Isma und Ell ſtanden vor einem prachtvollen Portal, das die Aufſchrift trug: ‚Muſeum der ſchönen Künſte‘. Es führte auf eine kreisförmige Galerie, die eine mächtige Rotunde umſchloß. Der Blick öffnete ſich ſowohl nach unten wie nach oben. Man glaubte unten in das Gewühl des wirklichen Lebens zu blicken, in raſcher Veränderung, von den Seiten immer neu herandrängend, ſah man Geſtalten in ihren gewohnten Beſchäftigungen, in der Arbeit des Tages, andere mit dem Ausdruck des Leidens und den Mängeln der Wirklichkeit. Aber in der Mitte emporwallende Nebel umhüllten dieſe Figuren und hoben ſie langſam in die Höhe. Je höher ſie emporſtiegen, um ſo mehr verſchwand der Nebel und löſte ſich nach oben in immer helleres Licht auf. Die Geſtalten wechſelten ihren Ausdruck, ihre Blicke wurden frei, ihre Mienen verklärt, ſie waren zu Werken der Kunſt, zu reinen Formen geworden. Sie ſchienen zu ruhen, und doch ſtiegen immer neue Geſtalten auf, ohne daß jene Bilderwelt an der Kuppel der Wölbung zunahm oder ſich überfüllte. Es wär nicht möglich zu verfolgen, wie dieſer Übergang in die Höhe ſich vollzog, ein lebendiges Abbild des Myſteriums in der Seele des Künſtlers.
„Eine ſymboliſche Darſtellung des künſtleriſchen Schaffens“, ſagte Ell.
„Aber wo kommen dieſe Geſtalten her und wohin gehen ſie?“
„Das Ganze beruht auf einer optiſchen Täuſchung, und nach einigen Stunden würde man bemerken, daß dieſelben Gruppen wiederkehren. Aber die Illuſion iſt vollſtändig. Nun ſuchen Sie ſich eine dieſer Überſchriften aus.“
Sie umſchritten die Galerie. Die äußere Seite war ringsum von ſchmalen Türen umgeben, deren Aufſchriften die Abteilungen nannten, zu denen man durch jene gelangte. Aber jede Hauptgruppe hatte wieder eine große Zahl Unterabteilungen, die hiſtoriſch geordnet waren. Da zählte zum Beiſpiel bei der Malerei die ältere Malerei in der archaiſtiſchen Periode, das heißt vor Erfindung der ſelbſtleuchtenden Farben, allein 30 Abteilungen, die jede mehrere Jahrhunderte umfaßte; die agrariſche Periode zählte aus der Zeit der Handarbeit 315, aus der Zeit der Dampfkraft 56, der Elektrizität 212, der Energieſtrahlung 25 Abteilungen. Die neuere Malerei begann erſt ſeit der Erfindung der künſtlichen Darſtellung der Nahrungsmittel. Zwiſchen beiden lag eine Periode des Verfalls, die man den dreitauſendjährigen ſozialen Krieg nannte. Es war dies eine jetzt etwa 18.000 Jahre zurückliegende Zeit, in welcher ein allgemeiner Niedergang der Marskultur ſtattgefunden hatte. Sie war nämlich ausgefüllt durch furchtbare Kämpfe zwiſchen der ackerbautreibenden und der induſtriellen Bevölkerung. Durch die Darſtellung der Lebensmittel aus den Mineralien ohne Vermittlung der Pflanzen glaubte ſich die agrariſche Bevölkerung in ihrer Exiſtenz bedroht, obwohl ſie längſt nicht mehr den Bedarf an Lebensmitteln hatte decken können. Die Beſitzer des Grund und Bodens waren als Herren der Nahrungsmittel zu unumſchränkter Macht gelangt und wollten die Verbilligung der Volksernährung durch die neuen gewaltigen Fortſchritte der Wiſſenſchaft und induſtriellen Technik nicht dulden. Dieſer Kampf füllte faſt drei Jahrtauſende in wechſelnden Formen aus und endete erſt mit der Vernichtung der Macht der Ackerbauer und der Begründung der vereinigten Marsſtaaten. Während dieſer Zeit hatte die Kunſt keinerlei Förderung empfangen. Sie war erſt wieder aufgeblüht, als ſtatt der nüchternen Getreidefelder die anmutigen Wälder entſtanden waren und der Erwerb von Grund und Boden für den einzelnen auf ein mäßiges Maximum beſchränkt war.
Isma ging ratlos an der Reihe der Überſchriften entlang, die ihr Ell zu entziffern behilflich war. Sie ſchüttelte mutlos den Kopf.
„Das iſt mir zu viel und macht mich nur verwirrt. Suchen wir zunächſt etwas ganz Einfaches, das ich verſtehen kann. Was iſt denn hier hinter der Malerei für eine Kunſt?“
„Die Taſtkunſt.“
„Was iſt das?“
„Ich muß geſtehen, ich weiß es ſelbſt nicht recht.“
„Laſſen Sie uns ſehen.“
Ell öffnete die Tür. Sie führte in einen kleinen, mit zwei gepolſterten Bänken ausgeſtatteten Raum. Ell ſah jetzt erſt, daß ſich in demſelben ein Anſchlag befand: ‚Abgang alle zehn Minuten‘; eine Uhr zeigte, daß nur noch eine Minute zur Abgangszeit fehlte. Es war alſo nicht ein Zimmer, ſondern eine Art Omnibus, worin man ſich befand. Alle die Türen aus der Galerie führten in ſolche Coupés, die zu beſtimmten Zeiten die Inſaſſen nach den betreffenden Abteilungen des Muſeums beförderten. Denn die Anlagen waren zu ausgedehnt, um ſie zu Fuß zu erreichen und ſich bis dahin zurechtzufinden. Die Tür öffnete ſich jetzt noch einmal, und zwei Damen flogen förmlich in den Raum. Gleich darauf ſetzte ſich der Wagen in Bewegung.
Die ältere der beiden Damen ſchnappte nach Luft; ſie war eine ſehr korpulente Erſcheinung und nahm wenigſtens zwei Plätze des Sofas ein.
„Das war gerade die höchſte Zeit!“ rief ſie erhitzt und atemlos, indem ſie ein feines Tuch hervorzog und fortwährend zwiſchen ihren kurzen, dicken Fingern rieb. „Dieſe Wagen gehen ja nur alle zehn Minuten. Der Beſuch iſt ſo ſchwach! Ja, es iſt nur eine Kunſt für Auserwählte. Sie ſchwärmen auch dafür?“ wandte ſie ſich zu Isma. „Sie ſind Spitziſtin? Nicht wahr?“ ſagte ſie, indem ſie einen Blick auf Ismas ſchlanke und zarte Finger warf. „Ich bin natürlich Rundiſtin, aber das tut nichts. Sie wollen gewiß auch das neue Meiſterwerk taſten? Blu hat ſich wieder ſelbſt übertroffen! Das iſt das hohe Lied des Widerſtandes, die Sphärenmuſik des Hautſinns!“ Und ſie kniff die Augen ſchwärmeriſch zuſammen, daß ſie zwiſchen den Fettpolſtern ihrer Augenlider verſchwanden.
„Ich muß geſtehen“, ſagte Isma ſchüchtern, „ich bin noch ganz unerfahren in der Taſtkunſt. Ich weiß gar nicht —“
„Was? Wie? Sie wiſſen nicht?“ Sie betrachtete Isma näher. „Sie ſind wohl aus dem Norden von den Streifen, wenn ich fragen darf? Sie waren noch nie in Kla?“
„Nein, meine Heimat iſt fern von hier.“
„Aber Blu ſollten Sie doch kennen. Sie iſt doch die größte — neidlos geſtehe ich es, obwohl ich ſelbſt Künſtlerin bin. Und von allen Künſten iſt wieder die Taſtkunſt die höchſte. Auge, Ohr, Geruch, ſelbſt Geſchmack — was will das alles ſagen! Der Taſtſinn iſt doch der intimſte aller Sinne. Hier berühren wir die Dinge unmittelbar, ſie bleiben uns nicht in der Ferne. Und ſchmecken iſt ja eigentlich auch ein Taſten, nur ein unreines, geſtört durch Gerüche und durch Salziges, Saueres, Bitteres, Süßes — aber die Fingerſpitzen, die Handflächen, das ſind die wahren Schlüſſel zur Schönheit. Und hier im Taſten enthüllt ſich die Kunſt in ihrer höchſten Freiheit. Hier überwindet ſie am reinſten die Macht des Wirklichen, das vitale Intereſſe. Was wir ſehen, was wir hören, bleibt uns immer noch fern. Es iſt keine Kunſt, das ohne Verlangen zu betrachten, was wir doch nicht erreichen können. Aber die Gegenſtände in den Händen halten und doch nichts von ihnen zu wollen als das reine, freie Spiel des Wohlgefallens, das iſt echte Kunſt. Spielt nicht ein jeder unwillkürlich mit dem, was er zwiſchen den Fingern hält? Dies zur Kunſt zu erheben, das iſt das wahrhaft Geniale! Das Rauhe, Glatte, Scharfe, Spitzige, Runde, Nachgebende, Elaſtiſche, Harte, Kratzende, Kribblige — ohne Gedanken, ohne Wünſche —, das iſt das wahrhaft Äſthetiſche. Eine Taſtſymphonie von Blu iſt für mich das Höchſte. Kommen Sie nur mit, ich werde ſie Ihnen zeigen.“
Isma blickte zu Ell hinüber.
„Ich fürchte“, ſagte er deutſch — es fiel auf dem Mars nicht auf, wenn man in Sprachen redete, die andere nicht verſtanden, da die meiſten Familien eigene Mundarten beſaßen —, „ich fürchte, das wird für uns nichts ſein. Wir ſind wohl zu wenig auf dieſen Kunſtgenuß vorbereitet.“
Die Dicke begann eben einen neuen Redeſtrom, als der Wagen hielt. Sie ſtürzte ſchleunigſt hinaus. Ihre Begleiterin, die ſtumm geblieben war, folgte ihr, und Isma und Ell taten das gleiche.
Man befand ſich in einem großen Saal, in welchem man nichts erblickte als zahlloſe Käſten verſchiedener Größe. Aufſchriften gaben Verfaſſer und Inhalt des Taſtkunſtwerkes an, das ſie enthielten. Vor einigen ſaßen Beſucher in ſtiller Andacht und hielten die Arme bis zum Ellenbogen in zwei Öffnungen der Käſten verſenkt.
Die beleibte Dame ſuchte nach ihrem Katalog eine beſtimmte Nummer. Vor dem betreffenden Kaſten angelangt, ſtreifte ſie die Ärmel auf und ſteckte die Arme zunächſt in ein Becken. Es war nicht mit Waſſer gefüllt, ſondern ein Luftſtrom führte ein fein verteiltes ätheriſches Öl gegen die Haut und bereitete durch dieſe Reinigung auf den nachfolgenden Kunſtgenuß vor. Alsdann brachte die Kunſtjüngerin durch einen Handgriff ein Uhrwerk in Gang, ſetzte ſich auf einen Stuhl vor dem Kaſten, ſteckte ihre Arme in die Öffnungen und verſank in Schwärmerei. Isma und Ell hatten ihr auf gut Glück an dem erſten beſten Kaſten, der unbeſetzt war, alles nachgeahmt. Aber nach wenigen Minuten zog Isma ihre Hände zurück.
„Wollen Sie noch bleiben?“ fragte ſie Ell.
„Fällt mir nicht ein, wenn Sie nicht Luſt haben. Ich wollte Sie nur nicht ſtören.“
„Ich verzichte auf den Genuß. Ich kann nichts ſpüren als ein abwechſelndes Drücken, Ziehen, Prickeln, Reiben — für mich iſt das nur eine Art Maſſage.“
„Mir ging es auch ſo. Es iſt eine Kunſt für Blinde. Wir müſſen nicht taſtkünſtleriſch veranlagt ſein. Wir wollen lieber nur einen kurzen Gang durch einen der andern Säle machen, und dann will ich Sie in das techniſche Muſeum führen.“
Ohne von der Taſt-Enthuſiaſtin bemerkt zu werden, gingen die untaſtlichen Erdgeborenen nach dem Coupé zurück, das ſie bald wieder in der Rotunde abſetzte. Ein anderer Wagen, dicht von Beſuchern erfüllt, trug ſie in eine der Abteilungen für Skulptur. Hier fand ſich Isma leichter zurecht. Es war eine Kunſt für menſchliche Sinne, eine Fülle großer Gedanken in wunderbarer Ausführung, aber doch im Grunde dieſelbe unſterbliche Schönheit aller Vernunftweſen, wie ſie auf der Erde auch ſchon vor Jahrtauſenden ihre Meiſter fand. Das Neue und Überraſchende lag nur in der Verfeinerung der Technik, in der Zartheit des Materials, in der ſpielenden Überwindung der Schwere, wodurch ſich ungeahnte Effekte darboten. Nicht minder bewundernswert erſchien die Architektur dieſer Hallen, Wölbungen, Galerien. Oft ſprangen die einzelnen Gemächer aus einem breiten Grundpfeiler in der Form von Blumenkelchen vor, die auf ſchlanken Stielen ſich zu wiegen ſchienen. Dieſe Stiele enthielten die Treppen verborgen, auf denen man in die Gemächer gelangte. Isma erhielt den Eindruck, daß das Eigentümliche der martiſchen Kunſt, das ſie von der menſchlichen unterſchied, nicht in einer neuen Auffaſſungsform des Schönen lag; hier wirkten offenbar zeitloſe Geſetze als beſtimmende Ideen für die freie Geſtaltung des Schönen bei allen bewußten Weſen. Der Fortſchritt hing vielmehr ab von dem überlegenen Standpunkt der Technik, wodurch ſich das Gebiet für die Anwendung des Äſthetiſchen ins Unermeßliche erweiterte. Nur die Intelligenz iſt es, welche der ewigen Idee entgegenwächſt. Ell beſtätigte dieſe Bemerkung und ſtimmte Isma bei, nun zunächſt ein oder das andre der techniſchen Wunderwerke aufzuſuchen.
„Ich fürchte nur, ich werde nichts davon verſtehen“, ſagte Isma.
Sie waren inzwiſchen wieder in der Eingangsrotunde angelangt und hatten ſich nach dem Ausgang hinabſenken laſſen, wo ihr Schlitten bereitſtand.
„Was ſoll ich jetzt ſehen?“
„Frau Ma hat mir auf die Seele gebunden, Sie nach dem Retroſpektiv zu führen. Das iſt wohl die neueſte und großartigſte Entdeckung.“
„Ich habe davon gehört und auch zu leſen verſucht, aber Sie müſſen mir die Sache noch einmal erklären. Iſt es weit bis dorthin?“
„Mit der Stufenbahn wenige Minuten. Aber wir können auch in einer halben Stunde quer durch den Wald fahren, und das will ich eben tun.“
Er lenkte den Radſchlitten über eine der Brücken, welche, die Bahnen und Kanäle überſchreitend, in die Waldregion führten. Raſch glitt das Gefährt unter den Schatten der Bäume in die Zone der Wohnungen. Isma atmete auf.
„Wie ſchön, daß wir bald wieder in die Waldeinſamkeit kommen!“ ſagte ſie. „Da denke ich, wir ſind daheim unter unſern Tannen, und Sie erzählen mir wieder von den Märchen des Mars —“
„Und dabei packen wir unſre Butterbrote aus und frühſtücken.“
„Ach, Ell, ich wünſchte, das ginge hier! Mir armem Menſchenkind iſt es ſchrecklich langweilig, immer ſo allein bei verſchloſſenen Türen eſſen zu müſſen.“
„Hier an der Straße und zwiſchen den Wohnungen geht es natürlich nicht. Sehen Sie, da iſt die großartige Reſtauration, aber wenn wir zu ſpeiſen verlangten, würde man uns ſofort jedem ein Extrakabinett anweiſen, anders iſt es unmöglich. Doch ich habe daran gedacht. Ich habe aus meinem Reiſevorrat ein richtiges Erdenfrühſtück eingeſteckt; zwar das Brot iſt trotz des luftdichten Verſchluſſes etwas altbacken, aber denken Sie, Friedauer Wurſt und wirklichen Rheinwein! Wir ſuchen uns ein Plätzchen, wo uns niemand ſehen kann. Ich freue mich wie ein Kind! Jedoch die gute Tante darf um Himmels willen nichts erfahren! Das wäre ſchlimmer, als wenn ich Ihnen auf dem Marktplatz von Friedau um den Hals fallen wollte!“
„Stille von Friedau! Aber das Frühſtück nehme ich an. Wir wollen dem Nu ein Schnippchen ſchlagen.“
Ihre Augen glänzten ſchelmiſch, indem ſie zurückblickte, als fürchtete ſie, gehört zu werden.
„Eigentlich darf ich’s ja nicht als Nume. Ich bin da in meine Menſchlichkeit zurückgefallen —“
Isma richtete die Augen auf Ell. Er ſprach im Scherz, aber ſie hörte an der Art, wie er den Satz abbrach, daß ein ernſtes Bedenken in ihm aufzutauchen begann.
Ell ſah, wie das glückliche Lächeln aus ihren Zügen zu verſchwinden drohte, und er griff ſchnell nach ihrer Hand.
„Nein, nein“, rief er, „geliebte Freundin, für Sie will ich nichts ſein als der Menſch, der glücklich iſt, wenn er Ihnen dienen kann. Aber ganz leicht iſt es nicht. Denn ſehen Sie — ein Nume ſoll ich nicht ſein, damit Sie mich nicht verändert finden; und von der Erde ſoll ich nicht reden, damit Sie nicht traurig werden —“
„Sie haben recht, mein treuer Freund — ich weiß ja ſelbſt nicht, was ich will — ich verdiene gar nicht, daß Sie ſo gut ſind —“
Er ergriff ihre Hand und hielt ſie feſt. Seine Rechte lenkte den Radſchlitten mühelos auf der glatten Bahn. Die letzten Wohnungen verſchwanden. Dichtes Buſchwerk bildete auf dem freien Raſen des Bodens ein Labyrinth von Plätzen und Gängen. Ein leichter, erfriſchender Luftzug ſtrömte über den Boden, denn die Lichtungen und die Induſtrieſtraßen, auf denen die Sonne brannte, wirkten um die Mittagszeit wie Schornſteine, welche die Umgebung ventilierten und die erwärmte Luft in die Höhe führten. Die Straße war einſam. Die Blumen muſizierten leiſe, und kleine eichkätzchenartige Tiere ſpielten an den Stämmen der Bäume.
Ell löſte mit einem Druck des Fußes den Mechanismus aus, der die Kugelkufen emporhob und den Wagen auf zwei hochachſigen Rädern laufen ließ, ſo daß er ſich auch auf unebenem Weg ohne Schwierigkeit bewegen konnte. Er verließ die Fahrſtraße und fuhr auf dem Waldraſen zwiſchen Buſchwerk und Bäumen dahin. Ein kleiner Weiher kam in Sicht, von einem klaren Bächlein genährt. Am Rande desſelben hielt Ell den Wagen an; es war ein reizendes, ſtilles Ruheplätzchen. Kein Liebespaar konnte ſich beſſer verſtecken.
„Hier können wir es wagen“, ſagte Ell.
Sie wollten nur frühſtücken.
Isma ſprang aus dem Schlitten. Ell reichte ihr die Taſche mit dem heimlichen Vorrat. Beide ſahen ſich vorſichtig um und lachten dann über ihre Furcht. Sie packten ihre Schätze aus und vergaßen in heiterem Geplauder, daß über den Baumzweigen zu ihren Häuptern nicht der blaue Himmel der Erde, ſondern das Blätterdach des martiſchen Rieſenwaldes ſich wölbte.
„Kann man durch das Retroſpektiv alles Vergangene ſehen?“ fragte Isma.
„Nein“, erwiderte Ell, „nur dasjenige, was unter freiem Himmel und bei genügender Beleuchtung vorgegangen iſt. Der Erfolg beruht ja darauf, daß wir das Licht, welches damals von den Gegenſtänden ausgeſtrahlt wurde, auf ſeinem Lauf durch den Weltraum wieder einholen, ſammeln und zurückbringen.“
„Und wie iſt das möglich?“
„Ich habe Ihnen ſchon früher geſagt — was mir freilich die andern Menſchen noch nicht glauben wollen —, daß die Gravitationswellen ſich eine Million Mal ſo ſchnell fortpflanzen als das Licht. Sie können alſo das Licht auf ſeinem Weg einholen. Wenn zum Beiſpiel vor einem Erdenjahr irgend etwas unter freiem Himmel geſchehen iſt, ſo hat ſich das von dieſem Ereignis ausgeſandte Licht jetzt bereits gegen zehn Billionen Kilometer weit in den Raum verbreitet. Die Gravitation aber durchläuft dieſen Weg in einer halben Minute, trifft alſo nach einer genau zu berechnenden Zeit mit den damals ausgeſandten Lichtwellen zuſammen. Nun haben die Gelehrten der Martier ein Verfahren entdeckt, wodurch man bewirken kann, daß die den Lichtwellen nachgeſchickten Gravitationswellen jene ſelbſt in Gravitationswellen von entgegengeſetzter Richtung verwandeln und ſomit zu uns zurückwerfen; ſie laufen alſo in der nächſten halben Minute in der Form von Gravitationswellen den Weg zurück, den ſie als Licht im Laufe eines Jahres durcheilt haben. Hier werden ſie im Retroſpektiv — und das iſt die Großartigkeit dieſer Erfindung — in Licht zurück verwandelt und durch ein Relais verſtärkt, ſo daß man auf dem Projektionsapparat genau das Ereignis ſich abſpielen ſieht, wie es ſich vor einem Jahr vollzogen hat. Man kann den Verſuch natürlich auf jeden beliebigen Zeitraum ausdehnen, aber die Bilder werden immer ſchwächer, je größer die vergangene Zeit iſt, weil das Licht inzwiſchen im Weltraum zuviel Störungen erfahren hat. Es erfordert nun eine ſorgfältige Berechnung, wann und wo ein Ereignis ſtattgefunden hat, das man zu ſehen wünſcht. Man kann daher das Retroſpektiv — wenigſtens vorläufig — nicht nach Belieben und ſchnell wie ein Fernrohr einſtellen, ſondern es gehört dazu ein umfangreicher Apparat, ein ganzes Laboratorium.“
„Wir können alſo nicht zu ſehen bekommen, was wir wollen?“
„Nein, wir müſſen uns mit dem begnügen, worauf der Apparat gegenwärtig eingeſtellt iſt. Aber wenn es für einen beſtimmten Zweck gerade notwendig iſt, zum Beiſpiel um eine wichtige Rechtsfrage oder dergleichen zu entſcheiden, ſo wird für dieſen Zweck eine Berechnung und Einſtellung vorgenommen.“
„Kann man damit auch ſehen, was zum Beiſpiel zu einer beſtimmten Zeit auf der Erde vorgegangen iſt?“
„Ich zweifle nicht, daß ſich das ermöglichen läßt.“
„Und was koſtet ſo eine Beobachtung, wenn man ſie für einen beſonderen Zweck machen laſſen will?“
„Dazu iſt überhaupt die Erlaubnis der Staatsbehörde erforderlich. Es gibt nämlich, ſoviel ich weiß, bis jetzt kein Privat-Retroſpektiv.“
Isma ſchwieg nachdenklich. Dann ſagte ſie: „Nun weiß ich ja, was es mit dem Retroſpektiv auf ſich hat, und gefrühſtückt haben wir auch, ſo daß wir eigentlich aufbrechen könnten. Aber es iſt ſo ſchön hier, und ich bin gar nicht ſehr neugierig, den Apparat zu ſehen, denn was man wirklich dabei beobachtet, kann ja nicht viel ſein, wenn man an dem vergangenen Ereignis kein Intereſſe hat.“
„Das iſt ſchon wahr, indeſſen Ma würde —“
„Ich will es mir ja auch auf jeden Fall anſehen. Aber wir können wohl noch hier ein wenig ruhen.“
Sie legte ihr Listuch unter den Kopf und ſtreckte ſich behaglich hin. „Wenn ich noch einen Schluck Waſſer bekommen könnte!“ ſagte ſie.
Ell nahm den mitgebrachten Becher und füllte ihn am Quell. Isma trank und gab das Glas dankend halb geleert zurück. Eben ſetzte es Ell an ſeine Lippen, um den Reſt ſelbſt zu trinken, als ſich in der Ferne ein dumpfes Brauſen erhob. Isma richtete ſich erſchrocken auf.
„Was iſt das?“ fragte ſie. „Kommt jemand?“
Ell hatte das Glas ohne zu trinken abgeſetzt. Er lauſchte. Das Brauſen nahm zu. Er zog ſeine Uhr.
„Es iſt nichts“, ſagte er, „es iſt das Mittagszeichen.“ Er verglich ſorgfältig die Uhr. Das Brauſen mochte eine Minute gedauert haben, dann brach es mit einem hellen Schlag plötzlich ab.
„Der Anfangspunkt der Planetenzeitrechnung wird ſo markiert. Hier bei uns, nicht weit von der Zentralwarte, fällt er nur kurze Zeit nach dem wahren Mittag. Aber ich glaube, wir müſſen doch aufbrechen.“
Er hatte nicht getrunken, ſondern das Waſſer unbemerkt, wie er glaubte, auf die Erde fließen laſſen, und bückte ſich jetzt, um alle Spuren des gemeinſamen Frühſtücks zu beſeitigen.
Isma ſtand ſchweigend auf und begab ſich in den Wagen. „Wir ſind auf dem Mars“, ſeufzte ſie leiſe. Sie lehnte ſich zurück und ſchloß die Augen.
Bald darauf kam Ell. Er betrachtete ſie mit einem innigen Blick. Der Mittagston hatte ihn wieder auf den Mars zurückgeführt. Ein tiefes Mitleid mit dem Geſchick der Freundin überkam ihn, und die ganze Fülle ſeiner Liebe fühlte er in ſich aufſteigen. Er hätte ſich zu ihr herabbeugen und ihre Lippen mit Küſſen bedecken mögen. Und doch war etwas Trennendes zwiſchen ſie getreten, deſſen er ſich nicht zu erwehren wußte. Er küßte die ſchmale Hand, die auf der Seitenlehne des Wagens ruhte.
Isma öffnete die Augen und ſchüttelte leicht den Kopf.
„Sie ſind müde, Isma“, ſagte Ell. „Hier, nehmen Sie von dieſen Pillen, und Sie werden ſich erquickt fühlen wie nach einem feſten Schlaf.“
„Nein, nein, ſolche Nervenreize mag ich nicht, das iſt eine falſche Erquickung.“
„Dieſe nicht. Es iſt kein anregendes Nervengift, das den Körper zur Abgabe ſeiner letzten Energiereſerve veranlaßt wie unſre irdiſchen Reizmittel. Es führt dem Blut und damit dem Gehirn wirklich die verbrauchte Energie wieder zu, und zwar genau in der Form, wie es durch den Schlaf geſchieht. Die Pillen ſind ganz unſchädlich. In einer halben Stunde ſind Sie wieder friſch wie am Morgen. Sie ſind noch zu wenig an unſere Luft gewöhnt, Sie brauchen eine Hilfe in dieſem Klima.“
Isma nahm die Pillen. Ell ſchwang ſich an ihre Seite, und der Wagen rollte nach der Straße zu. Der übrige Teil des Waldes und die Wohnungsräume wurden durchſchnitten und die Induſtrieſtraße im Quartier Tru erreicht. Ell hemmte den Wagen vor einem Tor, das er für den Zugang zum Retroſpektiv hielt. Er hatte ſich jedoch in der Richtung getäuſcht, in der er durch den Wald gefahren war, und bemerkte jetzt erſt, daß er ſich vor dem Erdmuſeum befand.
„Corſan ba“, las Isma die Rieſeninſchrift, „das heißt ja doch wohl ‚Sammlungen von der Erde‘?“
„Ja“, antwortete Ell, „ich habe mich geirrt. Wir müſſen nach der anderen Seite — die Stufenbahn bringt uns in einer Minute hin.“
„Ich hätte eigentlich Luſt —“, ſagte Isma zögernd, „könnten wir nicht hier einmal uns umſehen?“
„Gewiß, aber Sie wollten ja heute nichts von der Erde wiſſen.“
„Es iſt ſchon wahr — aber ich bin neugierig, was ihr hier von dem wilden Planeten geſammelt habt. Und man wird die alte Erde doch nicht los.“ Sie ſeufzte. Unentſchieden ſah ſie abwechſelnd auf die Menge, die in den Eingang ſtrömte, und dann auf Ell.
„Es iſt heute beſonders ſtark beſucht“, ſagte dieſer, „alles redet jetzt von den Menſchen. Wenn man uns nur nicht erkennt — wir tun vielleicht beſſer, eine andere Zeit zum Beſuch zu wählen.“
„Sie ſehen, man achtet gar nicht auf uns.“
„Weil dieſe Leute erſt hineingehen. Wenn wir am Ausgang ſtänden, wäre es vielleicht anders, unſere Geſichter würden auffallen.“
„Ach was“, rief Isma lebhaft. „Nun will ich gerade hinein. Ich habe meinen dunklen Schneeſchleier eingeſteckt, durch den man nicht hindurchſehen kann. Wir ſind nun einmal hier — kommen Sie, Ell!“
Ell lächelte. „Das kommt von den Energiepillen“, ſagte er. „Jetzt haben Sie wieder Mut. Nun, man wird uns nichts tun, aber wenn man Ihnen wieder Spielzeugtüten zuwirft, wie an der Polſtation, ſo halten Sie ſie nicht für Blumenſträuße.“
Isma ſchlug ihn mit ihrem Schirmröhrchen auf die Hand. „Zur Strafe kommen Sie mit“, ſagte ſie, „damit Sie meine Trophäen tragen können. Und nun gehe ich auch ohne Schleier trotz der kleinen Augen.“
Sie traten in das Gebäude.