Kurd Laßwitz: Auf zwei Planeten 33. Fünfhundert Milliarden Steuern Eine Minute ſpäter trat Saltner ein. Seine Miene verzog ſich ein wenig enttäuſcht, als er Ell in lebhaftem Geſpräch mit La fand. Gleich nach der Begrüßung holte er ein Zeitungsblatt hervor. „Da“, ſagte er, „leſen Sie bitte. Wenn die Nume ſo ſind, weiß man wirklich nicht, ob man lachen ſoll oder ſich entrüſten. Zur Abwechslung werde ich mich einmal entrüſten. Es iſt —“ „Sal, Sal“, rief La lachend, „ſetzen Sie ſich, bitte, ruhig her, und dann wollen wir ſehen, ob wir nicht lieber lachen wollen.“ Sie faßte ſeine Hand und zog ihn an ihre Seite. „Der Streit der Planeten ſoll uns nichts anhaben“, ſagte ſie leiſe. Ell ergriff das Blatt und las: „Wie wir aus ſicherer Quelle erfahren, ſoll die Ausrüſtung des nach dem Südpol der Erde zu entſendenden Raumſchiffs weitere zwanzig bis dreißig Tage in Anſpruch nehmen. Man macht angeblich noch Verſuche, um die Luftſchiffe gegen etwaige Angriffe von Menſchen widerſtandsfähiger zu machen. Ja, es ſoll der Bau dieſer Schiffe überhaupt ſtark im Rückſtand ſein. Wir finden dieſe Verzögerung ſeitens der Erdkommiſſion unverantwortlich. Die Erregung gegen die Menſchen wächſt ſichtlich und mit vollem Recht. Man hat aus den Berichten der Augenzeugen erfahren, daß die Darſtellung jenes Zwiſchenfalls mit dem engliſchen Kriegsſchiff von der Regierung viel zu milde gefärbt war. Die den Numen angetane Schmach erfordert eine ſchnelle Beſtrafung der Schuldigen. Wozu überhaupt dieſe Umſtände mit dem Erdgeſindel?“ „Erdgeſindel! Hören Sie!“ rief Saltner, „Da ſoll doch gleich —“ Ein Händedruck Las hielt ihn auf ſeinem Platz. „Leſen Sie weiter“, ſagte ſie zu Ell. „Wir haben genaue Informationen über die Verhältniſſe auf der Erde eingezogen. Sie ſind geradezu haarſträubend. Von Gerechtigkeit, Ehrlichkeit, Freiheit haben dieſe Menſchen keine Ahnung. Sie zerfallen in eine Menge von Einzelſtaaten, die untereinander mit allen Mitteln um die Macht kämpfen. Darunter leidet die wirtſchaftliche Kraft dermaßen, daß viele Millionen im bedrückendſten Elend leben müſſen und die Ruhe nur durch rohe Gewalt aufrecht erhalten werden kann. Nichtsdeſtoweniger überbieten ſich die Menſchen in Schmeichelei und Unterwürfigkeit gegen die Machthaber. Jede Bevölkerungsklaſſe hetzt gegen die andere und ſucht ſie zu übervorteilen. Wer ſich mit der Wahrheit hervorwagt, wird von Staats wegen verurteilt oder von ſeinen Standesgenoſſen geächtet. Heuchelei iſt überall ſelbſtverſtändlich. Die Strafen ſind barbariſch, Freiheitsberaubung gilt noch als mild. Morde kommen alle Tage vor, Diebſtähle alle Stunden. Gegen die ſogenannten unziviliſierten Völker ſcheut man ſich nicht, nach Belieben Maſſengemetzel in Szene zu ſetzen. Doch genug hiervon! Und dieſe Bande ſollen wir als Vernunftweſen anerkennen? Wir meinen, es iſt unſre Pflicht, ſie ohne Zaudern zur Raiſon zu bringen durch die Mittel, die ihr allein verſtändlich ſind, durch Gewalt. Es ſind wilde Tiere, die wir zu bändigen haben. Denn ſie ſind um ſo gefährlicher, als ſie Spuren von Intelligenz beſitzen. Leider hat man ſich, wie es ſcheint, in der Regierung durch einzelne Exemplare dieſer Geſellſchaft täuſchen laſſen, und wir wollen nur hoffen, daß hierbei bloß ein Irrtum und nicht eine Rückſicht auf gewiſſe Beziehungen vorliegt —“ Ell unterbrach ſich. „Das iſt denn doch zu arg!“ rief er. „Das ſind Verdächtigungen, die man ſich nicht gefallen laſſen kann.“ „Meine Befürchtung!“ ſagte La. „Die Berührung mit den Menſchen bringt einen Ton in unſer Verhalten, wie er ſonſt im öffentlichen Leben nicht Sitte war. Nein, Ell, nein, meine lieben Freunde, Sie ſind gewiß nicht daran ſchuld; es liegt in der Sache ſelbſt — die antibatiſche Bewegung ſetzt eine Verrohung des Gemüts überhaupt voraus.“ Saltner rieb ſich ingrimmig die Hände. „Leſen Sie nur weiter“, ſagte er. „Jetzt haben Sie ſich entrüſtet, und ich werde wieder lachen.“ „Wir halten es für ſinnlos“, las Ell weiter, „daß zwiſchen Wilden wie den Erdbewohnern und zwiſchen Numen überhaupt eine Verbindung verwandtſchaftlicher Art ſtattfinden könne. Der Fall Ell bedarf entſchieden einer näheren Unterſuchung und Aufklärung. Wir haben dieſen angeblichen Halbnumen noch nicht geſehen. Aber ein richtiges Exemplar der Menſchheit hatten wir zu betrachten das zweifelhafte Vergnügen. Wer dieſes ſtupide Geſicht mit den blinzelnden Punkten, die Augen ſein ſollen, dieſen unanſtändigen, ungefärbten Anzug, dieſe rohen Bewegungen einmal geſehen hat, der wird ſich ſagen, dieſe Raſſe kann von uns nur als vielleicht nutzbares Haustier geduldet werden.“ Ell warf das Blatt fort. La brach in ein herzliches, leiſes Lachen aus, in das Saltner einſtimmte. Sie trat vor Saltner und nahm ſeinen Kopf zwiſchen ihre Hände. „Ich muß mir doch einmal unſer Haustierchen betrachten“, ſagte ſie luſtig. „Sie ſind wirklich ausgezeichnet geſchildert.“ Sie ſah in ſeine Augen, ihre Züge wurden ernſter, ihr Blick inniger und tiefer. „Mein lieber, braver Freund“, ſagte ſie. Sie bog ſeinen Kopf zurück und küßte ihn. Ell lächelte nun auch. „Wenn man ſo entſchädigt wird“, ſagte er, „muß man ja bedauern, nicht auch kräftiger geſchildert zu ſein. Aber Sie haben recht, man muß auf dieſes dumme Zeug keinen Wert legen. Trotzdem bin ich froh, daß man Frau Torm wenigſtens aus dem Spiel gelaſſen hat.“ „Es lohnt ſich natürlich nicht, ſich darüber zu ärgern“, ſagte Saltner, „nichtsdeſtoweniger kann das Geſchreibe Unheil anrichten.“ „Dazu iſt es doch zu dumm, das nimmt niemand ernſthaft. Man kennt das Blatt als unzuverläſſig.“ „Aber ich habe hier noch etwas anderes, das vielleicht politiſch nicht ohne Einfluß ſein dürfte. Ich hörte, daß ähnliche Anſichten nicht nur in weiten Kreiſen geteilt werden, ſondern ſogar im Zentralrat Anhänger beſitzen. Leſen Sie folgende Vorſchläge, die das neugegründete Blatt, die ‚Ba‘, macht.“ Ell nahm das Blatt und las: „Es iſt bezeichnend für unſre Regierung, die ſich 144 Luftſchiffe für die Erde bewilligen ließ, daß ſie jetzt im entſcheidenden Augenblick kein einziges bereit hat. Aber für die Staaten iſt es ein Glück. Die Begeiſterung der Kolonialſchwärmer hat Zeit, ſich abzukühlen, und dieſe Abkühlung ſchreitet ſchnell vorwärts. Es wird auffallend ſtill über unſre Brüder im Sonnenſyſtem, die wir mit der Liebe und Freiheit der Nume umſchließen ſollen. Und es iſt gut, daß wir zur Beſinnung kommen. Man glaube nur nicht, daß uns die Menſchen mit offenen Armen entgegenkommen werden. Unſer Stand wird nicht leicht ſein, und unſre Opfer werden ſich höher und höher ſteigern. Sowohl die Menſchenfreunde als die Antibaten unterſchätzen den Widerſtand, den wir zu erwarten haben. Deswegen ſollen wir von vornherein klar ſagen, was wir wollen, und dann rückſichtslos handeln, nicht auf ein Entgegenkommen rechnen, ſondern ohne weiteres unſere Bedingungen mit dem Telelyt und Repulſit diktieren. Es mag ſein, daß die Menſchen ſich zur Numenheit erziehen laſſen, und wir ſind die erſten, welche bereit ſind, ſie als Brüder anzuerkennen; aber dies wird uns nur möglich ſein, wenn ſie ſehen, daß jeder Widerſtand ausſichtslos iſt.“ „Es kommen nun einige Stellen“, ſagte Saltner, „die eigentlich nichts andres verlangen, als was die Regierung ſelbſt wollte, nämlich warten, bis die Martier überall zugleich losſchlagen können. Aber leſen Sie, bitte, die Vorſchläge hier unten.“ „Wir warnen davor, von der Erde zu viel zu erwarten. Wir werden ſie niemals beſiedeln können. Die Schwere und die Atmoſphäre machen uns den dauernden Aufenthalt unmöglich. Wir werden immer nur einzelne Stationen mit wechſelnder Beſatzung drüben erhalten können. Die Ausnutzung des Reichtums der Erde muß durch die Menſchen für uns geſchehen. Etwa in folgender Weiſe. Die Geſamtſtrahlung der Sonnenenergie auf die Erde beträgt —“ Ell unterbrach ſich. „Ja“, ſagte Saltner, „die Zahlen verſtehe ich nicht. Aber es wäre mir doch ganz intereſſant zu wiſſen, wie hoch uns die Herren Nume eigentlich einſchätzen.“ „Ich will ſie ſchnell umrechnen“, rief La. „Es iſt ganz leicht. Sie wiſſen, unſere Münzeinheit gründet ſich auf die Energiemenge, die von der Sonne während eines Jahres auf die Einheit der Fläche des Mars ausgeſtrahlt wird.“ „Gehört hab ich’s ſchon“, ſagte Saltner, „als man mir meinen ‚Energieſchwamm‘ ausgezahlt hat, aus dem ich alle Tage mein Taſchengeld abzapfe. Aber warum Sie ſo rechnen, das weiß ich nicht.“ „Es iſt das Einfachſte. Einen vergleichbaren Preis mit allen Kräften der Natur hat doch nur die Arbeit, eine gleichbleibende Arbeitsmenge können wir leicht mechaniſch definieren und herſtellen, und alle Arbeitskraft, die wir zur Verfügung haben, ſtammt von der Sonne. Wir fangen die geſamte Sonnenſtrahlung auf, benutzen ſie, um eine beſtimmte Menge Äther zu kondenſieren, und ſo beſitzen wir eine überall verwertbare Einheit der Arbeit. Die Sonnenſtrahlung haben wir mit der Erde gemeinſam, hier muß ſich alſo auch eine Vergleichbarkeit unſerer Währungen ergeben.“ „Verzeihen Sie“, unterbrach ſie Ell, „es beſteht dabei noch eine Schwierigkeit. Ich habe nämlich die Umrechnung ſchon gemacht, um ein Urteil über das Budget der Erde aufzuſtellen. Aber auf der Erde vermögen wir Menſchen nur einen ſehr beſchränkten Teil der Sonnenſtrahlung, eigentlich nur die Wärme zu verwerten, während Sie auf dem Mars auch die langwelligen und die kurzwelligen Strahlen, die gar nicht durch unſere Atmoſphäre gehen, in Wärme umwandeln und daher mitrechnen. Ich muß geſtehen, daß ich nicht weiß, wie groß dieſer Betrag iſt.“ „Das ſchlagen wir nach“, ſagte La. Sie hatte ſchon das phyſikaliſche Lexikon ergriffen. „Hier ſteht es. Wir können rechnen, daß die Ihnen bekannte Strahlung der Sonne etwa den zwölften Teil der von uns benutzten beträgt.“ „Dann iſt es ſehr einfach“, meinte Ell. „Die übrige Umrechnung habe ich ſchon früher für mich in Tabellen gebracht. Hier iſt ſie. Wir wollen alſo von den Angaben für den Mars nur ein Zwölftel rechnen. Dann kommt die Einheit der Sonnenſtrahlung auf dem Mars etwa gleich 500.000 Wärmeeinheiten auf der Erde, was ungefähr, ſoweit ſich der Kohlenpreis fixieren läßt, einem Wert von fünfzig Pfennig entſprechen dürfte. So — nun will ich Ihnen die Berechnungen gleich in Mark vorleſen —“ „Hören Sie“, warf Saltner ein, „der Wert einer Wärmeeinheit iſt doch aber ſehr ſchwankend, je nachdem —“ „Ganz gewiß, ich will auch nur zur Bequemlichkeit ſtatt einer Million Kalorien, was das genaue Maß des Arbeitswertes wäre, der Anſchaulichkeit wegen eine Mark ſagen; ein ungefähres Bild der Größenverhältniſſe gibt es doch. Nach meiner Umrechnung alſo lautet der Artikel weiter: ‚Die Geſamtſtrahlung der Sonnenenergie auf die Erde beträgt im Laufe eines Erdenjahres 3.000 Billionen Mark, wovon aber nur 1.200 bis auf die Erdoberfläche gelangen. Wir können indeſſen auf der Erde nur einen relativ viel kleineren Teil mit Strahlungsſammlern beſetzen als auf dem Mars, für den Anfang ſicher nicht mehr als ein Prozent. Das gibt eine Billion Mark, die wir durch dieſe Anlagen den Menſchen jährlich ſchenken. Allerdings müſſen ſie dafür arbeiten, aber die Arbeit wird ihnen reichlich bezahlt, wenn wir jährlich nur 500.000 Millionen Mark für uns als Steuer beanſpruchen. Sie werden ſich immer noch zehnmal beſſer ſtehen als bei ihren bisherigen Hilfsquellen, die ihnen außerdem noch zum großen Teil bleiben. Außer der Strahlungsenergie können wir uns noch Luft, Waſſer, kohlenſauren Kalk und andere Mineralien liefern laſſen. Wir müſſen nur die Lieferungen an Arbeit und Stoffen auf die einzelnen Staaten nach ihrer Bevölkerungszahl verteilen. Es wird ſich empfehlen, dies ſo zu tun, daß die einzelnen Marsſtaaten ſogleich die betreffenden Erdgebiete zugeteilt erhalten, an die ſie ſich zu halten haben. Eine Vorſchlagsliſte gedenken wir demnächſt zu veröffentlichen. Doch müſſen wir den Anſpruch unſeres Nachbarſtaates Berſeb, die geſamten Vereinigten Staaten von Nordamerika für ſich zu verlangen, ſchon heute zurückweiſen; wenn dieſe große Ländermaſſe nicht geteilt werden ſoll, ſo wäre jedenfalls unſer Hugal als der volkreichſte Marsſtaat am meiſten berechtigt.‘“ „Sackerment, das nenn ich beſcheiden“, ſagte Saltner nach einer Pauſe. „Fünfhundert Milliarden jährlich, ohne das übrige! Da haben Sie uns eine ſchöne Suppe eingebrockt, Meiſter Ell, mit Ihren berühmten Numen.“ „Ich bitte Sie, Saltner“, antwortete Ell ärgerlich, „erſtens ſind das vage Projekte, auf die nicht viel zu geben iſt; und zweitens, wenn der Mars Revenuen von der Erde zieht, ſo macht er ſich eben nur für das Kapital und die Arbeit bezahlt, die er für die Kultur der Erde aufwendet, die Menſchheit aber wird davon den größten Vorteil haben. An dieſer meiner Überzeugung können alle die Auswüchſe nichts ändern, die ſich natürlich im Anfang einer ſo gewaltigen Unternehmung in der Phantaſie unſerer Landsleute bilden. Sie müſſen ſich nicht wundern, daß ſelbſt den Numen der Gedanke zu Kopf ſteigt, durch die Erde auf einmal das Zehnfache derjenigen Energie zur Verfügung zu haben, welche die Sonne unſerm Planeten allein ſpendet. Denn daß die Martier über die Erde verfügen können, iſt doch nun nicht mehr zu leugnen.“ „Na, darüber ließe ſich doch noch Verſchiedenes ſagen. Ich würde den erſten martiſchen Satrapen, der mir meine Million Kalorien abknöpfen wollte, mir doch erſt ein wenig mit meinen Fäuſten betrachten. Darin ſind wir halt eigen.“ Ell zuckte die Achſeln. „Es wird Ihnen wenig nützen“, ſagte er. „Vielleicht doch“, entgegnete Saltner trocken, „wenn alle ſo dächten, oder wenigſtens viele. Es könnte nützen. Zunächſt denen, die etwa Luſt hätten, ſich auf die Seite der Martier zu ſtellen; die könnte es zur Beſinnung bringen, wenn ſie ſehen, wie ehrliche Menſchen über die Treue zum Vaterland denken. Und im Notfall mir ſelbſt. Denn beſſer iſt es, mit ein biſſel Repulſit ausgelöſcht zu werden, als unter die Fremdherrſchaft ſich beugen, und wenn ſie ſich noch ſo ſehr mit dem Namen der Freiheit ausſtaffiert. Aber wir wollen uns nicht erhitzen. Darf ich mir ein Pik nehmen?“ ſagte er zu La. „Wir wollen uns allerdings nicht erhitzen“, erwiderte Ell mit eiſiger Miene. „Darum ſollten Sie ſich ſelbſt etwas vorſichtiger ausdrücken. Man könnte auch auf dem Mars fragen, was ein jeder, der auf ſeiner Oberfläche wandelt, der Sache der Nume ſchuldig iſt. Und was den Begriff der Fremdherrſchaft anbetrifft, ſo kommt es doch ganz darauf an, was man als fremd anſieht. Die Staatsangehörigkeit jedes einzelnen würde unangetaſtet bleiben; wenn aber der Staat ſelber der Leitung einer höheren Vernunft unterliegt, ſo würde das für jeden Bürger nur eine größere bürgerliche Freiheit, einen weiteren Schritt zur Selbſtregierung bedeuten.“ „Die ſich in der Freiheit äußern würde, mehr Steuern zu zahlen. Oder meinen Sie vielleicht, man würde uns das Wahlrecht in den Marsſtaaten oder einen Sitz im Zentralrat gewähren? Man wird uns immer nur als die Handlanger betrachten, die man vielleicht anſtändig füttert und im übrigen nach Belieben gängelt. Aber ein Haustier bin ich nit und werd ich nit. Ich nit!“ „O ihr Blinden!“ rief Ell. „Seht ihr denn nicht, daß ihr nichts anderes ſeid als Sklaven, Sklaven der Natur, der Überlieferung, der Selbſtſucht und eurer eigenen Geſetze, und daß wir kommen, euch zu befreien, daß ihr nur frei werden könnt durch uns?“ „Ich glaub nicht an die Freiheit, die nicht aus eigner Kraft kommt.“ „Wir wollen ja nur dieſe eigne Kraft ſtärken. Und nun weigert ihr euch wie ein Kind, das Arznei nehmen ſoll.“ La hatte ſchweigend zugehört. Ell hatte ſie wiederholt angeblickt, als wollte er ſich ihrer Zuſtimmung verſichern, aber ihre Augen ruhten auf Saltner. Was er ſagte, war ihr aus dem Herzen geſprochen, ſie freute ſich des kräftigen Ausdrucks ſeiner einfachen, natürlichen Geſinnung, aber durch ihre Seele zog es ſchmerzlich. War es nicht eine verlorene Sache, für die er kämpfte? Das große Schickſal, das über die Planeten rollte, mußte es nicht dieſe trotzigen Erdenkinder zermalmen? Ell hatte doch recht, die Numenheit iſt die Vernunft, iſt die Freiheit, und ihr Sieg iſt gewiß, wie auch der edle Irrtum des einzelnen ſich ſträube. Und dennoch! Was iſt denn das Schickſal, wenn nicht die Feſtigkeit im ehrlichen Willen der Perſon? Was iſt denn die Freiheit, wenn nicht der Entſchluß, mit dem ein jeder nach ſeinem beſten Wiſſen und Gewiſſen handelt, was ihm auch geſchehe? Und welch höhere Freiheit konnten die Nume geben? „Nein, Ell“, ſagte La jetzt langſam, als Saltner auf Ells letzten Vergleich nicht antwortete, „nein — nicht wie ein Kind. Saltner hat wie ein Mann geſprochen. Ein Nume mag es beſſer verſtehen, aber beſſer wollen und fühlen kann man nicht. Und ich weiß, er wird auch ſo handeln.“ Sie reichte Saltner die Hand. Ihre dunklen Augen ſchimmerten feucht, als ſie ſagte: „Warum muß es denn zum Streit kommen? Laſſen Sie uns alles verſuchen, daß Nume und Menſchen Freunde werden. Es iſt ja doch nur notwendig, daß ſie ſich kennenlernen, ehrlich kennenlernen. Laſſen Sie uns den Irrtum, die Verleumdung bekämpfen, die ſich einzuſchleichen drohen. Noch iſt es vielleicht Zeit! Nicht wahr, auch Sie wollen es, Ell?“ „Was könnte ich Höheres wollen?“ erwiderte Ell warm. „Es war der Wunſch meines ganzen Lebens, die Verſöhnung, das Verſtändnis der Planeten herbeizuführen, ihre Kulturarbeit zu vereinen. Seit ich die Nume perſönlich kennengelernt habe, iſt mein Wunſch lebhafter als je. Daß die Nume die Überlegenen ſind, iſt eine Tatſache. Wenn es zum Kampf kommt, werden die Menſchen unterliegen, das folgt daraus. Daß ich trotzdem in dieſem Fall auf der Seite der Nume ſtehen würde, iſt ebenſo natürlich wie der entgegengeſetzte Standpunkt Saltners. Was ich nicht billige, iſt nur das Mißtrauen, mit dem die Menſchen uns begegnen, weil ſie von einem Teil der Martier von oben herab behandelt werden. Aber dieſe Zeitungen ſind doch nicht die Marsſtaaten. Ich hoffe wie Sie, daß die entgegengeſetzten Stimmen bald durchdringen werden. Hätte Saltner andere Blätter geleſen, er wäre ſicherlich weniger bitter geſtimmt.“ „Ich habe auch die andern geleſen“, ſagte Saltner, „den ganzen Vormittag habe ich mich mit den Zeitungen herumgeſchlagen. Leider haben ſie einen ſchweren Stand, zu beweiſen, daß die Menſchen anſtändige Leute ſind. Was ſie für uns ſagen können, das müſſen ihnen die Martier halt glauben. Aber was ſich gegen uns ſagen läßt, das haben ſie in einem einzelnen Fall geſehen. Daran ſind die ſakriſchen Engländer ſchuld. Aber auch die beiden vorlauten Matroſen vom Luftſchiff und ihre Helfershelfer, die die Sache im Theater aufgebauſcht haben. Dagegen müßte die Regierung mehr tun, als die bloße Berichtigung loslaſſen, die heute in den Zeitungen ſteht.“ „Es wird auch geſchehen“, ſagte Ell. „Ich will eben deshalb jetzt zu Ill, der geſtern in Erwägung zog, ob ſich nicht ermitteln laſſe, wie die Engländer dazu gekommen ſind, unſere Leute anzugreifen. Vielleicht lag nur ein Mißverſtändnis vor. Und wenn ſich das beweiſen ließe, wenn ſich außerdem zeigte, daß die Darſtellung im Theater und ſo weiter übertrieben iſt, ſo wird die Gerechtigkeit bei den Martiern ſiegen.“ „Wie wollen Sie das nachweiſen, da Sie keine andern Zeugen haben als die beiden Martier, von denen ich gar nicht behaupten will, daß ſie abſichtlich übertreiben, die aber in ihrer Bedrängnis nicht objektiv urteilen können?“ „Es käme darauf an zu ſehen, was an dem Cairn — an dem Steinmann, den die Engländer errichtet hatten — eigentlich vorging bis zu dem Augenblick, in welchem die Seeleute dem Offizier zur Hilfe kamen. Auch wäre es ſehr gut, wenn unſere Landsleute ſich durch den Augenſchein überzeugen könnten, wie europäiſche Matroſen und ein europäiſches Kriegsſchiff eigentlich ausſehen —“ „Das iſt wahr“, ſagte Saltner. „Am Ende ginge ihnen doch ein Licht auf, daß die Menſchen keine Wilden ſind, mit denen zu ſpaßen iſt. Aber wie ſollte ſo ein Nachweis möglich ſein über einen Vorgang, der in der Öde des Kennedy-Kanals vor Wochen ſtattgefunden hat?“ „Durch das Retroſpektiv.“ Saltner machte ein erſtauntes Geſicht. „Das iſt ein glücklicher Gedanke“, rief La. „Ich habe dabei gar keinen Gedanken“, ſagte Saltner kopfſchüttelnd. La erklärte das Verfahren. Saltner wurde wieder kleinlaut. Bedrückt ſetzte er ſich nieder und murmelte für ſich hin: „Medizin! Wir ſind ja doch arme Rothäute!“ Ell verabſchiedete ſich. „Wenn es noch zur Anwendung des Retroſpektivs kommt“, ſagte La, „dann müſſen Sie mir aber einen guten Platz verſchaffen.“ „Ich wäre glücklich, Ihnen gefällig ſein zu können.“ Ell ſprach es wärmer als gewöhnlich und ließ ſeinen Blick lange auf La ruhen, die ihn lächelnd anſah. Dann ging er. La wendete ſich zu Saltner. Sie faßte ſeine Arme und blickte ihn an. „Wie bin ich froh, daß ich dich hier habe, du geliebter Menſch!“ ſagte ſie. 34. Das Retroſpektiv