Um dieſelbe Zeit wurde Frau Isma Torm durch heftiges Läuten aus dem Schlummer geweckt.
Man brachte ihr ein Telegramm. Mit klopfendem Herzen las ſie:
„Hammerfeſt, den 9. September.
Brieftaube ‚Ballon Pol‘ brachte folgende Nachricht:
Frau Isma Torm. Friedau. Deutſchland, 21. Auguſt, 2 U. 30 Min. nachm. M.E.Z.
Ballon durch unbekannte Kraft in die Höhe geriſſen. Ich verlor das Bewußtſein. Erwachte, als der Ballon auf dichte Wolkendecke ſchnell abſtürzte. Korb gekentert. Ballon nur durch ſtärkſte Erleichterung zu retten. Grunthe und Saltner bewußtlos, nicht transportierbar. Ich verließ den Ballon mit dem Fallſchirm, konnte Brieftauben mitnehmen. Ich fiel langſam durch Wolken, trieb vom Pol in unbekannter Richtung ab, konnte mich auf Feſtland retten. Entdeckte Spuren von wandernden Eskimos und fand ihr Lager. Ziehe mit ihnen nach Süden, habe noch zwei Tauben. Hoffe auf glückliche Heimkehr. Sei unbeſorgt. Ich bin unverletzt und bei Kräften. Torm.“
Sie klammerte ſich an die letzten Worte. „Hoffe auf glückliche Heimkehr. Sei unbeſorgt. Ich bin unverletzt und bei Kräften.“ Aber wo? Wo? Jenſeits unzugänglicher Meere und Eiswüſten, kurz vor Beginn der ewigen Nacht, angewieſen auf das Mitleid einiger armſeliger Eskimos! Der Ballon geſcheitert — die gehofften, ſtolzen Reſultate verloren! Wie konnte er heimkehren — und wann?
Und ſie — ſie hatte ihn ermutigt, ihm zugeredet, als er darum ſorgte, ſie allein zurückzulaſſen. War ſie nicht mitſchuldig an ſeinem Unglück? Hatte ſie nicht zu ſehr dem Freund vertraut, der des Gelingens ſo ſicher ſchien? Eine furchtbare Angſt erfaßte ſie. Hätte ſie ihn nicht beſchwören müſſen, das gefährliche Unternehmen um ihretwillen zu unterlaſſen? Sie hatte ſich eingebildet, der großen Sache, der Wiſſenſchaft mutig das Opfer ihres häuslichen Glückes zu bringen, aber nun kam es über ſie wie eine ſchreckliche Anklage — hätte ſie den Mut auch gehabt, wenn nicht Ell ſie gebeten hätte? Wenn ſie nicht dem Freund zuliebe, dem ſie das eine Lebensglück verſagt, nun zur Erreichung ſeines innigſten Wunſches ein Opfer hätte bringen wollen? Und wenn das Opfer angenommen war? Sie ſchauderte zuſammen. Nein, nein, ſie wollte nicht mutlos ſein. Das durfte ſie ſich ja ſagen, ſie hatte ſich nie verhehlt, daß ſie jeden Augenblick auf das Schlimmſte gefaßt ſein mußte. Aber was ſie dann tun würde? Das hatte ſie niemals ſich zur vollen Klarheit gebracht. Jetzt mußte es ſein. Sie wollte handeln. Wenn Hilfe möglich war — es gab von den Menſchen nur einen, der hier helfen konnte. O, er würde ihr helfen! Sie glaubte an ihn.
Eine Stunde ſpäter zog ſie die Klingel an dem großen eiſernen Gitter, das den Vorgarten des Wohngebäudes neben der Sternwarte von der Straße abſchloß.
„Iſt der Herr Doktor ſchon zu ſprechen?“ fragte ſie den öffnenden Kaſtellan.
Der Alte nahm ſein Käppchen ab und kratzte ſich verlegen hinter dem Ohr.
„Ei, ei, die Frau Doktor ſind es? Hm! Hm! Na, ich will gleich einmal fragen. Kommen Sie nur inzwiſchen herein. Es iſt freilich — Hm! —“
„Sagen Sie, ich müßte den Herrn Doktor ſofort ſprechen, es ſind wichtige Nachrichten angekommen.“
Der Alte ſchlurfte ins Haus.
Ell beriet mit Grunthe die Form, welche den erſten Mitteilungen zu geben ſei, als ihm Frau Torm gemeldet wurde.
Er ſprang auf und warf die Feder weg.
„Führen Sie die gnädige Frau ſogleich in die Bibliothek.“
„Es ſind wichtige Nachrichten da, ſagte die Frau Doktor.“ Mit dieſen Worten ging der Kaſtellan ab.
„Sie hat Nachrichten!“ rief Ell erbleichend. „Und ſie kommt ſelbſt, um dieſe Zeit! Woher kann ſie es wiſſen?“
Er ſtürzte hinaus. Vor der Tür des Bibliothekzimmers hielt er an. Er mußte ſich erſt ſammeln. Dann trat er ein, ruhig, gefaßt. Aber das Herz ſchlug ihm. Sein Geſicht war bleich und übernächtig.
Isma ſtand mitten im Zimmer und ſtützte ihre Hand auf den großen Tiſch, der mit aufgeſchlagenen Kartenwerken und Tabellen bedeckt war. Sie fand keine Worte.
„Isma“, ſagte er, „Sie haben — was wiſſen Sie?“ Sie brach in Schluchzen aus. Er eilte an ihre Seite. Wieder lehnte ſie an ſeiner Schulter. Er führte ſie an das Sofa.
„Faſſen Sie ſich, liebſte Freundin, faſſen Sie ſich!“
„Ich weiß nicht, was ich tun ſoll“, ſagte ſie unter Tränen. Sie zog die Depeſche aus ihrer Taſche und reichte ihm das zerknitterte Papier.
Ell las.
Er atmete tief auf.
„Gott ſei gedankt!“ rief er aus tiefſtem Herzen.
Isma ſprang auf und wich zurück. Ihr Blick fiel feindlich auf ihn. ihre Augen wurden ſtarr. Sie drohte zuſammenzubrechen.
„Was iſt Ihnen, Isma?“
„Ich — ich —“, ſagte ſie, die Hand auf das Herz preſſend, „ich habe wohl nicht recht verſtanden — oder — oder — ſagten Sie nicht —?“
„Gott ſei Dank, ſagte ich, denn Ihr Mann iſt gerettet.“
„Gerettet?“
„Ja, hier ſteht es ja.“
„Gerettet?“
„Ihre Nachricht iſt jünger als die meinige, iſt von ihm ſelbſt“, fuhr Ell fort. „Ich aber empfing dieſe Nacht durch Grunthe die Nachricht, daß der Ballon abgeſtürzt und Ihr Mann verſchwunden ſei. Ich glaubte ihn tot und wußte nicht, wie ich Ihnen, Isma — aber was iſt Ihnen?“
Isma ergriff ſeine Hände. „O, Ell, Ell, verzeihen Sie mir!“
Er ſah ſie erſtaunt an.
„Sie halten ihn für gerettet?“ rief ſie, indem ihr das Blut in die Wangen ſtieg. „Im ewigen Eis, in der Polarnacht? Wie ſoll er gerettet werden?“
„Da er glücklich aus dem Ballon auf die Erde gelangt iſt und im Schutz der Eskimos ſteht, ſo droht ihm unmittelbar keine Gefahr.“
„Aber der Winter?“
„Wo die Eskimos überwintern, wird es Ihrem Mann auch gelingen. Es iſt gewiß keine angenehme Ausſicht, aber wie viele Forſcher haben ſchon einen Winter in den Schneehütten der Eskimos zugebracht. Und darauf war er, mußten wir alle gefaßt ſein, daß ein ſolcher Unfall eintrat. Nein, Isma, liebſte Freundin, ängſtigen Sie ſich nicht. Wir werden dafür ſorgen, daß im Frühjahr auf allen Seiten des Pols nach ihm geſucht wird. Vielleicht erhalten wir noch eine Nachricht. Er hat ja noch Tauben. Sehen Sie —“, er ſtreichelte ihre Hand und verſuchte zu lächeln, „verzeihen Sie mir, aber die Depeſche, die Ihnen nur Trauriges meldete, für mich war ſie eine Erlöſung. Alles, was Grunthe und Saltner von Ihrem Mann wußten, beſtand darin, daß er aus dem Ballon verſchwunden war, als ſie von ihrer Ohnmacht erwachten. Der Fallſchirm wurde im Meer gefunden, von Torm keine Spur. Sie können ſich denken, Isma, was ich in Ihrer Seele fühlte, wie mir zumute war, als ich Sie jetzt vor mir ſah. Da atmete ich auf, als ich Ihre Depeſche las. Nach dem, was ich wußte, iſt es vielleicht die beſte Nachricht, die ſich überhaupt erhoffen ließ. Ich brauche nicht zu ſagen, wie ſehr ich den Unfall Ihres Mannes bedauere; Sie aber dürfen ſtolz ſein. Er hat ſich ſelbſt geopfert und die Gefährten dadurch gerettet. Alle Reſultate der Expedition ſind geborgen, ſelbſt meine kühnſten Hoffnungen erfüllt.“
Isma ſtarrte in die Ferne. Das Schickſal Torms nahm noch alle ihre Gedanken in Anſpruch.
„Und iſt Ihnen denn dies alles gleichgültig geworden?“ fragte Ell. „Sie fragen nicht einmal, woher ich meine Nachricht habe?“
„Wie können wir uns des Erreichten freuen, und er, dem wir es verdanken, hat nichts von alledem? Den langen Winter — ach, wohl noch ein Jahr. — Iſt es denn nicht möglich, noch jetzt, gleich, etwas für ihn zu tun?“
Ell ſah ſie ſchmerzlich enttäuſcht an und ſchüttelte nur den Kopf.
Sie verſtand ſeinen vorwurfsvollen Blick. Eine feine Röte überzog ihr Geſicht, und ſie ſchlug ihre großen, ſanften Augen wie bittend zu ihm auf. Sie ſah entzückend aus. Ell wendete ſich ab, er konnte den Anblick nicht länger ertragen.
Isma legte ihre Hand auf ſeinen Arm.
„Verzeihen Sie mir, mein lieber Freund“, ſagte ſie herzlich. „Erzählen Sie mir! Ich ſehe ja ſelbſt ein, daß ich mich in Geduld faſſen muß. Aber es hätte mich ſo glücklich gemacht, ſogleich etwas tun zu können.“
Ell ſchwieg noch immer. Er ſtützte den Kopf in ſeine Hand.
„Ich hab Sie darum nicht weniger lieb“, ſagte Isma einfach.
Beide ſahen ſich tief in die Augen.
Ell ſprang auf und machte einige Schritte durch das Zimmer. Dann blieb er vor Isma ſtehen.
„Ich dachte einen Augenblick — eine Möglichkeit, aber nein, es geht nicht. Es geht nicht.“
Er ſetzte ſich ihr gegenüber.
„Hören Sie zu“, ſagte er. „Was ich Ihnen jetzt ſage, wird Ihnen unglaublich erſcheinen. Aber die Beweiſe ſollen Sie ſelbſt ſehen. Grunthe iſt hier. Und Saltner iſt auf der Reiſe nach dem Mars. Oben in meinem Garten liegt ein Luftſchiff der Martier. Mein Oheim Ill, der Bruder meines Vaters, hat Grunthe darin hierhergebracht. Die Fahrt nach dem Pol dauert ſechs Stunden —“
„Um Gottes willen, Ell, hören Sie auf!“ rief Isma zurückweichend, die gefalteten Hände nach ihm ausſtreckend. In ihren Augen malte ſich Angſt. Sie fürchtete für ſeinen Verſtand. War das ſeine fixe Idee, die jetzt mit ihren Wahnvorſtellungen zum Ausbruch kam?
Er ſtand auf und ging zur Tür. Isma blieb ratlos ſitzen. Nur wenige Augenblicke, dann ſprang ſie auf.
Grunthe trat in das Zimmer. Er machte ſeine ſteife Verbeugung.
Isma ſtarrte auf ihn wie auf eine Erſcheinung.
„Leſen Sie dieſe Depeſche“, ſagte Ell zu Grunthe. „Frau Torm hat ſie heute früh empfangen.“
Grunthe las, ſah noch einmal nach dem Datum, und ſagte dann: „Das iſt eine ſehr günſtige Nachricht, unter den einmal vorhandenen Umſtänden.“
„Und nun bitte, Grunthe“, rief Ell, „tun Sie mir den Gefallen und geben Sie Frau Torm einen kurzen Bericht über Ihre Erlebniſſe. Kommen Sie, ſetzen wir uns.“
Grunthe ſprach in ſeiner knappen, faſt trockenen Weiſe. Da war nichts übertrieben, keine Vermutungen, kein ſubjektives Urteil, alles klar wie ein mathematiſcher Beweis.
Isma ſaß regungslos. Ihre weitgeöffneten Augen hingen an Ell. Es überkam ſie wie ein Gefühl der Ehrfurcht.
„Und nun ich hier bin“, ſchloß Grunthe, „darf ich keine Minute verſäumen, den Bericht fertigzuſtellen. Wir haben alle unſre Kräfte anzuſtrengen, das zu beweiſen, was uns niemand wird glauben wollen. Ich darf daher wohl auf Entſchuldigung rechnen, wenn ich mich jetzt wieder zurückziehe. Würden Sie mir noch einen Augenblick ſchenken?“ ſetzte er zu Ell gewendet hinzu.
Er verbeugte ſich gegen Isma und wollte gehen.
Da ſprang Isma auf und trat dicht vor Grunthe, der mit zuſammengekniffenen Lippen ſtehenblieb.
„Iſt es wahr“, fragte ſie, „das Luftſchiff liegt noch draußen?“
„Gewiß.“
„Und in ſechs Stunden kann man zum Nordpol gelangen?“
Grunthe nickte beſtätigend.
„Ich bin heute früh ſelbſt in einer Stunde nach Wien und wieder zurückgefahren“, ſetzte Ell hinzu.
„Ich danke Ihnen“, ſagte Isma zurücktretend.
„Entſchuldigen Sie mich auf einen Augenblick — ich bin ſogleich wieder hier“, ſagte Ell zu Isma, indem er mit Grunthe das Zimmer verließ.
Sie nickte ſchweigend. Ihre Gedanken waren bei dem Luftſchiff. In ſechs Stunden konnte man am Nordpol ſein — nur ſechs Stunden! So lange braucht der Schnellzug nach Berlin. Das iſt eine Spazierfahrt. Sechs Stunden nur trennten ſie von Hugo. — — Wenn das Glück günſtig war, wenn das Schiff die richtige Bahn beſchrieb, ſo mußte man ihn bemerken, ſo konnte man ihn aufnehmen und zurückbringen — noch heute konnte er in Friedau ſein —
Ach, aber ihn ſcheiden die Wüſten des Eiſes, die unzugänglichen Meere, die noch kein Forſcher zu durchqueren vermochte — dort ſitzt er in der kläglichſten Schneehütte, Monat auf Monat, ohne Licht, ohne Tat — in ewiger Nacht trauernd und ſich ſehnend nach der Heimat, umgeben von den Gefahren des furchtbaren Winters. — — Und hier daheim, hier reifen die Früchte ſeiner kühnen Fahrt, hier drängt ſich von Stunde zu Stunde neues, lebendiges Schaffen, hier vollzieht ſich das Unerhörte, noch nie Geweſene — von den Sternen ſteigen die Götter herab, um die Menſchen zu laden zu ihrem ſeligen Wandel — hier, in dieſer Stadt, in dieſem Hauſe wird ein neues Zeitalter geboren, und er weiß nichts davon, kann nicht teilnehmen an dem Großen, was die ganze Erde erfüllt, an dem Höchſten, was erlebt wurde und was ihr Herz ſo erwartungsvoll ſchlagen macht — und ſie muß es allein erleben —
Und vielleicht nur ſechs Stunden —
Allein — den ganzen Winter allein in ſolcher Zeit, wo Seele zu Seele gehört — allein? Ja, wenn ſie allein wäre! Aber der Freund? Wo bleibt er? Er iſt länger draußen aufgehalten, aber er wird kommen — er wird kommen ſo wie heute, dann jeden Tag, der einzige Vertraute, mit dem ſie alles teilen muß, was das Herz bewegt — mit ihm wird ſie allein ſein, der ihr ſo wert iſt, ſo lieb, und nun vor ihr ſteht in einem neuen, geheimnisvollen Licht, der Sohn einer höheren Welt, zu dem ſie aufblickt — —
Nein, nein! Sie will nicht allein ſein, und nicht allein mit ihm —
Sie ringt die Hände und geht auf und ab im Zimmer. Sie blickt nach der geſchloſſenen Tür und glaubt ſeine Stimme zu hören. Sie blickt nach der Uhr — und der Gedanke läßt ſie nicht los: Nur ſechs Stunden! In ſechs Stunden kann alles entſchieden ſein —
Ja, wenn ſie mitfahren könnte, durch die Lüfte reiſen nach dem Reich des Eiſes, wo er weilt — ſie würde ihn finden, ſie würde ihn ausſpähen, wo er ſich auch bärge, im Boot von Seehundsfell, in der Hütte von Schnee — bis in die Gletſcherſpalte würde ihr Auge dringen — ſie ſchauerte zuſammen. Vielleicht ſchon lag er — ſie mochte das Schreckliche nicht denken. Dieſe furchtbare Ungewißheit — nein, das konnte, das wollte ſie nicht ertragen. Und die Fragen, die ewigen, und das Mitleid — und das höhniſche Ziſcheln, ob ſie ſich wohl tröſtet — — oh!
Sie ſtampfte mit dem Fuß auf und preßte die Hände krampfhaft zuſammen. Dann ſtand ſie ſtill wie ein Bild aus Stein. Und nun wußte ſie es. Sie atmete tief auf. Die Starrheit löſte ſich. Ihr Entſchluß war gefaßt.
Nur ſechs Stunden!
Das Luftſchiff zog ſie mit magiſcher Gewalt an. Sie wollte fort, ſie wollte an den Pol, ſie würde ihn finden, den Verlorenen, ſie, Isma Torm. Wenn es ein Unrecht war, daß ſie um des Wunſches des Freundes willen den Mann nicht zurückhielt, ſo mochte dies ihre Buße ſein, und die ſeinige!
Sie ſetzte ſich und überdachte alles noch einmal in voller Ruhe.
Es war das Richtige, es mußte ſo ſein.
Isma erhob ſich und ſchritt auf die Tür zu, als ihr Ell aus derſelben entgegentrat.
Er ſtutzte bei ihrem Anblick. Die Trauer und Angſt aus ihren Zügen war verſchwunden. Sie ſtand aufgerichtet vor ihm. Aus ihren tiefblauen Augen ſprach jene Innigkeit des Gefühls, die ihn immer hingeriſſen hatte. Auf ihren Lippen lag es wie ein leiſes Lächeln.
„Ell“, ſagte ſie — ſie ſtockte einen Augenblick wie verlegen „bei Ihrer Freundſchaft, wenn Sie mich liebhaben —“
„Isma!“
„Wollen Sie mir eine Bitte erfüllen?“
„Was Sie wollen!“
„Sprechen Sie bei Ihrem Oheim für mich, daß er mich in ſeinem Luftſchiff mit nach dem Pol nimmt und mich wieder hierherbringt, wenn wir Hugo gefunden haben — ja, ja — ich werde ihn finden, wenn ich mit dem Luftſchiff ihn ſuchen darf — o, weigern Sie ſich nicht —“
Sie faßte ſeine Hände und ſah ihn flehend an. Zwei Tränen traten in ihre Augen.
„Und — kommen Sie ſelbſt mit!“ ſetzte ſie hinzu.
Ell fand nicht ſogleich Worte. Das hatte er nicht erwartet.
„O Isma, Isma“, rief er endlich. „Was verlangen Sie? Dieſe Reiſe iſt nichts für Sie. Die Nume werden ſelbſt ſuchen, ſie ſuchen ſchon, und was die nicht finden, werden auch Sie nicht finden.“
„Ich werde es. Was ſind fremde Augen gegen die der Frau? Ich werde ſehen, wo andere nicht hinblicken. Es ſind nur ſechs Stunden — ſo nahe —, und ich ſoll hier müßig ſitzen — den Gedanken ertrage ich nicht —“
„Ich bitte Sie, Isma, bedenken Sie meine Lage. Jetzt darf ich, kann ich nicht von hier fortgehen. Jetzt gilt es, die Menſchheit auf den Beſuch der Martier vorzubereiten. Was ich ſeit Jahren erwartet, ich muß nun die Konſequenzen ziehen —“
„Es handelt ſich vielleicht nur um wenige Tage.“
„Die habe ich meinem Oheim zu andern Zwecken verſprochen. Und dann muß ich wahrſcheinlich nach Berlin.“
„Dann bin ich alſo ganz allein“, ſagte Isma leiſe.
„Nein, nein — ich komme bald wieder.“
Isma wandte ſich ſchweigend ab. Dann kehrte ſie plötzlich zurück und ſagte faſt hart:
„Führen Sie mich zu Ihrem Oheim, ich will ihn bitten. Und wenn Sie nicht fortkönnen, laſſen Sie mich allein mitgehen. Laſſen Sie mich hingehen, Ell!“
Ell kämpfte mit ſich. Mit düſtern Blicken ſtarrte er durchs Fenſter.
„Wo iſt das Schiff?“ fragte Isma. „Ich will die Nume bitten, ſie werden einer verlaſſenen Frau nicht abſchlagen, was der einzige Freund ihr nicht gewähren will.“
„Isma, ſeien Sie vernünftig!“
„Das Vernünftige iſt die Pflicht. Und dies iſt der einzige Weg, ſie zu erfüllen.“
„Und meine Pflicht iſt die Verſöhnung der Planeten. Dagegen muß das Geſchick des einzelnen zurücktreten.“
„Darum eben gehe ich allein.“
„Das werde ich nie zugeben.“
„Ich will“, ſagte Isma finſter. „Ich will zu meinem Mann.“
Ell ſtöhnte. Er ſah, wie ſie entſchloſſen der Tür zuſchritt. Sie drehte ſich noch einmal um, mit tiefer Trauer im Antlitz.
„Bleiben Sie, Isma“, rief er. „Ich bringe Ihnen Hugo, wenn es in der Macht der Menſchen ſteht und der Nume!“
„Nehmen Sie mich mit!“
„Kommen Sie zu Ill. Alles hängt von ſeiner Entſcheidung ab.“
Ell brachte Isma zu ſeinem Oheim. Es hätte ihr wenig genutzt, ihre Sache bei Ill zu vertreten, wenn nicht Ell ſie zu der ſeinigen gemacht hätte. Denn Ill verſtand nicht deutſch, Ell mußte daher die Verhandlungen führen. Ill, der Isma mit herzlichſter Teilnahme begegnete, verſprach ſofort, daß nach ſeiner Rückkehr mit Hilfe des Luftſchiffes die ſorgfältigſte Durchforſchung des arktiſchen Gebietes vorgenommen werden ſolle, ſo lange die Martier dazu noch Zeit hätten. Dazu wäre er ohnehin entſchloſſen geweſen, und nur die Zurückführung Grunthes und die Aufſuchung Ells hätten zuvor erledigt werden müſſen. Übrigens würde ſchon jetzt nach Torm geſucht, da noch ein kleineres Luftboot, freilich zu weiteren Reiſen nicht verwendbar, in Dienſt geſtellt werde. Er ſähe daher nicht ein, wozu es notwendig ſei, daß Ell oder gar Isma zu dieſem Zweck ihm an den Pol folgen ſollten. Erſterer wäre jetzt in Deutſchland nicht zu entbehren, um Grunthe in der Darſtellung der Reſultate der Expedition zu unterſtützen. Man würde ihn auch jedenfalls ſeitens der Regierung zu Rate ziehen.
Ell gab dies gern zu; es war ja vollſtändig ſeine Anſicht. Er ſagte, daß er nur den innigſten Wunſch von Frau Torm vertrete. Isma brachte nun ſelbſt ihre Bitte vor, mit rührendem Ton, in Ills Gegenwart. Ell, der jetzt erſt hörte und im übrigen erriet, was Isma zur Reiſe antrieb, fühlte ſeinen Widerſtand gebrochen. Er unterſtützte nunmehr ihre Bitten und wollte ſie unter keinen Umſtänden verlaſſen. Er ſtellte daher Ill vor, daß ſich ſeine Reiſe wohl mit ſeinen Pflichten gegen die Martier vereinen laſſe, da ſie doch nicht länger als acht bis zehn Tage dauern würde. Denn gleichviel, ob Torm gefunden werde oder nicht, vor ihrer Abreiſe nach dem Mars würden ja die Martier ihn und Isma zurückbringen. In dieſer Zeit aber ſei er um ſo eher entbehrlich, als ſich die erſte Aufregung über das Erſcheinen der Martier erſt einigermaßen legen müſſe, ehe es zu ernſthaften Entſchlüſſen der Regierungen kommen könne. Bis dahin ſei er wieder zu Hauſe; inzwiſchen reiche Grunthe vollſtändig aus, die erforderliche Auskunft zu geben. Es ſtehe alſo dabei eigentlich weiter nichts in Frage, als daß die Martier ſich der Mühe unterzögen, noch einmal eine Fahrt vom Pol nach Friedau und zurück zu machen. Das aber ſei doch in zwölf Stunden erledigt.
Ell führte dies, hin und wieder von ſeinem Oheim unterbrochen, in eifriger Rede aus. Isma hörte dem Geſpräch, von dem ſie kein Wort verſtand, geduldig zu. Sie erſchrak, wenn ſie aus Ills Augen auf eine ablehnende Antwort ſchließen zu müſſen glaubte. Jetzt aber lächelte Ill und ſagte:
„Die Transportfrage, euch beide mitzunehmen und wieder herzubringen, iſt für uns kein Hindernis. Perſönlich würde es mich ſehr freuen, dich bei mir zu haben, und ſogar ſachlich könnte es von Vorteil ſein, da Fälle denkbar ſind, in denen wir unſer Schiff verlaſſen müſſen, um das Land zu betreten; und dann würdeſt du mit den Eskimos, die wir mitnehmen werden, mehr leiſten können als wir. Ich wundere mich aber, warum du für den Wunſch der Frau Torm ſo eifrig eintrittſt, der eigentlich nur einer Stimmung, man möchte faſt ſagen, einer Einbildung entſpringt.“
„Sie hegt nun einmal den Wunſch“, erwiderte Ell etwas verlegen, „ſie hält die Reiſe für ihre Pflicht, und es iſt der einzige Troſt, den ich ihr gegenwärtig geben kann, wenn ich ihren Wunſch zu erfüllen ſuche.“
Ill blickte ſeinem Neffen mit Herzlichkeit ins Auge. „Du liebſt dieſe Frau.“
Ell ſchwieg.
„Und du willſt ſie mitnehmen und begleiten, um ihr den Gatten wiederzugeben?“
„Ja.“
„So machſt du ihren Wunſch zu dem deinen?“
„Vollſtändig.“
„Ich möchte dir deine erſte Bitte nicht abſchlagen. Aber es iſt noch ein prinzipielles Bedenken. Zugegeben, deine Abweſenheit von hier für kurze Zeit wäre allenfalls belanglos. Es könnte aber ein unglücklicher Zufall eintreten, der uns verhindert, hierher zurückzukehren. Deine Abweſenheit könnte ſich auf den ganzen Winter ausdehnen. Dann übernehmen wir eine furchtbare Verantwortung. Das Verſtändnis zwiſchen den Planeten ſteht auf dem Spiel.“
„Ich weiß es. Es iſt der Gedanke, der mich zuerſt der Bitte von Frau Torm widerſtehen ließ, der mich in Konflikt mit mir ſelbſt brachte. Aber gerade, weil wir nicht allwiſſend ſind, dürfen wir einen ſolchen Umſtand nicht in die Berechnung ziehen; er iſt nur als Zufall zu behandeln; ich kann morgen tot ſein, auch wenn ich nicht aus meinem Zimmer gehe. Ich habe mich nun einmal um Ismas willen entſchloſſen; was daraus wird, muß ich mit meinem Gewiſſen abmachen. Daß ich nicht eigennützig handle, weißt du.“
„Sonſt hätte dein Wunſch für uns nicht exiſtiert.“
„So aber, da es ſich nur um Chancen des Gelingens oder Mißlingens handelt, dürfen wir auch nicht vergeſſen, daß mit der größeren Wahrſcheinlichkeit unſre Reiſe das Verſtändnis zwiſchen den Planeten fördern wird. Wenn es uns gelingt, Torm zu retten, wenn er durch die Nume hierhergebracht wird, ſo haben wir das Zutrauen der Menſchen und ihren Glauben an uns in viel höherem Grad gewonnen, als ſie ſelbſt durch mein Fernſein verloren werden könnten. Ich glaube alſo, daß wir im Intereſſe der Planeten ſelbſt wirken, wenn wir Torm ſuchen. Dieſer Grund iſt mir allerdings erſt jetzt eingefallen.“
Ill lächelte wieder. „Er würde auch gelten, wenn Frau Torm uns nicht begleitete. Wir gewinnen aber durch ſie eine Zeugin, die uns von Nutzen ſein kann. Doch gleichviel. So will ich denn einen Vorſchlag machen, das Äußerſte, was ich zugeben kann. Ich beurlaube dich von der Begleitung nach Rom, Paris und London. Dagegen kürze ich unſern Aufenthalt in Europa ab und komme von Petersburg aus nicht erſt hierher zurück, ſondern gehe ſogleich von dort nach Norden. Wollt Ihr alſo mit, ſo müßt ihr — wir haben heute, nach eurer Zeitrechnung —?“
„Den 9. September.“
„Nun gut. So haltet euch bereit, im Laufe des 11. Septembers mit uns aufzubrechen.“
Ell ſprang in die Höhe. Er dankte Ill und ſagte freudig zu Isma: „Wir dürfen mit. Aber wir müſſen übermorgen reiſefertig ſein.“ Und mit ernſterem Ausdruck ſetzte er hinzu: „Wollen Sie nicht lieber von Ihrem Vorhaben abſtehen? Sie können gewiß ſein, daß die Nume alles tun werden, um Hugo aufzufinden. Bleiben Sie hier, Isma!“
Isma ſtand einen Augenblick unſchlüſſig. Sie ſah ſich in der Kajüte des Luftſchiffes um, in welcher ſie ſaßen.
Ill drückte auf einen Griff. Auf beiden Seiten der Kajüte öffnete ſich je eine Tür.
„Hier ſind noch zwei Kabinen, je für einen Gaſt“, ſagte er. „Sie werden es etwas eng, aber ſonſt ganz bequem haben. Es verſteht ſich von ſelbſt, daß ihr meine Gäſte ſeid“, ſetzte er zu Ell gewendet hinzu.
Isma verſtand nicht ſeine Worte, aber ſeine Handbewegung. Sie ſtreckte Ill ſchüchtern ihre Hand entgegen, die er zwiſchen die ſeinigen nahm.
„Ich danke Ihnen“, ſagte ſie, „von ganzem Herzen.“ Dann wandte ſie ſich zu Ell. Sie ſah ihn mit einem Blick an, dem er nicht widerſtehen konnte.
„O zürnen Sie mir nicht, mein lieber, treuer Freund. Ich werde es Ihnen nie vergeſſen, was Sie heute für mich taten. Ich kann nicht hierbleiben, ich will hinaus. Und wenn Sie mitgehen, ſo danke ich ihnen, denn unter dieſen Fremden allein — es iſt mir alles ſo beängſtigend — und keiner verſteht mich — aber mit Ihnen — o Ell, ich weiß, welches Opfer Sie mir bringen, und ich habe es nicht um Sie verdient.“
Mit Tränen in den Augen reichte ſie ihm die Hände.
„Alſo übermorgen.“
„Noch eins“, ſagte Ill, „eine Bedingung, die ich machen muß. Unſere Nachforſchungen werden am 12. September beginnen. Sie müſſen aber am 20. unter allen Umſtänden aufhören. Sind wir bis dahin nicht glücklich geweſen, ſo müſſen Sie es tragen. Am Morgen des 21. September ſetzt Sie dieſes Schiff wieder hier ab. Und ſo Gott will, ſchon früher und — zu dreien.“
Ell überſetzte Isma die Worte.
„Gott ſei uns gnädig!“ ſagte ſie leiſe.
„Und wie iſt es mit der Reiſe nach den Hauptſtädten?“ fragte Ell.
„Die mache ich morgen. Ich habe es mir nach deinen Karten und Angaben ſchon berechnet. Die ganze Fahrt von hier nach Rom, über Paris nach London und von dort zurück könnten wir in kaum fünf Stunden zurücklegen. Wir werden uns aber viel mehr Zeit nehmen. Nur hier breche ich ungeſehen auf, vor Sonnenaufgang. Denn da wir wieder hierher zurückkommen, würde ich dir und uns die ganze Bevölkerung auf den Hals ziehen und vielleicht ernſtliche Schwierigkeiten haben, wenn man von unſerm Hierſein wüßte. Dagegen werden wir unſere Fahrt, wenn wir erſt jenſeits der Alpen ſind, und dann in Frankreich und England, zum Teil abſichtlich langſam und möglichſt vor aller Augen ausführen. Die Menſchen ſollen ſehen, was wir können, ſie werden dann Grunthe eher glauben. Auf irgendeinem unzugänglichen Alpengipfel werden wir einige Stunden ungeſtört Mittagsruhe halten. Paris, London, Amſterdam, Brüſſel beſuchen wir im Lauf des Nachmittags und Abends. Sobald es dunkel genug iſt, landen wir wieder hier. Und nun beſorge deine Geſchäfte und bereite alles vor.“
Ell führte Isma aus dem Schiff. Sie zitterte an ſeinem Arm.
„Sie muten ſich zuviel zu, liebſte Freundin.“
„Nein, nein“, ſagte ſie. „Ich weiß, was ich kann. Es iſt nur die ungewohnte geringe Schwere in dem Schiff — aber ich werde mich daran gewöhnen. Es iſt ſchon wieder beſſer in der freien Luft.“
„Ill wird es gewiß arrangieren können, daß Sie nicht immer in der Marsſchwere zu ſein brauchen.“
„Das iſt ja alles gleichgültig. Nun will ich nur ſchnell nach Hauſe. Sie können ſich denken, daß ich viel zu tun habe“, ſagte ſie mit ſchwachem Lächeln.
„Warten Sie, ich will einen Wagen holen laſſen.“
„Das dauert zu lange. Können Sie mich nicht hier aus dem Parkpförtchen laſſen? Dann ſpare ich Weg.“
„Gewiß, ich habe den Schlüſſel hier.“
Ell öffnete die kleine Tür in der Mauer. Sie führte auf einen Promenadenweg, der von den Friedauern vielfach benutzt wurde, da er zu einem beliebten Spazierort führte. Es war inzwiſchen neun Uhr geworden.
Isma zog den Schleier vor das Geſicht. Noch ein herzlicher Händedruck, und ſie ſchritt ſchnell den Weg nach der Stadt hinab.
Zwei Herren begegneten ihr, die ſie ſcharf anſahen und ſich dann etwas zuflüſterten.
Ell war noch einen Augenblick ſtehen geblieben und hatte ihr nachgeblickt. Als er in die Tür zurücktreten wollte, waren die beiden Spaziergänger herangekommen.
„Ach, guten Morgen, Herr Doktor“, ſagte der eine mit näſelnder Stimme. „Was macht der Nordpol?“
„Schon ſo früh intereſſanten Beſuch gehabt? Wie?“ ſagte der andere. „Wohl ſehr beſorgt um den Herrn Gemahl?“
Ell ſah den Sprecher von oben bis unten an und drehte ihm, ohne ein Wort zu ſagen, den Rücken. Vor dem Blick Ells wich er erſchrocken zurück, und aus Ärger über ſeine eigene Verlegenheit rief er Ell protzig nach:
„Na, na, man wird doch wohl fragen dürfen?“
Ell drehte ſich um. „Nein, Herr von Schnabel, was einen nichts angeht, wird man nicht fragen dürfen. Adieu.“
„Ich bitte doch, ſoll das vielleicht eine Zurechtweiſung ſein? Dann möchte ich allerdings noch um eine Aufklärung bitten.“
„Tun Sie, was Sie wollen“, ſagte Ell. „Ich habe keine Zeit.“ Er ſchloß die Tür hinter ſich und ging zu Grunthe zurück.