte ich vorüber. Ich ſtieg möglichſt unbefangen und ohne mein Nahen verbergen zu wollen die Stufen hinauf und drängte mich an ihm vorüber, indem ich die gebückte Haltung der Martier ohne Schwereſchirm annahm. Ich hatte keine andre Wahl, durch Liſt hätte ich nichts erreicht. So ſtand ich ſchon auf dem Verdeck, als der Martier mich anrief, wo ich hinwollte. Ich antwortete nicht, ſondern ſuchte nur nach der abwärts führenden Treppe. Sie war aber eingezogen. Da faßte der Wächter mich an und rief: ‚Das iſt ja ein Bat. Was willſt du?‘ Zugleich drückte er die Alarmglocke. Was im nächſten Augenblick geſchah, weiß ich nicht mehr deutlich. Ich höre nur einen Schmerzensſchrei, den der Martier ausſtieß, als er, von meinem Fauſtſchlag gegen die Stirn getroffen, die Treppe hinabſtürzte. Ich ſelbſt fühle mich das gewölbte Dach des Schiffes hinabgleiten, doch ich komme auf die Füße und laufe auf gut Glück vom Schiff fort, ſo ſchnell meine Beine mich tragen wollen. Die Nacht war klar, aber nur vom Sternenlicht erhellt. Der Boden ſenkte ſich, denn das Luftſchiff war, wie nicht anders zu erwarten, auf einem Hügel gelandet. Eine endloſe Ebene ſchien ſich vor mir auszudehnen; ich fühlte kurzes Gras unter mir. Als ich es wagte, mich einen Augenblick rückwärts zu wenden, bemerkte ich, daß hinter mir ſich eine Hügellandſchaft befand, die zu einem ſchneebedeckten Gebirge aufſtieg. Ich hoffte, irgendwo ein Verſteck zu finden, das mich vor den erſten Nachforſchungen der Martier verbarg, um mich dann im Lauf der Nacht noch möglichſt weit zu entfernen und bei den unbekannten Bewohnern des Landes Schutz zu ſuchen. Da plötzlich tauchte, wie aus der Erde geſtiegen, eine Reihe dunkler Geſtalten vor mir auf, die ſich ſofort auf mich ſtürzten und mich niederwarfen. Ich ſah Meſſer vor meinen Augen blitzen und glaubte mich verloren. In dieſem furchtbaren Augenblick wurde die Nacht mit einem Schlag zum Tag. Das Marsſchiff hatte ſeine Scheinwerfer erglühen laſſen. Wie eine Sonne in blendendem Licht ſtrahlend erhob es ſich langſam in die Luft, jedenfalls um mich zu ſuchen. Dieſer Anblick verſetzte die Eingeborenen, die mich überfallen hatten, in einen unbeſchreiblichen Schrecken. Zunächſt warfen ſie ſich auf den Boden, dann krochen ſie, ohne ſich um mich zu kümmern, auf dieſem fort und waren in wenigen Augenblicken ebenſo plötzlich verſchwunden, wie ſie gekommen waren. Ich war frei. Aber was ſollte ich tun? Wenn ich hier blieb, ſo mußte ich in wenigen Minuten von den Martiern entdeckt werden. Ich ſagte mir, daß ſich dort, wo die Eingeborenen verſchwunden waren, auch ein Verſteck für mich finden würde. In der Tat, wenige Schritte vor mir zog eine trockene Erdſpalte quer durch die Steppe. Ich ſtieg hinab und ſchmiegte mich in den tiefen Schatten eines Riſſes. Von oben konnte ich hier nicht geſehen werden. Die Martier hatten natürlich bald die Spalte bemerkt und ſchwebten langſam über derſelben hin, aber ich wurde nicht entdeckt. Noch mehrfach ſah ich das Licht aufleuchten, endlich verſchwand es. Auch von den Eingeborenen ſah ich nichts mehr. Etwa eine Stunde mochte ich ſo gelegen haben — es war unangenehm kalt —, als der erſte Schimmer der Dämmerung den Anbruch des Tages verkündete. Ich verzehrte den Reſt meines Proviants, und als es hell genug geworden war, lugte ich vorſichtig über die Ebene. Das Schiff mußte ſich entfernt haben, es war keine Spur mehr zu ſehen. Ich wanderte nun am Rande des Spaltes weiter. Nicht lange, ſo bemerkte ich, daß mir eine große Schar von Bewohnern des Landes entgegenkam. Ich blieb ſtehen und ſuchte durch Bewegungen der Arme meine friedlichen Abſichten verſtändlich zu machen. Erſt glaubte ich, das Schlimmſte befürchten zu müſſen, denn die Leute liefen unter lautem Geſchrei auf mich zu und ſchoſſen ihre langen Flinten ab, aber ſie zielten nicht auf mich. Bald erkannte ich, daß dies eine Freudenbezeugung ſein ſollte. Einige ältere Männer, offenbar die Anführer, traten an mich heran und verbeugten ſich mit allen Zeichen der Ehrfurcht. Dann kauerten ſie ſich im Halbkreis um mich nieder, und ich ſetzte mich ebenfalls auf den Boden. Allmählich verſtändigten wir uns durch Pantomimen, und ich folgte ihrer Einladung, ſie zu begleiten. Nach einer langen Wanderung erweiterte ſich die Spalte zu einem kleinen Tal, und hier fand ſich eine Niederlaſſung, wo ich mit allen Ehren eines angeſehenen Gaſtes aufgenommen wurde. Ich blieb einige Tage dort und wurde dann von meinen Gaſtfreunden nach Süden geleitet. Nach mehreren Tagereiſen erreichten wir eine ausgedehnte Stadt. Jetzt erſt wurde mir nach und nach klar, wo ich hingeraten war. Die Stadt war Lhaſa, die Hauptſtadt von Tibet, der Sitz des Dalai-Lama. Die Tibetaner waren durch die überirdiſche Erſcheinung des lichtſtrahlenden Luftſchiffes in ihrer Geſinnung völlig umgewandelt. Sie hielten mich für ein wunderbares Weſen, das in einem leuchtenden Wagen direkt vom Himmel gekommen war. Ich wurde auch in Lhaſa ſehr ehrenvoll aufgenommen, aber alle Bemühungen, von hier weiterzureiſen, waren vergebens. Man geſtattete nicht, daß ich mich aus der Stadt entferne. Und ſo war ich faſt ein Jahr in dieſer allen Fremden verſchloſſenen Stadt. Aber auch dies hatte ſchließlich ein Ende. Sie werden wahrſcheinlich wiſſen, daß die Martier jetzt auf dem Hochplateau von Tibet große Strahlungsfelder angelegt haben, um während des Sommers die Sonnenenergie zu ſammeln. Die Trockenheit des Klimas bei der hohen Lage von 5.000 Meter überm Meer ſagt ihrer Konſtitution am meiſten zu von allen Ländern der Erde. Das Schiff, mit welchem ich hingekommen war, ſtellte die erſten Nachforſchungen an, und bald hatten mehr und mehr Schiffe eine große Anzahl der Martier, vornehmlich die Bewohner ihrer Wüſten, die Beds, dahin gebracht. Die Tibetaner fühlten ſich dadurch beunruhigt und wandten ſich an die chineſiſche Regierung. Zugleich aber glaubten ſie, daß meine Anweſenheit, die ſie übrigens ſorgfältig geheimhielten, Urſache ſei, weshalb die wunderbaren Fremden durch die Luft in ihr Land kämen. So erhielt ich die Erlaubnis, mich einer Karawane anzuſchließen, die über den Himalaja nach Indien ging. Nach mannigfachen Abenteuern, mit denen ich Sie nicht aufhalten will, gelang es mir ſchließlich, mich bis nach Kalkutta durchzuſchlagen. Ich beſaß noch eine nicht unbedeutende Summe deutſchen Geldes, durch das ich mich hier wieder in einen europäiſchen Zuſtand verſetzen konnte. Indeſſen wagte ich nicht, mich bei den Behörden zu melden oder mich zu erkennen zu geben, da ich fürchtete, von den Martiern verfolgt zu werden. Aus den Zeitungen erſah ich, daß das Luftſchiff, welches von Kalkutta allwöchentlich nach London geht, in Teheran, Stambul, Wien und Leipzig anlegt. Von Leipzig benutzte ich den nächſten Zug nach Friedau. Und mein erſter Gang war hierher. Ich habe es vermieden, mit jemand zu ſprechen. Ich bin entſetzt über die Veränderung der Verhältniſſe. Nun ſagen Sie mir vor allem, was war unſer Schickſal im Krieg mit dem Mars?“ Grunthe hatte ohne eine Miene zu verziehen zugehört. Jetzt ſagte er bedächtig, ohne auf Torms letzte Frage zu achten: „Hatten Sie Ihren Chronometer und unſern Taſchenkalender mit?“ „Ja, aber —“ „So haben Sie doch wohl einige Ortsbeſtimmungen machen können? Ich meine nach dem Harzerſchen Fadenverfahren, mit bloßem Auge?“ Torm lächelte trüb. „Ich hatte freilich Zeit dazu“, ſagte er, „und habe es auch getan. Sie können ſie berechnen. Aber zuerſt —“ „Oh, entſchuldigen Sie“, unterbrach ihn Grunthe. „Sie wiſſen, ich bin ein ſehr unaufmerkſamer Wirt. Ich hätte ihnen doch zuerſt ein Abendeſſen anbieten ſollen. Allerdings habe ich nichts zu Hauſe, doch — wir könnten vielleicht —“ Seine Lippen zogen ſich zuſammen. Das Problem ſchien ihm ſehr ſchwer. „Ich danke herzlich“, ſagte Torm. „Ich habe gegeſſen und getrunken.“ „Um ſo beſſer“, rief Grunthe erleichtert. „Aber logieren werden Sie bei mir. Das läßt ſich machen.“ „Das nehme ich an, weil ich mich nicht gern hier in den Hotels ſehen laſſen möchte. Morgen fahre ich ja nach Berlin.“ „Wollen Sie denn nicht an Ihre Frau Gemahlin telegraphieren, daß Sie kommen? Ich habe die Adreſſe, da ich wegen der Abrechnungen — warten Sie, es muß hier ſtehen — ich kann unſern Burſchen nach der Poſt ſchicken.“ „Das iſt nicht nötig“, ſagte Torm. „Ich werde — doch die Adreſſe können Sie mir immerhin geben.“ Grunthe ſuchte unter ſeinen Büchern. „Ach, ſehen Sie“, ſagte er, „da finde ich doch noch etwas — im Frühjahr hat mich Saltner einmal beſucht — da ließ ich Wein holen, und hier iſt noch eine Flaſche. Gläſer habe ich von Ell. Sie müſſen da irgendwo ſtehen. Das trifft ſich gut — wiſſen Sie denn, was heute für ein Tag iſt? Der neunzehnte Auguſt. Heute vor zwei Jahren kamen wir am Nordpol an. Wie ſchade, daß Saltner nicht hier iſt, er könnte wieder ein Hoch ausbringen —“ Torm fuhr aus ſeinem Nachſinnen empor. „Erinnern Sie mich nicht daran“, ſagte er finſter. „Mit jener Stunde begann mein Unglück. Wie kam denn jener Flaſchenkorb —“ Er ſchlug mit der Hand auf den Tiſch und ſprang auf. Er unterbrach ſich und murmelte nur noch für ſich: „Ich ſtoße nicht mehr an.“ „Geben Sie nur die Gläſer her“, ſagte er darauf ruhiger. „Ja, wir wollen uns ſetzen. Und nun ſind Sie daran zu berichten.“ Grunthe blickte ſtarr vor ſich hin. „Wir ſind in der Gewalt der Nume“, begann er nach einer Pauſe. „Ganz Europa, außer Rußland. Wir beugen uns vor unſerm Herrn. Wir ſind Kinder geworden, die in die Schule geſchickt werden. Man hat ſogenannte Kultoren eingeſetzt über die verſchiedenen Sprachgebiete. Der größte Teil des Deutſchen Reichs, die deutſchen Teile von Öſterreich und der Schweiz ſtehen unter Ell. Man will uns erziehen, intellektuell und ethiſch. Die Abſicht iſt gut, aber undurchführbar. Das Ende wird entſetzlich ſein — wenn es nicht gelingt —, doch davon ſpäter.“ Grunthe ſchwieg. „Ich begreife noch nicht“, ſagte Torm, „wie war es möglich, daß wir in dieſe Abhängigkeit gerieten? Warum unterwarfen wir uns?“ „Entſchuldigen Sie mich“, antwortete Grunthe. „Ich bin nicht imſtande, von dieſen ſchmerzlichen Ereigniſſen zu ſprechen. Ich bringe es nicht über die Lippen. Laſſen wir es lieber. Ich werde Ihnen eine Zuſammenſtellung der Ereigniſſe in einer Broſchüre geben — hier ſind mehrere. Leſen Sie ſelbſt, für ſich allein. Sie werden auch müde ſein. Leſen Sie morgen früh. Reden wir von etwas anderm.“ Aber ſie redeten nicht. Der Wein blieb unberührt. Das Herz war beiden zu ſchwer. Einmal ſagte Grunthe vor ſich hin: „Es iſt nicht der Verluſt der politiſchen Macht für unſer Vaterland, der mich am meiſten ſchmerzt, ſo weh er mir tut. Schließlich müßte es zurückſtehen, wenn es beſſere Mittel gäbe, die Würde der Menſchheit zu verwirklichen. Was mir unmöglich macht, ohne die tiefſte Erregung von dieſen Dingen zu reden, iſt die demütigende Überzeugung, daß wir es eigentlich nicht beſſer verdienen. Haben wir es verſtanden, die Würde des Menſchen zu wahren? Haben nicht ſeit mehr als einem Menſchenalter alle Berufsklaſſen ihre politiſche Macht nur gebraucht, um ſich wirtſchaftliche Vorteile auf Koſten der andern zu verſchaffen? Haben wir gelernt, auf den eigenen Vorteil zu verzichten, wenn es die Gerechtigkeit verlangte? Haben die führenden Kreiſe ſittlichen Ernſt gezeigt, wenn es galt, das Geſetz auch ihrer Tradition entgegen durchzuführen? Haben ſie ihre Ehre geſucht in der abſoluten Achtung des Geſetzes, ſtatt in äußerlichen Formen? Haben wir unſern Gott im Herzen verehrt, ſtatt in Dogmen und konventionellen Kulten? Haben wir das Grundgeſetz aller Sittlichkeit gewahrt, daß der Menſch Selbſtzweck iſt und nicht bloß als Mittel gebraucht werden darf? Oh, das iſt es ja eben, daß die Nume in allem vollſtändig recht haben, was ſie lehren und an uns verachten, und daß wir doch als Menſchen es nicht von ihnen annehmen dürfen, weil wir nur frei werden können aus eigener Arbeit. Und ſo iſt es unſer tragiſches Schickſal, daß wir uns auflehnen müſſen gegen das Gute! Und es iſt das tragiſche Geſchick der Nume, daß ſie um des Guten willen ſchlecht werden müſſen!“ Er ſtand auf und trat an das Fenſter. „Es ſcheint ſich aufzuklären. Vielleicht kann ich noch eine Beobachtung machen. Wollen Sie mitkommen? Ich zeige Ihnen dabei Ihr Zimmer.“ Torm ergriff die Broſchüren und folgte ihm. 45. Das Unglück des Vaterlands