Kurd Laßwitz: Auf zwei Planeten 35. Die Rente des Mars „Es geht nicht, Saltner, es geht nicht!“ Ell legte den Brief in Saltners Hand zurück. Der kleine, verſchloſſene Umſchlag trug, von Ismas zierlicher Hand geſchrieben, die Adreſſe Torms. „Ich darf es nicht“, ſagte Ell noch einmal, als Saltner nicht antwortete. „Auch nicht, wenn Frau Torm Ihnen verſichert, daß der Brief keine politiſchen, keine auf die Operationen und Abſichten der Martier bezüglichen Mitteilungen enthält?“ „Auch dann nicht. Wir dürfen keinerlei Briefe von Erdbewohnern mit dieſem Schiff nach der Erde befördern, die dem Kommando nicht offen eingereicht werden. Frau Torm verlangt, Sie verlangen von mir, daß ich die Möglichkeit ſchaffe, dieſen Brief heimlich nach der Erde zu bringen. Sie verlangen etwas Unmögliches, den Ungehorſam gegen die Geſetze. Es iſt Kriegszuſtand; Sie verlangen von mir eine Handlung, die als Hochverrat aufgefaßt werden kann. Und dann wollen Sie mir zürnen, wenn ich ein für allemal ablehne? Und Frau Torm iſt darüber ſo entrüſtet, daß ſie mich nicht ſehen, nicht ſprechen will? Daß ſie ſich Ihrer Perſon bedient, um mir ihren Wunſch noch einmal vorzutragen? Sie hat ja doch an ihren Mann offen geſchrieben, ein ganzes Buch. Der Brief liegt bereits hier, mit der Genehmigung des Kommandos verſehen. Es ſteht alles darin, was ſie ihm mitzuteilen hat, daß ſie in der Sorge um ihn mit meiner Hilfe das Luftſchiff benutzt hat, daß ſie verhindert war, zurückzukehren, daß ſie ſich ſehnt, ſobald es ihr geſtattet wird, zurückzukommen — was will ſie mehr? Was hat ſie dem Mann noch zu ſchreiben?“ „Das iſt ihr perſönliches Geheimnis. Wenn Frau Torm es Ihnen nicht mitteilen kann, wie ſoll ich es wiſſen? Übrigens weiß ſie nichts von dieſem Verſuch meinerſeits, auf Sie einzuwirken. Sie hatte mich nur gebeten, La um Hilfe anzugehen.“ „La? Wie käme La dazu?“ „Sie hatte Grunthe einige areographiſche Angaben und Aufklärung über verſchiedene techniſche Fragen verſprochen — ein kleines Paket, das den Brief ſehr gut aufnehmen kann.“ „Und La hat dieſen Betrug natürlich von ſich gewieſen?“ „Ich habe ſie noch gar nicht gefragt. Zunächſt bin ich ja den Tag über von Pontius zu Pilatus gelaufen, um eine amtliche Erlaubnis zu erhalten, dann habe ich La nicht angetroffen, als ich mit ihr ſprechen wollte. Ich mußte nun zunächſt mit Ihnen als Freund und Menſch reden. Ich ſehe jetzt, daß es vergeblich wäre. Sie würden dieſen Brief an Torm von mir nicht befördern? Auch nicht einen an meine Mutter?“ Ell ſchüttelte den Kopf. „Sie haben an beide ſchon geſchrieben.“ „Aber offen. Es gibt Dinge, die man nicht vor andern ſagen will. Wo bleibt die gerühmte Freiheit, die verſprochene Freiheit, wenn man uns jetzt das perſönliche Eigenrecht der Ausſprache abſchneidet?“ „Sie müſſen bedenken, daß dies nur bis zu dem Augenblick geſchieht, in welchem unſer Verhältnis zur Erde ſich geklärt hat. Das iſt eine Ausnahme. Es iſt ein Unglück, denn es iſt allerdings ein Vergehen gegen die ſittliche Grundlage, gegen die perſönliche Freiheit. Aber ſittliche Konflikte ſind ein allgemeines Unglück, ſie laſſen ſich nicht vermeiden. Die höhere Pflicht, die Ordnung zwiſchen den Planeten, erfordert dieſen Verzicht des einzelnen auf ſeine Freiheit. Und im Grunde genommen iſt es doch nur der Ausdruck individueller Gefühle, der eine Beſchränkung erleidet.“ „Sie geſchieht aber bloß aus einem Mißtrauen der Martier gegen die Menſchen.“ Ell ſah Saltner durchdringend an. „Geben Sie mir Ihr Ehrenwort“, fragte er, „daß in Ihren Briefen nichts über unſre Maßnahmen ſteht?“ „Nein“, ſagte Saltner. „Und dann verlangen Sie von mir —“ „Ich verlange, was der Menſch vom Menſchen, der Deutſche vom Deutſchen verlangen kann, daß er ihm hilft, eines übermächtigen Gegners ſich zu erwehren —“ „Ich aber ſtehe auf der Seite dieſes ſogenannten Gegners, der im Grunde der beſte Freund iſt.“ „Dann haben wir uns nichts weiter zu ſagen. Ich wollte mich nur überzeugen, daß ich von Ihrer Seite für uns Menſchen nichts zu erwarten habe.“ „Sie wollen mich nicht verſtehen. Nur in Ihrem einſeitigen Intereſſe kann ich nichts tun, ſonſt aber werden Sie mich ſtets bereitfinden —“ „Leben Sie wohl.“ Saltner hörte nicht mehr auf Ells Worte. Er war ſchon auf den Gleitſtuhl getreten und löſte die Hemmung. Der Stuhl ſauſte die ſchraubenförmige Bahn um den Stamm des Rieſenbaumes hinab nach dem Erdboden. Das Geſpräch hatte auf der Plattform ſtattgefunden, welche einen der Rieſenbäume in der Nähe von Ells Wohnung umgab, dort, wo in einer Höhe von vierzig Meter über dem Boden die erſten Äſte anſetzten. Ein mechaniſcher Aufzug führte in einer Schraubenlinie rings um den Stamm und beförderte ebenſo leicht von unten nach oben als von oben nach unten. Dieſe geſchützten Plattformen boten einen äußerſt angenehmen Arbeitsplatz. Wie vom Chor eines Domes blickte man zwiſchen den Säulen der Baumſtämme hindurch, über die niedrigen Häuſer weit in die Anlagen. Die Luft war hier friſcher und kühler als unten. Ell trat an die Brüſtung vor und blickte hinab. Es begann zu dämmern. An den Straßen entlang leuchteten ſchon die breiten Streifen des Fluoreszenzlichtes, in den Häuſern glühten die Lampen. In tiefer Finſternis lag das Laubdach. Ell ſeufzte. Alſo auch er hatte ſich von ihm geſchieden, der biedere Saltner! Mochte es ſein! Was galt ihm das alles noch, da er ſie verloren hatte! Finſter zog ſich ſeine Stirn zuſammen. Das war der Dank, ihr Dank für alles — — Ismas Dank! Als ſie auf der Tafel des Retroſpektivs ihren Mann erkannt hatte, wie er aus dem Umiak der Eskimos nach dem Boot des engliſchen Schiffes winkte, da hatten ſie ihre Kräfte auf einen Augenblick verlaſſen. Auf einen Augenblick. Sie hatte ſich ſogleich wieder zuſammengerafft und mit fieberhafter Erregung die Vorgänge verfolgt. Man hatte geſehen, wie beide Boote der ‚Prevention‘ zuſteuerten, wie Torm an Bord des Kriegsſchiffes ſtieg, wie er dem Kapitän Papiere überreichte, die dieſer prüfte; man ſah, wie der Kapitän dann ſalutierte und Torm die Hand ſchüttelte, wie ſich die Offiziere um Torm verſammelten; man ſah, wie die Eskimos beſchenkt wurden und ihr Boot ſich entfernte; wie die ‚Prevention‘ ihre Fahrt nach Süden wieder aufnahm. Eine Stunde lang konnte man ſie verfolgen. Maſchine und Steuer waren offenbar nicht verletzt oder wieder repariert; das Schiff dampfte ſchnell und leicht vorwärts. Immer undeutlicher wurden die Umriſſe desſelben. Die Dämmerung brach herein. Bald konnte man nichts mehr unterſcheiden als die Lichter. Man ſtellte den Verſuch ein. Es war ſicher, daß das Schiff und Torm mit ihm in wenigen Wochen wohlbehalten London erreichen würden. — — Torm war gerettet. Er hatte ohne Zweifel jetzt ſchon die Nachricht von Ismas Verſchwinden. Man würde in Friedau dafür geſorgt haben, daß ihm dasſelbe unter dem Geſichtspunkt der Friedauer erſchien. Und ſie, die nicht ohne ihn in Friedau bleiben wollte, nun mußte ſie ihn allein laſſen — Isma verbrachte eine ſchlafloſe Nacht. Dann ſetzte ſie noch einmal alles in Bewegung, um ihre Mitnahme auf dem Raumſchiff nach der Erde zu erreichen. Es war unmöglich. Wenigſtens einen Brief ſollte man mitnehmen. Ja, aber nur einen offenen. Sie ſchrieb, doch das konnte ihr nicht genügen. Was ſie ihm zu ſagen hatte, das ging niemand andern an; das konnte ſie nicht leſen laſſen. Sie wußte, wie ſie ſchreiben müſſe und daß er ſie nur ſo verſtehen würde. Und dies wurde verſagt. Und hier ließ ſie Ell im Stich! Sie bat ihn flehentlich, ihren Brief zu beſorgen. Es ginge nicht! Sie bat ihn, ſelbſt die Reiſe zu machen, ihren Mann aufzuklären. Er weigerte ſich, er wolle jetzt nicht auf die Erde zurückkehren. Die Martier ſelbſt hätten es vielleicht gern geſehen, aber er könne ſich nicht entſchließen, jetzt den Mars zu verlaſſen. Warum nicht? Warum wollte er nicht? Um ſie, Isma, nicht allein zu laſſen? Sie glaubte es nicht, ſie vermutete einen anderen Grund, den ſie ihm nicht verzeihen konnte. Sie ſagte ihm Bitteres. Sie wollte ihn nicht wiederſehen. Und er ging. Natürlich! La würde ihn wohl tröſten — — Ell verſetzte ſich in Ismas Seele, er ſah deutlich, was in ihr vorging — alles dachte er wieder durch, während er in die Nacht hinausſtarrte — das Gefühl der Bitterkeit verließ ihn, er konnte ihr nicht zürnen. Nur traurig wurde er, tieftraurig. Aber er mußte es tragen. Er konnte nicht anders handeln, es war unmöglich. Stand ſie auf der Erde, ſo ſtand er auf dem Mars. Die Kluft überbrückte kein Raumſchiff. Und ſelbſt wenn die Planeten ſich verſöhnten — würde er ſie dann wiederfinden? Er preßte die Hände gegen die Stirn und ſeufzte tief. Und ſeltſam, mitten in den Kummer um Isma drängte ſich das Bild Las vor Ells Augen. Dieſer Verkehr war ſo beglückend, ſo frei von dem dunkeln Hintergrund irdiſcher Feſſeln! Das war Numenart, zu geben und zu nehmen! Die reizenden Stunden kamen ihm in den Sinn, in denen er ſich ſagen durfte, daß ſie ihn bevorzugte, und es ſchien ihm, daß deren immer mehr geworden ſeien. Und doch! Er mußte ſich geſtehen, wäre La ihm ſo geneigt, wie er hoffte, ſie hätte ſich ihm noch anders zeigen müſſen. Sie hatte ſich in der letzten Zeit ſichtlich von Saltner zurückgezogen, aber gerade darin ſchien ihm eine gewiſſe Abſichtlichkeit zu liegen. Er konnte das Gefühl nicht loswerden, daß La unter der gleichmäßigen Liebenswürdigkeit ihres Weſens eine heimliche Sorge barg, und er ſann nach, was ſie wohl bedrücken könne. Geſtern, als er bei ihr war, hatte er ſie überraſcht, wie ſie in Gedanken verſunken ſaß, und er glaubte die heimlichen Spuren von Tränen in ihrem Auge geſehen zu haben. Aber auf ſeine warmen Worte erwiderte ſie mit Scherzen, es war, als wollte ſie nicht verſtehen, was ſie doch längſt wußte, wie er für ſie fühle. Zum erſtenmal war er fortgegangen, ohne ſie recht verſtanden zu haben. Und jetzt war Saltner auf dem Weg zu ihr. Es war ja nicht daran zu denken, daß ſie auf ſeine Bitte eingehen würde — Überhaupt — Ell fiel es plötzlich ein — vielleicht war ſie gar nicht in Kla. La hatte mehrfach davon geſprochen, daß ſie möglicherweiſe verreiſen würde, und Saltner hatte ſie heute vergebens zu ſprechen verſucht. — Er wollte ſich doch überzeugen, ob La zu Hauſe ſei. Auch die Plattform war mit dem Haus telephoniſch verbunden. Er ſprach La an. Sie war zu Hauſe, aber in großer Eile, wie ſie ſagte. Ell teilte ihr mit, daß Saltner bei ihr vorſprechen werde mit einem Anſinnen, das unmöglich zu erfüllen ſei — darauf keine Antwort, trotz ſeiner wiederholten Frage. Endlich die Worte, wie mit gezwungener Stimme: „Befürchten Sie nichts. Leben Sie wohl.“ — Nichts, nichts weiter! Ell wußte nicht, was er davon denken ſollte. Er trat zurück an den Tiſch, auf dem ſeine Papiere lagen, und ließ die Lampe aufflammen. Er wollte verſuchen, in der Arbeit zu vergeſſen, und verſenkte ſich in das Studium des Etats der Marsſtaaten. Die 154 Staaten, welche den Planetenbund des Mars bildeten, waren an Einwohnerzahl ſehr ſtark verſchieden; es gab darunter Reiche, die bis gegen hundert Millionen Einwohner zählten, und kleine Staaten, die nicht einmal die Zahl von einer Million erreichten; der kleinſte von ihnen umfaßte nur zwanzig Bezirke mit zuſammen 800.000 Einwohnern. Ebenſo mannigfaltig wie die Größen waren die Verfaſſungen der Einzelſtaaten. Die republikaniſchen Staatsformen herrſchten vor, aber auch unter ihnen gab es eine bunte Muſterkarte von kommuniſtiſchen, ſozialiſtiſchen, demokratiſchen und ariſtokratiſchen Verfaſſungen. Die Monarchien waren beſonders unter den kleineren Staaten vertreten. Ganz wie es die hiſtoriſche Entwicklung der lokalen Verhältniſſe mit ſich gebracht hatte, waren auch in dieſen die Verfaſſungen ſehr mannigfaltig; im ganzen unterſchieden ſie ſich von den republikaniſchen nur dadurch, daß das Staatsoberhaupt nicht durch Wahl, ſondern durch Erbfolge beſtimmt war und ſich eines größeren Einkommens und einer glänzenderen Hofhaltung als die Präſidenten erfreute. Einen höheren politiſchen Einfluß beſaßen die Fürſten des Mars nicht, ſie hatten vornehmlich eine äſthetiſche Bedeutung. Die reiche Entwicklung, welche die Verfeinerung des Lebens durch die Hofhaltung eines intelligenten Fürſten erfahren konnte, und der Einfluß, den eine hochſinnige Perſönlichkeit hier zu entfalten vermochte, ſollte auch auf dem Mars nicht verlorengehen. Die individualiſtiſchen Neigungen der Martier konnten daher nach jeder Richtung hin Befriedigung finden, und dem Ehrgeiz wie dem Unabhängigkeitsgefühl eines jeden war freier Spielraum gelaſſen. Zwiſchen allen Staaten herrſchte, durch das Bundesgeſetz garantiert, vollſtändige Freizügigkeit und Erwerbsfreiheit. Wem es in dem einen Staat nicht gefiel, transportierte ſein Haus in einen andern, und es genügte, daß er dies bei der betreffenden Behörde anmeldete. Dadurch war eine natürliche Regulierung dafür gegeben, daß kein Staat ſeine Machtbefugnis mißbrauchte, denn er riskierte ſonſt, ſehr bald ſeine Einwohner zu verlieren. Die natürliche Verſchiedenheit der Individuen, ihre Gewohnheiten und ihre Anhänglichkeit für das Hergebrachte ſorgten andererſeits dafür, daß den einzelnen Staaten ihre Eigentümlichkeiten erhalten blieben und der Fluß der Bevölkerung nicht in Unbeſtändigkeit auſartete. Jede Gegend hatte ihre Vorzüge. Waren auch die wirtſchaftlichen Lebensbedingungen in den breiten, die Wüſten durchziehenden, durch künſtliche Bewäſſerung erhaltenen Kulturſtreifen etwas erſchwert, ſo boten dieſelben doch andere Vorteile. Die Gelegenheit zum gewerblichen Gewinn war hier wegen der Nähe der großen Energieſtrahlungsgebiete günſtiger, und ein reicherer Arbeitsertrag entſchädigte für die Störungen des äußeren Komforts, die dadurch entſtanden, daß bei eintretendem Waſſermangel die ſchützenden Bäume binnen wenigen Tagen ihr Laub verloren und die Vegetation unter ihnen vertrocknete. Dafür waren aber auch die hier gelegenen Staaten imſtande, größere Zuſchüſſe den Privaten zu gewähren. Gemeinſchaftlich für den geſamten Staatenbund und unmittelbar dem Zentralrat unterſtellt, der ſeinerſeits dem Bundesparlament verantwortlich blieb, war die techniſche Verwaltung. Sie ſchied ſich in die beiden großen Gebiete des Verkehrsweſens und des Bewäſſerungsweſens, wozu als drittes jetzt noch die Raumſchiffahrt gekommen war. Dieſe ungeheure Organiſation hielt die Bundesſtaaten als ein untrennbares Ganze zuſammen und machte es ebenſo unmöglich, daß ſich einzelne, ſelbſt mächtige Staaten, vom Zuſammenhang des Planeten ablöſen konnten, als ſich ein Organ des menſchlichen Körpers der Blutzirkulation zu entziehen vermag. Unterhalten wurde der Rieſenbetrieb durch ein ſtehendes Arbeitsheer von ſechzig Millionen Perſonen — ‚Mann‘ kann man nicht gut ſagen, denn die allgemeine einjährige Dienſtpflicht galt für beide Geſchlechter. Für beſondere Fälle ſtand eine dreifache Reſerve zur Verfügung. Finanziert wurde der Betrieb durch die Sonne ſelbſt. Der Geſamtetat der Marsſtaaten betrug — nach deutſchem Geld gerechnet für das Erdenjahr, alſo für ein halbes Marsjahr — 300 Billionen, das ſind 300.000 Milliarden Mark, alſo 100.000 Mark auf den Kopf der Bevölkerung. Dabei hatte aber niemand eine Steuer, außer der perſönlichen Dienſtleiſtung während eines Lebensjahres, beizutragen. Das Privateinkommen der Martier belief ſich außerdem im Durchſchnitt pro Kopf der Bevölkerung auf 100.000 Mark, ſchwankte jedoch für den einzelnen zwiſchen dem Maximum des zuläſſigen Einkommens von zwanzig Millionen und der Null. Die Beſteuerung des Einkommens der Privaten diente nur dazu, um jedem, der nichts verdiente, wenigſtens ein Minimum von Kapital pro Jahr zu ſichern, wodurch er ſich wieder heraufarbeiten konnte. Ein Notleiden aus Mangel an Nahrung, Wohnung und Kleidung konnte nicht eintreten, da hierfür durch öffentliche Verpflegungsanſtalten geſorgt war. Aber es war natürlich jedem daran gelegen, dieſer Armenpflege nicht anheimzufallen. Der Geſamtbetrag, der vom Staat und von den Privaten auf dem ganzen Planeten in einem halben Marsjahr eingenommen wurde, belief ſich alſo auf 600 Billionen Mark. Dies war jedoch nur die Hälfte deſſen, was bei völliger Ausnutzung aller Kräfte hätte erzielt werden können. Dieſe Summen erſchienen Ell ſo ungeheuerlich, daß er ſich damit beſchäftigte, ſie nachzuprüfen und ſich zu vergewiſſern, wie es möglich ſei, eine ſo koloſſale Rente zu erzielen. Ell hatte bei ſeinem erſten Verſuch, den Geldwert auf dem Mars mit dem auf der Erde zu vergleichen, ſeiner Umrechnung den Wärmewert der Kohle zugrunde gelegt; er führte nun die Rechnung noch einmal ſo durch, daß er als Vergleichseinheit die Pferdeſtärken nahm, welche durch die Sonnenſtrahlung pro Stunde als Arbeitseffekt erzielt werden konnten. Wenn er den gegenwärtigen Stand der Technik auf der Erde in Betracht zog, ſo glaubte er annehmen zu dürfen, daß ſelbſt unter den günſtigſten Verhältniſſen, bei Berückſichtigung der Anlagekoſten, die Pferdekraft in der Stunde nicht unter 0,8 Pfennig oder 1 Centime geliefert werden könne. Um nun den geringſten Wert der Sonnenrente für den Mars zu ermitteln, nahm er an, daß auch auf dem Mars nur die direkte Wärmeſtrahlung ſeitens der Sonne — nicht die anderen Wellengattungen — zur Arbeit verwertet werden. Er fand dann, daß im Lauf eines Erdenjahres die Sonnenſtrahlung dem Mars ſoviel Wärme zuführt, daß, wenn ſie vollſtändig in Arbeit übergeführt wurde, ihr Wert pro Quadratmeter der Oberfläche durchſchnittlich 30 Mark betragen würde. Die zur Beſtrahlung ausgenutzte Oberfläche des Mars beträgt aber rund hundert Billionen Quadratmeter, ſomit erhält der Mars eine Rente von 3.000 Billionen Mark. Von dieſem Strahlungsbetrag können jedoch nur etwa 40 Prozent wirklich in Arbeit verwandelt und ausgenutzt werden — bei dem Stand der Technik auf dem Mars —, ſo daß der Geſamtgewinn des Mars an Arbeit (im Laufe eines Erdenjahrs) 1.200 Billionen Mark beträgt. Tatſächlich benutzte man hiervon nur die Hälfte. Denn die Geſamteinnahme der Marsſtaaten betrug 300 Billionen, die der Privaten ebenſoviel. Es war alſo kein Zweifel, daß die Marsſtaaten über dieſe ungeheuren Mittel verfügten. Und dabei empfängt der Mars nur etwa ein Neuntel ſo viel Wärme von der Sonne wie die Erde. Wie weit alſo war die Erde zurück in der Ausnutzung der Mittel, die ihr von der Natur verliehen waren! Wieviel konnte ſie noch gewinnen, wenn ihr die Erfahrung der Martier zugute kam! Aufs neue fühlte ſich Ell in der Anſicht beſtärkt, daß gegenüber dem immenſen Fortſchritt, der hier für die Menſchheit in Frage ſtand, die Rückſicht auf die Neigung der gegenwärtigen Menſchheit, dieſes Geſchenk anzunehmen, zu ſchweigen hatte. Noch viel weniger aber durfte er ſich ſeinen Handlungen durch perſönliche Neigungen irre machen laſſen. Mochte man ihn als Überläufer, als Verräter an der Sache der Erde betrachten, mochte man Schmach und Verachtung auf ihn häufen — gleichviel! Er wußte, daß er zum beſten der Kultur überhaupt und ſo auch der Menſchheit handle, wenn er voll auf der Seite des Mars ſtand. Mochte er ſelbſt ſeine perſönlichen Freunde verlieren, er mußte es tragen. Einſt würden ſie gerechter über ihn urteilen. Und Isma! Er ſah den traurigen Blick der blauen Augen, er ſah das ſchmerzliche Zucken ihrer Lippen und das verächtliche Zurückwerfen des Kopfes —. Und noch einmal ſprang er empor und ſtarrte trüben Blickes in die dunkle Nacht. Dort drüben, wo der hellgrüne Schimmer des Straßenſtreifens ſich hinzog, da wohnte ſie. O könnte er hingehen und ſie rufen, wie damals, als das Luftſchiff auf ſie wartete, könnte er ſie wieder zur Erde zurückführen und dafür ihren dankbaren Blick erhalten! Doch es ging nicht. Sie durfte nicht fort, ſie konnte nicht, ſelbſt wenn er verſucht hätte, ſie fortzubringen. Aber er ſelbſt! Ihm ſtand es frei, er beſaß die Erlaubnis, mit nach der Erde zu gehen, er hatte die Vollmacht hier vor ſich, die er eben mit den übrigen Briefſchaften an Ill zurückſchicken wollte. In wenigen Tagen ging das Raumſchiff. Ill fuhr zu dieſem Zweck ſelbſt an die Polſtation, um der Abreiſe beizuwohnen. Er konnte mitreiſen. Er konnte ihr den Wunſch erfüllen, mit Torm ſelbſt zu ſprechen. — Nein doch, nein! Es war unmöglich. Würde ihm Torm glauben können, wenn er ohne Isma kam? Und in dieſe Verhältniſſe! Unter dieſen Umſtänden! Sich gewiſſermaßen entſchuldigen? Von allen Seiten beargwöhnt und angefeindet, würde er überhaupt jetzt etwas zur Verſöhnung beitragen können? Nein, wenn er überhaupt zur Erde zurückging, da konnte es nur ſein, wenn die Menſchen begriffen hatten, was die Nume ihnen bringen und wie ſie dieſelben aufzunehmen haben. Er wollte auf dem Mars bleiben, bis er zurückkehren konnte als ein Herr und Beglücker der Menſchen. Ell ſchloß die Papiere für Ill in die Mappe und fügte ſeinen Paß für das Raumſchiff hinzu. Er brauchte ihn nicht. 36. Saltners Reiſe