Kurd Laßwitz: Auf zwei Planeten 34. Das Retroſpektiv Die Rüſtungen der Martier für ihren Zug nach der Erde waren darauf berechnet geweſen, ſobald das Frühjahr für die Nordhalbkugel der Erde gekommen ſei, ſich gleichzeitig mit ihren Luftſchiffen über ſämtliche Hauptſtädte der einflußreicheren Staaten zu legen und die Regierungen zu zwingen, die vom Mars zu diktierenden Bedingungen ohne weiteres anzunehmen. Es ſollte dann unter einer Art Protektorat der Marsſtaaten den Erdbewohnern die Kultur der Martier zugänglich gemacht werden, und man wollte abwarten, in welcher Weiſe ſich die Marsſtaaten am beſten aus den alten und neuen Hilfsmitteln der Erde würden ſchadlos halten können. Jetzt auf einmal ſollte ſofort und unter veränderten Umſtänden eine Expedition abgeſandt werden. Man hatte die Erfahrung gemacht, daß die Erdbewohner vermutlich Widerſtand leiſten würden und daß ſie nicht ungefährliche Mittel der Verteidigung beſaßen. Man konnte nur wenige Luftſchiffe auf einmal nach der Erde tranſportieren und mußte darauf gefaßt ſein, ſtatt einfach ein Protektorat zu erklären, in einen Krieg mit England, vielleicht mit der ganzen Erde verwickelt zu werden. Daher hatte Ill alle Urſache, in ſeinen Entſchlüſſen und Handlungen ſich nicht zu überſtürzen. Je länger ſich die Aktion gegen England hinzog, um ſo eher konnte er hoffen, eine genügende Macht auf der Erde zu verſammeln, um nach dem urſprünglichen Plan eine Beſetzung aller Kulturſtaaten ſofort anzuſchließen. Da ſich die Planeten jetzt voneinander entfernten, nahm die Reiſe immer längere Zeit in Anſpruch. Wenn ſich die Abſendung des Raumſchiffs noch um einen Monat verzögerte, ſo mußte wenigſtens ein zweiter Monat ablaufen, ehe es nach der Erde gelangte. Aber auch dann wollte er nicht ſogleich vorgehen, ſondern zunächſt weitere Verſtärkungen abwarten. Etwa im Januar — nach irdiſcher Rechnung — hoffte er ſtark genug zu ſein, ſeinen Forderungen den nötigen Nachdruck zu geben. Ließen ſich nun die Verhandlungen mit England noch einige Zeit verſchleppen, ſo hatte ſich inzwiſchen die Raumſchifflotte auf der Außenſtation des Nordpols eingefunden, und Mitte März konnte man dort mit der Indienſtſtellung der Luftſchiffe beginnen. Ill hatte aber auch noch andere Gründe, die Abſendung des Raumſchiffs nach dem Südpol zu verzögern. Es hatte ſich ja gezeigt, daß die Luftſchiffe vor den Waffen der Erdbewohner keinen genügenden Schutz beſaßen. Einen ſolchen galt es erſt herzuſtellen. Wenn es gelang, die Luftſchiffe gegen Geſchoſſe jeder Art aus irdiſchen Geſchützen widerſtandsfähig zu machen, ſo war dadurch der Erfolg geſichert. Verſuche darüber konnten erſt jetzt angeſtellt werden, nachdem man die Wirkungsart der Repetiergewehre und der großen Marinegeſchütze kennengelernt hatte. Und in dieſer Hinſicht war man einer neuen Entdeckung von ganz erſtaunlicher Wirkung auf der Spur. Dieſes Argument ſchlug durch. Die oppoſitionellen Parteien im Parlament wie in der Preſſe beruhigten ſich darüber, daß die Abſendung der Expedition ſich verzögerte. Die Wichtigkeit der techniſchen Vervollkommnung der Luftſchiffe leuchtete ebenſo ein wie die Schuldloſigkeit der Regierung, daß dieſe Erfahrungen nicht früher gemacht werden konnten. Sobald es ſich überhaupt um die Löſung einer wichtigen techniſchen Aufgabe handelte, gab es keine Parteikämpfe mehr. Dann waren alle einig, und alles Intereſſe konzentrierte ſich darauf. Da war ein Ehrenpunkt für jeden Martier berührt, und das techniſche Problem drängte alle anderen Fragen in den Hintergrund. So kam es, daß die Hetze gegen die Erdbewohner und die zahlloſen Pläne über die Ausnutzung der Erde nach wenigen Wochen verſtummten und wieder eine ruhigere Auffaſſung Platz griff. Doch die Regierung ließ ſich dadurch nicht täuſchen. Es war kein Zweifel, daß ähnliche Geſinnungen wieder hervortreten würden, ja daß ſie ſich zu einem chauviniſtiſchen Übermut verdichten würden, ſobald es feſtſtand, daß die martiſchen Schiffe durch menſchliche Waffen unverletzbar ſeien. Die Gefahr lag vor, daß der Gegenſatz zwiſchen beiden Planeten dann zu einer Vergewaltigung der Erde führen, daß die Regierung zu kriegeriſchen Maßregeln gegen die ohnmächtigen Menſchen gedrängt werden könnte. Der Zentralrat war jedoch, in voller Übereinſtimmung mit Ill, feſt gewillt, dies zu vermeiden und die Würde der Numenheit in den Verhandlungen mit der Erde zu wahren, indem er die Übermacht der Martier nur benutzen wollte, Feindſeligkeiten der Menſchen ihrerſeits unmöglich zu machen und dadurch das friedliche Zuſammenwirken der Planeten zu erzielen. Es wurde daher verſucht, ein Geſetz durchzubringen, das von vornherein den Menſchen die Freiheit der Perſönlichkeit garantieren ſollte, indem es ſie als Vernunftweſen erklärte. Doch war eine ſtarke antibatiſche Oppoſition dagegen vorhanden, und auch die gemäßigteren Parteien erklärten, daß zuvor die Angelegenheit mit England geordnet ſein müſſe. Man beſtrebte ſich jetzt von ſeiten der Regierung wie der Philobaten — ſo überſetzte Ell die Bezeichnung der menſchenfreundlichen Richtung —, nach Möglichkeit beſſere Anſichten über die Erdbewohner zu verbreiten. Dahin gehörte auch die Aufklärung des Zwiſchenfalls mit dem engliſchen Kriegsſchiff. Namentlich war es für die beabſichtigten Unterhandlungen mit England wichtig und erforderlich, genau aus eigenen Quellen zu wiſſen, was am Cairn vorgegangen ſei, womöglich auch, was aus dem Kriegsſchiff geworden. Infolgedeſſen entſchloß ſich der Zentralrat, auf Antrag von Ill, einen Verſuch mit dem Retroſpektiv zu machen. Die Einſtellung des Apparates, um durch ihn ein beſtimmtes Ereignis in der Vergangenheit wieder zu erblicken, bedurfte einer längeren Vorbereitung. Es war ſchwierig, genau die Richtung zu ermitteln, in welcher die Achſe des Kegels von Gravitationsſtrahlen liegen mußte, den man ausſandte, um das zur Zeit des Ereigniſſes vom Planeten zurückgeſtrahlte Licht auf ſeinem Weg durch den Weltraum einzuholen und wieder zurückzubringen. Es kam dabei eine Menge von Einzelheiten in Betracht, welche mehrtägige theoretiſche Unterſuchungen und langwierige Rechnungen erforderten. Alsdann bedurfte es noch praktiſcher Verſuche, um die paſſendſte Einſtellung zu finden und zu korrigieren. Nachdem die zurückkehrenden Gravitationswellen wieder in Licht verwandelt worden waren und das optiſche Relais paſſiert hatten, erſchien endlich das Bild der aufgeſuchten Gegend in einem völlig verdunkelten Zimmer auf eine Tafel projiziert. Handelte es ſich nicht nur um eine Schauſtellung, ſondern um Konſtatierung von Tatſachen, ſo wurde das Bild, das ſich natürlich fortwährend veränderte, indem es den ganzen Verlauf des beobachteten Ereigniſſes darſtellte, durch eine ununterbrochene Folge von Momentphotographien fixiert, die ſpäter im Kinematograph wieder in ihrer lebendigen Folge betrachtet werden konnten. Die Schwierigkeiten des Verſuchs waren nun im vorliegenden Fall in noch viel höherem Grad als ſonſt vorhanden, da man ein Ereignis betrachten wollte, das ſich auf einem andern Planeten vollzogen hatte, und da man außerdem beabſichtigte, den Schauplatz, der Bewegung des Schiffes folgend, zu wechſeln. Es war das erſte Mal, daß man das Retroſpektiv auf einen ſo komplizierten Fall anwendete, und man durfte nicht erwarten, daß alle Teile des Verſuchs gleichmäßig oder überhaupt glücken würden. Das Experiment ſelbſt ſollte daher nicht öffentlich ſein. Es konnte nachträglich wiederholt werden, in jedem Fall gaben die bewegten Momentphotographien ein unwiderlegbares Protokoll über die Beobachtungen, das jedermann zugänglich gemacht werden konnte. * * * Isma verzeichnete in ihrem Tagebuch bereits den 18. Oktober. Sie mußte erſt einige Zeit in ihrem Gedächtnis nachrechnen, ehe ſie ſich des Datums vergewiſſerte, denn in den letzten Tagen hatte ſie keinerlei Aufzeichnungen gemacht. Sie fühlte ſich ſehr niedergeſchlagen. Zu ihren Beſorgniſſen kam eine körperliche Verſtimmung infolge der Veränderung ihrer Lebensverhältniſſe. Einige Tage hatte ihre Schwäche ſie ſo überwältigt, daß ſie ihr Zimmer nicht verlaſſen konnte. Ihre Gaſtfreunde waren in liebevollſter Weiſe um ſie beſorgt und hatten ſogar Hil den weiten Weg von ſeinem Wohnort nach Kla machen laſſen, um dieſen beſten Kenner der menſchlichen Konſtitution auf dem Mars zu Rate zu ziehen. Er hatte angeordnet, daß für Isma ein beſonderer Apparat gebaut werde, um die normalen Verhältniſſe der Erde in Schwere und Luftdruck für ſie herzuſtellen; und ſeitdem ſie ſich die Nacht über und einige Stunden des Tages in dieſem künſtlichen Erdklima aufhielt, hatte ſich ihr Zuſtand gebeſſert, und ihre Kräfte waren wieder geſtiegen. Obwohl ihre Gaſtfreunde und befreundete Familien derſelben, vor allem La, ſie in jeder Weiſe aufzuheitern ſuchten, obwohl ſie manchmal über Saltners harmloſe Spöttereien und die Schilderungen ſeiner Abenteuer auf dem Mars herzlich lachen mußte, zählte ſie doch ſehnſüchtig die Stunden, in denen Ell bei ihr erſchien. Er hatte ſie täglich aufgeſucht und während ihrer Erkrankung, ſo oft ihr Zuſtand es geſtattete, ſich durch den Fernſprecher mit ihr unterhalten. Sein Verhalten gegen ſie war ſtets unverändert freundſchaftlich und teilnehmend geblieben, ſie hatte keine der kleinen Aufmerkſamkeiten vermißt, mit denen er ſie ſeit Jahren verwöhnt hatte. Ihre Wünſche ſuchte er zu erraten, faſt nie kam er, ohne ihr irgend etwas mitzubringen, von dem er glaubte, daß es ſie intereſſieren würde — einen Artikel in den Zeitungen, eine Abbildung oder eine der tauſend unterhaltenden Neuigkeiten der Marsinduſtrie, und wenn er ſie erblickte, ruhten ſeine Augen mit der alten, zärtlichen Anhänglichkeit auf ihr. Sie hätte nicht ſagen können, worüber ſie ſich beklagen dürfte. Und dennoch — ſie konnte ſich eines ſchmerzlichen Gefühls nicht erwehren, als wäre eine Entfremdung zwiſchen ihr und dem Freund eingetreten. In ſeiner Anweſenheit verſchwand es, aber wenn er fort war, ſtellte es ſich wieder ein. Sie quälte ſich ſelbſt mit Grübeleien darüber, was ſie ihm vorzuwerfen habe. Warum konnte er ſo gar nichts darin durchſetzen, daß ihr die Erlaubnis erteilt werde, mit dem Raumſchiff nach dem Südpol der Erde abzureiſen? Ihre Bitte war von Ill mit Bedauern, aber entſchieden abgeſchlagen worden; die Verhältniſſe geſtatteten es nicht. Ell hatte ſich vergeblich für ſie verwandt; man hatte erklärt, ſo lange man ſich in einer Art feindſeligen Zuſtandes zur Erde befinde, ſei es nicht zuläſſig, daß einer der Erdbewohner entlaſſen werde. Aber als Ell einmal in ihrer Gegenwart ſeinem Oheim gegenüber aufs lebhafteſte für ihre Zurückſendung nach der Erde eingetreten war, hatte ſie ſich wieder durch den Eifer verletzt gefühlt, mit dem er bemüht war, ſie fortzuſchaffen. Und er wollte auf dem Mars bleiben. Es war gar keine Rede davon geweſen, daß er ſie begleite. Und jetzt wäre doch ſein Platz auf der Erde geweſen, jetzt hätte er zur Verſöhnung tätig ſein müſſen! Was hielt ihn auf dem Mars zurück? Sie glaubte, es wohl zu wiſſen. Warum ſprach er anfänglich ſo viel und mit ſolcher Wärme und Bewunderung von La? Und jetzt ſuchte er ihren Namen zu vermeiden. Was war zwiſchen ihn und Saltner getreten, daß ſie ſich ſo kühl und förmlich begegneten, wo ſie doch mehr als je auf ſich angewieſen waren? Und wenn Ell mit La bei ihr zuſammentraf, wie ſeltſam pflegte er ſie anzuſehen! Sie kannte dieſen Blick. Und warum ſprach er manchmal ſo ſchnell und eifrig zu La in ihrer Sprache, daß ſie der Unterhaltung nicht zu folgen vermochte? Sie mochte die beiden nicht zuſammen ſehen. Ein Gefühl der Kälte durchzog ihre Seele und machte ſie feindſelig und unwirſch gegen La wie gegen Ell. Es war ja nichts, das ſie ihnen vorwerfen konnte, und doch war ihr dieſer Verkehr unbehaglich und verſtimmte ſie. Wenn dann La gegangen war und Ell noch zurückblieb, wenn er dann mit derſelben Herzlichkeit zu ihr ſprach, die ſie eben auch La gegenüber in ſeinem Ton gehört zu haben glaubte, ſo ſtieg es wie Zorn in ihr auf, als wäre ihr etwas genommen, das ihr allein gebührte. Sie war dann unfreundlich gegen Ell, ſie machte ihm Vorwürfe, die ſie nicht verantworten konnte, und wenn er fort war, bereute ſie ihre Worte, ihre Blicke und ſchalt ſich undankbar und ſchlecht. Ach, ſie kannte auch dieſen Zuſtand, dieſes Gefühl der Unzufriedenheit. Und ſie konnte es doch nicht ändern. Es war jedesmal ſo geweſen, wenn Ell an einer anderen Gefallen gefunden hatte. Sie ſagte ſich ſelbſt, wie töricht ſie ſei. Sie hatte jedes Recht auf ihn aufgegeben, ſie hatte es zur Bedingung ihrer Freundſchaft erhoben, daß er ſich keine Hoffnungen mache, mehr von ihr zu beſitzen als dieſe Freundſchaft. Wie durfte ſie ihm verwehren, eine andere zu lieben, da ſie ſelbſt verzichtet hatte? Und doch, jedesmal, wenn dieſe Gefahr zu drohen ſchien, fühlte ſie ſich von Eiferſucht ergriffen, die ſie ſich nicht geſtehen wollte und die ſie doch ohne ihren Willen ihm durch ihr Benehmen eingeſtand. Warum auch mußte er ihr das jetzt antun, wo ſie fremd auf fremdem Planeten, eine Gefangene, krank und einſam weilen mußte, wo er der einzige war, der ſie verſtehen konnte? Warum mußte er jetzt —? Aber was warf ſie ihm denn vor? Warum war ſie ſelbſt nicht beſſer? Warum ſagte ſie ihm denn nicht, hier, frei von allen Menſchenſatzungen, daß ſie nicht ohne ihn ſein wolle, daß ſie ihn nicht entbehren wolle, nicht könne? Warum? Weil ſie ihn ja doch nicht lieben wollte! Und warum konnte ſie ſich nicht von ihm losreißen, da ſie doch ihren Mann liebte, da ſie ausgezogen war, ihn zu ſuchen in den Öden der Polarnacht, und da ſie zu ihm zurückwollte durch die Leere des Weltraums? Und wenn Torm nicht mehr war? Wenn ſie zurückkam nach Friedau und er verſchollen war, ein Opfer der Forſchung, wie ſo viele vor ihm? Wenn ſie dann verlaſſen war, hier wie dort? Sie ließ die Feder ſinken und legte den Kopf in ihre Hände. Ach, daß es kein Zeichen von ihm gab, keine Nachricht! Und daß ſie hier ſitzen mußte, nicht mehr Tauſende, ſondern Millionen von Meilen von ihm getrennt, und angewieſen auf den Freund, der um ihretwillen gegangen war, allein mit ihm — gerade alles, was ſie hatte vermeiden wollen! Gerade in dieſe Gefahr hatte ſie ſich geſtürzt, der ſie zu entfliehen gedachte. Und ſie ſah ſie vor ſich, leibhaftig, jeden Tag in den großen treuen Augen, die ſie teilnehmend anſahen —. Ach, darum quälte ſie ihn ja, quälte ſie ſich — Aber wäre es in Friedau beſſer geweſen, wenn ſie nun doch von ihrem Mann nichts erfahren konnte? Eines wenigſtens war ſie los, die fortwährenden Fragen, die teilnehmend ſein ſollten und doch ſo heuchleriſch waren, die hämiſchen Blicke, die widerwärtigen, kleinlichen, ſchamloſen Klatſchereien — — Aus ihrem Nachſinnen weckte ſie der Ton, der den Eintritt eines Beſuches durch das Gartentor meldete. Sie hörte den Wagen vor der Veranda halten. Das war Ells Stimme, er ſprach mit Ma. Isma ſtrich über ihr Haar, ſie warf einen Blick in den Spiegel und ärgerte ſich über ihre Erregung. Gleich darauf trat Ell ein. Sie ging ihm lächelnd entgegen. Er blickte ſie an. „Es geht Ihnen gut“, ſagte er freudig. „Sie ſehen wieder friſch und kräftig aus.“ Er hielt ihre Hände. In ihren Augen las er ihre Freude. Es war einer der Tage, an dem ſie nicht verbergen konnte, wie lieb er ihr war. „Ich weiß nicht“, ſagte ſie. „Es geht mir eigentlich gar nicht gut. Ich kann von meinen Gedanken nicht loskommen.“ „Dann kommen Sie mit mir, Isma. Sie ſollen etwas ſehen, worauf wir ſchon lange warten. Das Retroſpektiv iſt glücklich eingeſtellt — der Cairn iſt gefunden —“ „Ach, Ell! Noch einmal die ſchreckliche Geſchichte! Ich bin ja leider dabei geweſen. Soll ich ſie wirklich noch einmal ſehen?“ „Ich dachte, der Triumph der Technik würde Sie intereſſieren. In die Vergangenheit zu blicken —“ Isma wollte eine abweiſende Antwort geben. Aber ſie ſah, daß es Ell erfreuen würde, wenn ſie ihn begleitete. Sie wollte gut zu ihm ſein, ſie wollte ihm nichts abſchlagen. „Nun denn“, ſagte ſie, „wenn es Ihnen lieb iſt — kommen Sie. Es iſt doch etwas Neues in der Form, wenn auch nicht im Stoff. Ich habe aber ſchon vor einigen Tagen den Platz abgelehnt, den Ihr Oheim mir anzubieten die Güte hatte.“ „Ich habe noch einen für Sie reſerviert, allerdings etwas mehr im Hintergrund, wo La und Saltner ſitzen, und wer ſonſt Verbindungen mit der Erdkommiſſion hat. Sie wiſſen, es handelt ſich nur um einen Verſuch; außer dem Zentralrat, den Kommiſſionsmitgliedern und dem Präſidium des Parlaments ſind nur einige Vertreter der Preſſe da. Aber unſre Plätze ſind auch gut, und mit dieſem Glas, daß ich Ihnen mitgebracht habe, können Sie ſicherlich die einzelnen Perſonen erkennen — wenn wir ſie überhaupt zu Geſicht bekommen. Allerdings wird das Bild etwas aus der Vogelperſpektive erſcheinen, doch hat man den Neigungswinkel ſo günſtig genommen, als es die atmoſphäriſchen Verhältniſſe nur immer geſtatteten. Ich habe den ‚Steinmann‘ vor mir geſehen wie von einem niedrig ſchwebenden Luftſchiff aus.“ Isma ſchwieg ein Weilchen. Alſo La war natürlich auch da. Sie verdrängte den aufſteigenden Gedanken und ſagte: „Aber ich begreife nicht — wenn man ſo deutliche Bilder aus ſo rieſigen Entfernungen erzielen kann, warum betrachten Sie denn nicht die Erde direkt, warum können wir nicht einmal nach Friedau, nach unſerm Haus ſehen?“ „Mit Hilfe des Retroſpektivs ginge das wohl an, aber Sie können nicht verlangen, daß man dieſes äußerſt ſchwierige, zeitraubende und koſtſpielige Experiment anſtellt, um irgendeine Neugier zu befriedigen. Was ſollte Ihnen das nützen? Was wollte man damit erfahren? Und ſelbſt wenn eine Zeitung zufällig irgendwo aufgeſchlagen läge, mit neuen Nachrichten über die Verhältniſſe auf der Erde, und ſie erſchiene im Retroſpektiv, ſo geht die Deutlichkeit doch nicht ſo weit, daß wir ſie leſen könnten.“ „Und mit Ihren Fernrohren können Sie ſo genau nicht ſehen, daß Sie Menſchen auf der Erde erkennen könnten?“ „Das iſt unmöglich. Beim Fernrohr haben wir mit den Lichtwellen zu tun, da bekommen wir auf ſo rieſige Entfernungen keine erkennbaren Bilder von ſo kleinen Gegenſtänden. Das geht nur mit Hilfe der Gravitationswellen. Sie müſſen bedenken, daß es die Gravitationsſchwingungen ſind, durch welche wir die ganze, vom zu beobachtenden Ereignis ausgegangene Bewegung zurückbringen, und daß die Umwandlung in Licht erſt hier, innerhalb des Apparates, geſchieht. Da bilden ſich wieder dieſelben Schwingungen, wie ſie bei der Ausſendung waren, abgeſehen von den Störungen, die inzwiſchen durch äußere Verhältniſſe eingetreten ſind. Wenn zum Beiſpiel das Licht auf ſeinem Weg durch den Weltraum einen Meteorſchwarm paſſiert hatte, ſo erhalten wir kein deutliches Bild mehr. Fernrohr und Retroſpektiv verhalten ſich etwa wie ein Sprachrohr und ein Telephon. Direkt können Sie die Schallwellen nicht weit ſenden, mit dem Telephon aber können Sie ſprechen, ſo weit die elektriſchen Schwingungen reichen.“ Isma hatte ſich inzwiſchen zu ihrem Weg zurecht gemacht. Ill und ſeine Frau befanden ſich ſchon im Retroſpektiv-Gebäude. Eine halbe Stunde ſpäter hatten auch Isma und Ell ihre Plätze eingenommen. La und Saltner waren kurz zuvor gekommen. Der große Saal war vollſtändig verdunkelt, trotzdem konnte man ſich in ihm unſchwer zurechtfinden und die in der Nähe ſitzenden Anweſenden erkennen. Denn das erleuchtete Bild, von welchem das Licht im Saal ausging, nahm an der einen Wand einen Kreis von zehn Metern Durchmeſſer ein und erhellte dadurch die Umgebung. Es ſtellte die Gegend an der Küſte von Grinnell-Land dar, welche der Schauplatz des engliſch-martiſchen Konflikts geweſen war. Deutlich erkannte man ziemlich in der Mitte des Bildes die Gruppe der beiden engliſchen Matroſen, welche unter Leitung des Leutnants Prim mit der Errichtung des Cairns beſchäftigt waren. Es war überraſchend zu ſehen, wie die etwa ſpannenlangen Figuren ſich lebhaft durcheinander bewegten. Die Deutlichkeit des Bildes wechſelte, mitunter erſchien dieſe, dann jene Stelle etwas verſchwommen, mitunter verdunkelte ſich ein ganzer Streifen, im allgemeinen waren jedoch ſelbſt Einzelheiten deutlich zu erkennen. Mit ihrem Glas konnte ſich Isma die Geſtalten der Engländer ſo nahe bringen, daß ſie in dem Offizier denſelben Mann wiedererkannte, den ſie durch ihr Fernrohr auf dem Verdeck des Kriegsſchiffs geſehen hatte. Da man den Apparat auf ein und dieſelbe Stelle des Weltraums eingeſtellt hielt und nur nach der ſich verändernden Lage der beiden Planeten regulierte, ſo gab das Bild den Verlauf der Ereigniſſe in dem gleichen Zeitmaß wieder, wie er ſich in Wirklichkeit vollzogen hatte. Man befand ſich offenbar noch am Morgen, und wenn der ganze Tag in ſeinem Geſchehen verfolgt werden ſollte, ſo ſtand eine lange und ermüdende Sitzung in Ausſicht. Die eintönige Arbeit der Engländer begann ſchon etwas langweilig zu werden, und Saltner ſagte zu La: „Merkwürdig iſt ja die Geſchichte, und immerhin können die Herrn Nume hier ſchon ſehen, daß die Englishmen doch nicht ganz ſo wild ſind wie auf ihrem Theater. Aber läßt ſich denn die Sache nicht ein biſſel beſchleunigen?“ „Das geht allerdings“, antwortete Ell, der auf der andern Seite von La ſaß, „und man wird es wohl nachher auch tun. Man braucht nur den Apparat allmählich auf näher gelegene Stellen des Raumes zu richten, ſo fängt man die Lichtſtrahlen in immer früheren Zeitmomenten ab und bewirkt dadurch, daß alles viel ſchneller zu geſchehen ſcheint. Aber es treten dabei andere Schwierigkeiten auf. Und jetzt iſt es nicht möglich, weil jeden Augenblick der entſcheidende Moment eintreten kann. Wir müſſen uns alſo in Geduld faſſen.“ Es dauerte nicht mehr lange, ſo verſtummte die Unterhaltung, denn man ſah, wie der Leutnant den Cairn verließ und den benachbarten Hügel beſtieg. Man konnte auch erkennen, daß er mit dem Feldſtecher nach einer beſtimmten Richtung blickte. Es zeigten ſich nun alle die Ereigniſſe, wie ſie ſich abgeſpielt hatten. Unter lautloſer Spannung ſah man die Matroſen ſich entfernen, man ſah mit Hilfe einer kleinen Verſchiebung des Bildes, wie ſie verunglückten und von den Martiern gerettet wurden, man ſah den ganzen Konflikt ſich entwickeln — — Die Martier waren von dem Verſuch ſehr befriedigt, da ſich nun eine Erklärung des Mißverſtändniſſes ergab. Die Engländer hatten die Martier in der Tat für Feinde halten müſſen. Man verfolgte das Schickſal der Gefangenen, bis ſie auf dem Kriegsſchiff unter Deck gebracht worden waren. Es war nun nichts mehr zu beobachten, da man wußte, daß man die Gefangenen nicht wieder erblicken konnte bis zu dem Moment ihrer Auslieferung. Dieſe achtzehn Stunden hindurch den Lauf des Kriegsſchiffs und ſeinen Kampf mit dem Luftſchiff zu verfolgen, hatte kein Intereſſe für die vorliegende Frage. Dagegen wollte man gern wiſſen, was aus der ‚Prevention‘ nach ihrer Niederlage geworden ſei. Es war daher beſchloſſen worden, durch eine Umſtellung des Apparats dieſe ſpäter liegenden Ereigniſſe zu beobachten. Während der Vorbereitungen hierzu, die einige Stunden in Anſpruch nahmen, verließen die Zuſchauer den Saal. Isma erfuhr, daß erſt in den Abendſtunden die Fortſetzung des Verſuchs zu erwarten ſei. Saltner und Isma, ebenſo wie Ell, brauchten daher ihre gewöhnliche Tagesbeſchäftigung nicht abzuſagen, wie ſie urſprünglich beabſichtigt hatten. Dieſe beſtand darin, daß ſie auf Erſuchen der Regierung es übernommen hatten, täglich einige Stunden mit dazu ausgewählten höheren Beamten das Studium der wichtigſten europäiſchen Sprachen zu treiben. Außer dem Deutſchen hatte Ell den Unterricht im Engliſchen, Saltner im Italieniſchen und Isma im Franzöſiſchen übernommen, den ſie nur während ihrer Erkrankung einige Zeit hatte ausſetzen müſſen. Gegen Abend wurde Isma von Ell mit der Nachricht angeſprochen, daß der Apparat wieder eingeſtellt und das Kriegsſchiff aufgefunden ſei. Man räume eifrig auf demſelben auf, um die erlittenen Beſchädigungen zu beſeitigen, und es ſcheinen daß das Schiff ſeine Fahrt wieder aufnehmen wolle. Als Isma im Saal des Retroſpektivgebäudes erſchien, zeigte indeſſen das Bild nur einen Teil des Meeres und des felſigen Ufers; von einem Schiff war nichts zu ſehen. Sie hörte, daß es ſeinen Kurs nach Süden fortgeſetzt habe, dabei aber dem Geſichtskreis entſchwunden ſei. Infolge einer vorübergehenden Trübung war es noch nicht gelungen, das Schiff wieder aufzufinden. Jetzt war das Bild wieder hell, und in dem Bemühen, das engliſche Schiff zu entdecken, ließ man die Fläche der Bai und die Felſenufer vorüberziehen. Bald blickte man auf treibende Schollen, bald in Buchten und Fjorde hinein. Isma kam es vor, als befände ſie ſich wieder an Bord des Luftſchiffes und durchſpähte die Gegend, der ſie ſo ſchnell entzogen worden war, nach Spuren von Hugo — — Vielleicht war er gar nicht ſo weit von der Stelle entfernt, die ſie jetzt vor Augen hatte, vielleicht verdeckte nur jener Berggipfel das Lager der Eskimos, bei denen ihr Mann weilte! Und da — nein — ja doch — das war doch ein Boot, zwei, drei Boote, was dort in dem Kanal unter dem Ufer ſich bewegte — Isma ergriff krampfhaft Ells Arm. „Sehen Sie doch — ſehen Sie nicht dort —?“ „Wahrhaftig“, rief Ell, „es ſind Boote, Umiaks, ſogenannte Weiberboote der Eskimos. Sie ſcheinen mehrere Familien mit ihren Habſeligkeiten zu tragen. Man wird gewiß das Bild feſthalten —“ In der Tat ſtand die Landſchaft jetzt ſtill, man wollte die Boote betrachten, aber die Verſchiebung war doch ſo weit gegangen, daß ſie ſchon durch das höhere Ufer verdeckt waren. Dicht daneben zeigte das Bild das freie Waſſer der Bai, in welche der ſchmale Kanal mündete. Man erwartete, daß die Boote dort zum Vorſchein kommen müßten. Bis dahin wollten die Beobachter das freiere Fahrwaſſer der Umgegend abſuchen. Das Bild bewegte ſich wieder, man ſah nur Meer — und da — am Rand des Lichtkreiſes bewegte ſich etwas Dunkles — es war das Kriegsſchiff. Bis jetzt hatte man ein größeres Geſichtsfeld angewendet, um einen weiteren Umblick zu haben. Nun kam es darauf an, ſtärkere Vergrößerung zu gewinnen, dabei mußte ſich das Geſichtsfeld einſchränken. Man ſah jetzt, allerdings ſo deutlich, daß man die Stellung der Matroſen erkennen konnte, nur das Schiff und ſeine nächſte Umgebung; mit dem Glas konnte man den Kapitän und den Leutnant Prim erkennen, der ſeine Hände, wie zur Übung, langſam hin und her bewegte. Man bemerkte, daß eine Meldung gemacht wurde und ſich die Geſchwindigkeit des Schiffes, dem der Apparat mit wunderbarer Präziſion und nur geringen Schwankungen folgte, verringerte. Ein Boot wurde herniedergelaſſen. Die Ingenieure des Retroſpektivs waren zweifelhaft, ob ſie dem Boot folgen oder das Schiff im Auge behalten ſollten. Das erſtere wurde beſchloſſen, da das Boot ja jedenfalls zum Schiff zurückkehren mußte. Alsbald war nur noch das raſch rudernde, mit acht Matroſen bemannte Boot auf der Waſſerfläche zu ſehen. Da erſchien ein zweites Boot, ihm entgegenfahrend. Man winkte von dieſem aus. Die Fahrzeuge näherten ſich raſch, das fremde war jetzt deutlich als grönländiſcher Umiak zu erkennen. An der Spitze desſelben richtete ſich ein Mann empor und ſchwenkte ſeine Mütze — ein blonder Vollbart umrahmte das weiße Geſicht — er war kein Eskimo — „Hugo!“ gellte eine Stimme laut durch den Saal. Die Martier blickten erſtaunt auf, ſie wußten nicht, was das bedeute. „Es iſt Torm!“ rief Ell erklärend zu Ill hinüber, indem er die zuſammenſinkende Isma in ſeinem Arm auffing. 35. Die Rente des Mars