Kurd Laßwitz: Auf zwei Planeten 2. Das Geheimnis des Pols Langſam zog der Ballon weiter, doch bewegte er ſich nicht direkt auf die auffallende kleine Inſel zu, ſondern ſie blieb rechts von ſeiner Fahrtrichtung liegen. Während Grunthe die Landmarken aufnahm und Torm die Inſtrumente ablas, ſuchte Saltner, dem die photographiſche Feſthaltung des Terrains oblag, die Gegend mit ſeinem vorzüglichen Abbéſchen Relieffernrohr ab. Dasſelbe gab eine ſechzehnfache Vergrößerung und ließ, da es die Augendiſtanz verzehnfachte, die Gegenſtände in ſtereoskopiſcher Körperlichkeit erſcheinen. Sie hatten ſich jetzt der Inſel ſoweit genähert, daß es möglich geweſen wäre, Menſchen, falls ſich ſolche dort hätten befinden können, mit Hilfe des Fernrohrs wahrzunehmen. Saltner ſchüttelte den Kopf, ſah wieder durch das Fernrohr, ſetzte es ab und ſchüttelte wieder den Kopf. „Meine Herren“, ſagte er jetzt, „entweder iſt mir der Champagner in den Kopf geſtiegen —“ „Die zwei Glas, Ihnen?“ fragte Torm lächelnd. „Ich glaub es auch nicht, alſo — oder —“ „Oder? Was ſehen Sie denn?“ „Es ſind ſchon andere vor uns hier geweſen.“ „Unmöglich!“ riefen Torm und Grunthe wie aus einem Munde. „Die bisherigen Berichte wiſſen nichts von einer derartigen Inſel — unſere Vorgänger ſind offenbar gar nicht über das Gebirge gekommen“, fügte Torm hinzu. „Sehen Sie ſelbſt“, ſagte Saltner und gab das Fernrohr an Torm. Er ſelbſt und Grunthe benutzten ihre kleineren Feldſtecher. Torm blickte geſpannt nach der Inſel, dann wollte er etwas ſagen, zuckte aber nur mit den Lippen und blieb völlig ſtumm. Saltner begann wieder: „Die Inſel iſt genau kreisförmig — das haben wir ſchon bemerkt. Aber jetzt ſehen Sie, daß gerade im Zentrum ſich wieder ein dunkler Kreis von — ſagen wir — vielleicht hundert Metern Durchmeſſer befindet.“ „Allerdings“, ſagte Grunthe, „aber es iſt nicht nur ein Kreis, ſondern eine zylindriſche Öffnung, wie man jetzt deutlich ſehen kann. Und um den Rand derſelben führt eine Art Brüſtung.“ „Und nun ſuchen Sie einmal den Rand der Inſel ab. Was ſehen Sie?“ „Mein Glas iſt zu ſchwach, um Einzelheiten zu erkennen.“ „Ich habe geſehen, was Sie wahrſcheinlich meinen“, ſagte Torm. „Aber was iſt das“, unterbrach er ſich, „der Ballon ändert ſeine Richtung?“ Er gab das Glas an Grunthe und wandte ſeine Aufmerkſamkeit dem Ballon zu. Dieſer wich nach rechts von ſeinem bisherigen Kurſe ab. Er bewegte ſich parallel mit dem Ufer der Inſel, dieſe in ſich gleichbleibender Entfernung umkreiſend. „Wir wollen uns überzeugen, daß wir dasſelbe meinen“, ſagte Grunthe. „Rings um die Inſel zieht ſich ein Kreis von pfeiler- oder ſäulenartigen Erhöhungen in gleichen Abſtänden.“ „Es ſtimmt“, ſagten die andern. „Ich habe ſie gezählt“, bemerkte Torm, „es ſind zwölf große, dazwiſchen je elf kleinere, im ganzen hundertvierundvierzig.“ „Und der ſeltſame Reflex über der ganzen Inſel?“ „Wiſſen Sie, es ſieht aus, als wäre die ganze Inſel mit einem Netz von ſpiegelnden metalliſchen Drähten oder Schienen überzogen, die wie die Speichen eines Rades vom Zentrum nach der Peripherie laufen.“ „Ja“, ſagte Torm, indem er ſich einen Augenblick erſchöpft niederſetzte, „und Sie werden gleich noch mehr ſehen, wenn Sie länger hinſchauen. Ich will es Ihnen ſagen.“ Seine Stimme klang rauh und heiſer. „Was Sie dort ſehen, iſt der Nordpol der Erde — aber, wir haben ihn nicht entdeckt.“ „Das fehlte gerade“, fuhr Saltner auf. „Dafür ſollten wir uns in dieſen pendelnden Frierkaſten geſetzt haben? Nein, Kapitän, entdeckt haben wir ihn, und was wir da ſehen, iſt kein Menſchenwerk. So verrückt wäre doch kein Menſch, hier Drähte zu ſpannen! Eher will ich glauben, daß die Erdachſe in ein großes Velozipedrad ausläuft, und daß wir wahrhaftig berufen ſind, ſie zu ſchmieren! Nur nicht den Mut verlieren!“ „Wenn es nicht Menſchen ſind“, ſagte Torm tonlos, „und ich weiß auch nicht, wie Menſchen dergleichen machen ſollten, und warum, und wo ſie herkämen — das hätte man doch erfahren — ſo — eine Täuſchung iſt es doch nicht — ſo ſteht mir der Verſtand ſtill.“ „Na“, ſagte Saltner, „Eisbären werden’s nicht gemacht haben, obgleich ich mich jetzt über nichts mehr wundern würde, und wenn gleich ein geflügelter Seehund käme und ‚Station Nordpol‘ ausriefe. Aber es könnte doch vielleicht eine Naturerſcheinung ſein, ein merkwürdiger Kriſtalliſationsprozeß — — Sakri! Jetzt hab ich’s. Das iſt ein Geiſir! Ein rieſiger Geiſir!“ „Nein, Saltner“, erwiderte Torm, „das habe ich auch ſchon gedacht — ein Schlammvulkan könnte etwa eine ähnliche Bildung zeigen. Aber — Sie haben wohl das Eigentliche, die Hauptſache, das — Unerklärliche noch nicht geſehen —“ „Was meinen Sie?“ „Ich hab’ es geſehen“, ſagte jetzt Grunthe. Er ſetzte das Fernrohr ab. Dann lehnte er ſich zurück und runzelte die Stirn. Auch um die feſt zuſammengezogenen Lippen bildeten ſich Falten, daß ſein Mund ausſah wie ein in Klammern geſetztes Minuszeichen. Er verſank in tiefes, ſorgenvolles Nachdenken. Saltner ergriff das Glas. „Achten Sie auf die Färbungen am Boden der ganzen Inſel!“ ſagte Torm zu ihm. „Es ſind Figuren!“ rief Saltner. „Ja“, ſagte Torm. „Und dieſe Figuren ſtellen nichts anderes dar als ein genaues Kartenbild eines großen Teils der nördlichen Halbkugel der Erde in perſpektiviſcher Polarprojektion. Sie ſehen deutlich den Verlauf der grönländiſchen Küſte, Nordamerika, die Beringſtraße, Sibirien, ganz Europa — mit ſeinen unverkennbaren Inſeln und Halbinſeln, das Mittelmeer bis zum Nordrand von Afrika, wenn auch ſtark verkürzt.“ „Es iſt kein Zweifel“, ſagte Saltner. „Die ganze Umgebung des Pols iſt in einem deutlichen Kartenbild in koloſſalem Maßſtab hier abgezeichnet, und zwar bis gegen den 30. Breitengrad.“ „Und wie iſt das möglich?“ Die Frage fand keine Antwort. Alle ſchwiegen. Inzwiſchen hatte der Ballon eine faſt vollſtändige Umkreiſung der Inſel vollzogen. Aber er hatte ſich derſelben auch noch um ein Stück genähert. Es war klar, daß er durch eine unbekannte Kraft, wohl durch eine wirbelförmige Bewegung der Luft, um die Inſel herumgeführt und zugleich nach der Achſe des Wirbels, die von der Mitte der Inſel ausgehen mochte, zu ihr hingezogen wurde. Torm unterbrach das Schweigen. „Wir müſſen einen Entſchluß faſſen“, ſagte er. „Wollen die Herren ſich äußern.“ „Ich will zunächſt einmal“, begann Saltner, „dieſe merkwürdige Erdkarte photographieren. Sie ſcheint ziemlich richtig ſelbſt in Details zu ſein. Daß ſie nicht von Menſchenhand herrühren kann, ſehen wir daraus daß auch die noch unbekannten Gegenden des Polargebietes dargeſtellt ſind. Die innere Öffnung, bei welcher die Karte abbricht, entſpricht in ihrem Umfange etwa dem 86. Breitengrade; es fehlen alſo — für uns leider — die nächſten vier Grade um den Pol herum.“ „Selbſtverſtändlich“, ſagte Torm, „müſſen Sie die Karte photographieren. Wir dürfen nicht mehr zweifeln, ein Werk intelligenter Weſen vor uns zu haben, wenn ich mir auch nicht erklären kann, wer dieſe ſein mögen. Aber wenn das richtig iſt, was wir kontrollieren können, ſo müſſen wir ſchließen, daß auch die Teile des Polargebietes nach den Nordküſten von Amerika und Sibirien hin zuverläſſig dargeſtellt ſind. Und dann hätten wir mit einem Schlage eine vollſtändige Karte dieſes bisher unerforſchten Polargebietes.“ „Nun, ich denke, wir können mit dieſem Erfolg ſchon zufrieden ſein. Und bedenken Sie, wie nützlich die Karte für unſere Rückkehr werden kann. So —“, damit brachte Saltner die photographiſche Kammer wieder an ihren Platz, „ich habe drei ſichere Aufnahmen. Aber der Ballon bewegt ſich ja ſchneller?“ „Ich glaube auch“, ſagte Torm. „Ich bitte nun um die Meinung der Herren, ſollen wir eine Landung auf der Inſel wagen, um dieſes Geheimnis zu erforſchen?“ „Ich meine“, äußerte ſich Saltner, „wir müſſen es verſuchen. Wir müſſen zuſehen, mit wem wir es hier zu tun haben.“ „Gewiß“, ſagte Torm, „die Aufgabe iſt verlockend. Aber es iſt zu befürchten, daß wir zuviel Gas verlieren, daß wir vielleicht die Möglichkeit aufgeben, den Ballon weiter zu benutzen. Was meinen Sie, Dr. Grunthe?“ Grunthe richtete ſich aus ſeinem Nachſinnen auf. Er ſprach ſehr ernſt: „Unter keinen Umſtänden dürfen wir landen. Ich bin ſogar der Anſicht, daß wir alle Anſtrengungen machen müſſen, um uns ſo ſchnell wie möglich von dieſem gefährlichen Punkt zu entfernen.“ „Worin ſehen Sie die Gefahr?“ „Nachdem wir die eigentümliche Ausrüſtung des Pols und die Abbildung der Erdoberfläche geſehen haben, iſt doch kein Zweifel, daß wir einer gänzlich unbekannten Macht gegenüberſtehen. Wir müſſen annehmen, daß wir es mit Weſen zu tun bekommen, deren Fähigkeiten und Kräften wir nicht gewachſen ſind. Wer dieſen Rieſenapparat hier in der unzugänglichen Eiswüſte des Polargebiets aufſtellen konnte, der würde ohne Zweifel über uns nach Gutdünken verfügen können.“ „Nun, nun“, ſagte Torm, „wir wollen uns darum nicht fürchten.“ „Das nicht“, erwiderte Grunthe, „aber wir dürfen den Erfolg unſerer Expedition nicht aufs Spiel ſetzen. Vielleicht liegt es im Intereſſe dieſer Polbewohner, den Kulturländern keine Nachricht von ihrer Exiſtenz zukommen zu laſſen. Wir würden dann ohne Zweifel unſere Freiheit verlieren. Ich meine, wir müſſen alles daranſetzen, das, was wir beobachtet haben, der Wiſſenſchaft zu übermitteln und es dann ſpäteren Erwägungen überlaſſen, ob es geraten ſcheint und mit welchen Mitteln es möglich ſei, das unerwartete Geheimnis des Pols aufzulöſen. Wir dürfen uns nicht als Eroberer betrachten, ſondern nur als Kundſchafter.“ Die andern ſchwiegen nachdenklich. Dann ſagte Torm: „Ich muß Ihnen recht geben. Unſere Inſtruktion lautet allerdings dahin, eine Landung nach Möglichkeit zu vermeiden. Wir ſollen mit möglichſtes Eile in bewohnte Gegenden zu gelangen ſuchen, nachdem wir uns dem Pol ſoweit wie angänglich genähert und ſeine Lage feſtgeſtellt haben, und wir ſollen verſuchen, einen Überblick über die Verteilung von Land und Waſſer vom Ballon aus zu gewinnen. Dieſer Geſichtspunkt muß entſcheidend ſein. Wir wollen alſo verſuchen, von hier fortzukommen.“ „Aber nach welcher Richtung?“ fragte Saltner. „Darüber könnte uns die Polarkarte der Inſel Auskunft geben.“ „Ich fürchte“, entgegnete Torm, „von unſerm guten Willen wird dabei ſehr wenig abhängen. Wir müſſen abwarten, was der Wind über uns beſchließen wird. Zunächſt laſſen Sie uns verſuchen, dieſem Wirbel zu entfliehen.“ Inzwiſchen hatte ſich der Ballon noch mehr der Inſel genähert, und ſeine Geſchwindigkeit begann zu wachſen. Zugleich aber erhob er ſich weiter über den Erdboden. Die Luftſchiffer ſpannten nun das Segel auf und gaben ihm eine ſolche Stellung, daß der Widerſtand der Luft ſie nach der Peripherie des Wirbels treiben mußte. Da aber der Ballon viel zu hoch ſchwebte, als daß das Schleppſeil ſeine hemmende Wirkung hätte ausüben können, ſo mußte das Manöver zuerſt verſagen. In immer engeren Spirallinien aufſteigend näherte ſich der Ballon dem Zentrum des Wirbels und vermehrte ſeine Geſchwindigkeit. In großer Beſorgnis verfolgten die Luftſchiffer den Vorgang. Sie beeilten ſich, die Länge des Schlepptaus zu vergrößern. Ihre vorzügliche Ausrüſtung geſtattete ihnen, ein Schlepptau von tauſend Metern Länge zu verwenden, an welches noch ein hundertundfünfzig Meter langer Schleppgurt mit Schwimmern kam. Aber auch dieſe ſtattliche Ausdehnung des Seiles reichte nicht bis auf die Oberfläche des Waſſers. „Es bleibt nichts übrig“, rief Torm endlich, „wir müſſen weiter niederſteigen.“ Er öffnete das Manöverventil. Das Gas ſtrömte aus. Der Ballon begann zu ſinken. „Wir wollen aber“, ſagte Torm, „da wir nicht wiſſen, wie wir hier davonkommen, doch verſuchen, eine Nachricht nach Hauſe zu geben. Laſſen Sie uns einige unſerer Brieftauben abſenden. Jetzt iſt der geeignete Moment. Was wir geſehen haben, muß man in Europa erfahren.“ Eilends ſchrieb er die nötigen Notizen auf den ſchmalen Streifen Papier, den er zuſammenrollte und in der Federpoſe verſiegelte, welche den Brieftauben angeheftet wurde. Saltner gab den Tierchen die Freiheit. Sie umkreiſten wiederholt den Ballon und entfernten ſich dann in einer Richtung, die von der Inſel fortführte. Torm ſchloß das Ventil wieder. Sie mußten jetzt jeden Augenblick erwarten, daß das Ende des Schlepptaus die Oberfläche des Waſſers berühre. Der Ballon näherte ſich ſeiner Gleichgewichtslage. Grunthe blickte durch das Relieffernrohr direkt nach unten, da es durch dieſes Inſtrument möglich war, den breiten Sackanker am Ende des Schleppgurts zu ſehen und den Abſtand desſelben vom Boden zu ſchätzen. Plötzlich griff er mit größter Haſt zur Seite, erfaßte den nächſten Gegenſtand, der ihm zur Hand war — es war das Futteral mit den beiden noch gefüllten Champagnerflaſchen — und ſchleuderte es in großem Bogen zum Korbe hinaus. „Sakri, was fällt ihnen ein“, rief Saltner entrüſtet, „werfen da unſern ſaubern Wein ins Waſſer.“ „Entſchuldigen Sie“, ſagte Grunthe, indem er ſich aus ſeiner gebückten Stellung aufrichtete, da er an der Bewegung der Wimpel bemerkte, daß der Ballon wieder im Steigen begriffen war. „Entſchuldigen Sie, aber das Fernrohr konnte ich doch nicht hinauswerfen, und es war keine halbe Sekunde zu verlieren — wir wären wahrſcheinlich verloren geweſen.“ „Was gab es denn?“ fragte Torm beſorgt. „Wir ſind nicht mehr über dem Waſſer, ſondern bereits am Rande der Inſel. Das Ende des Seils war wohl kaum weiter als zehn Meter von der Oberfläche der Inſel entfernt. Wir hätten ſie berührt, wenn nicht das Sinken des Ballons momentan aufgehört hätte. Glücklicherweiſe genügten die Flaſchen, unſern Fall aufzuhalten.“ „Und glauben Sie denn, daß wir die Inſel nicht berühren dürfen?“ „Ich glaube es nicht, ich weiß es.“ „Wieſo?“ „Wir wären hinabgezogen worden.“ „Ich kann noch nicht einſehen, woraus Sie das ſchließen.“ „Sie haben mir doch beigeſtimmt“, ſagte Grunthe, „daß wir es nicht darauf ankommen laſſen dürfen, in die Macht der unbekannten Weſen — ſie mögen nun ſein, wer ſie wollen — zu geraten, welche dieſen unerklärlichen Apparat und dieſe Koloſſalkarte am Nordpol hergeſtellt haben. Es iſt aber wohl keine Frage, daß dieſer Apparat, an den wir mehr und mehr herangezogen werden, nicht ſich ſelbſt überlaſſen hier ſtehen wird. Sicherlich iſt die Inſel bewohnt, es befinden ſich die geheimnisvollen Erbauer wahrſcheinlich in oder unter jenen Dächern und Pfeilern, die wir mit unſern Fernrohren nicht durchdringen können. Es iſt anzunehmen, daß ſie unſern Ballon längſt bemerkt haben, und ſo ſchließe ich denn, daß ſie denſelben ſofort zu ſich hinabziehen würden, ſobald unſer Schleppſeil in das Bereich ihrer Arme gelangt.“ „Gott ſei Dank“, rief Saltner, „daß Sie den dunkeln Polgäſten wenigſtens Arme zuſprechen; es iſt doch ſchon ein menſchlicher Gedanke, daß man ihnen zur Not in die Arme fallen kann.“ Torm unterbrach ihn. „Ich kann mich immer noch nicht recht dazu verſtehen“, ſagte er, „an eine ſolche überlegene Macht zu glauben. Das widerſpräche ja doch allem, was bisher in der Geſchichte der Polarforſchung, ja der Entdeckungsreiſen überhaupt vorgekommen iſt. Freilich die Karte —, aber was denken Sie überhaupt über dieſe Inſel? Sie ſprachen von einem Apparat, ſo ein Apparat müßte doch einen Zweck haben—“ „Den wird er ohne Zweifel haben, wir ſind nur nicht in der Lage, ihn zu kennen oder zu begreifen. Denken Sie, daß Sie einen Eskimo vor die Dynamomaſchine eines Elektrizitätswerks ſtellen; daß das Ding einen Zweck hat, wird er ſich ſagen, aber was für einen, das wird er nie erraten. Wie ſoll er begreifen, daß die Drähte, die von hier ausgehen, ungeheure Energiemengen auf weite Strecken verteilen, daß ſie dort Tageshelle erzeugen, dort ſchwere Wagen mit Hunderten von Menſchen mit Leichtigkeit hingleiten laſſen? Wenn der Eskimo ſich über die Dynamomaſchine äußert, ſo wird es jedenfalls eine ſo kindiſche Anſicht ſein, daß wir ſie belächeln. Und um nicht dieſem unbekannten Apparat gegenüber die Rolle des Eskimo zu ſpielen, will ich mich lieber gar nicht äußern.“ Torm ſchwieg nachdenklich. Dann ſagte er: „Was mich am meiſten beunruhigt, iſt dieſe unerklärliche Anziehungskraft, die die Achſe der Inſel auf unſern Ballon ausübt. Und ſehen Sie, ſeitdem wir kein Gas mehr ausſtrömen laſſen, beginnt der Ballon wieder rapid zu ſteigen. Dabei wird er fortwährend um das Zentrum der Inſel herumgetrieben.“ „Und wer ſagt Ihnen, was geſchieht, wenn wir in die Achſe ſelbſt geraten? Ich halte unſere Situation für geradezu verzweifelt, aus dem Wirbel können wir nur heraus, wenn wir uns ſinken laſſen. Dann aber geraten wir in die Macht der unbekannten Inſulaner.“ „Und dennoch“, ſagte Torm, „werden wir uns entſchließen müſſen.“ Alle drei ſchwiegen. Mit düſteren Blicken beobachteten Torm und Grunthe die Bewegungen des Ballons, während Saltner die Inſel mit dem Fernrohr unterſuchte. Mehr und mehr verſchwanden die Details, die vorher deutlich ſichtbar waren, ein Zeichen, daß der Ballon mit großer Geſchwindigkeit ſtieg, auch wenn die Inſtrumente, ja ſelbſt die zunehmende Kälte, dies nicht angezeigt hätten. Da — was war das? — auf der Inſel zeigte ſich eine Bewegung, ein eigentümliches Leuchten. Saltner rief die Gefährten an. Sie blickten hinab, konnten aber mit ihren ſchwächeren Inſtrumenten nur bemerken, daß ſich helle Punkte vom Zentrum nach der Peripherie hin bewegten. Saltner ſchien es durch ſein ſtarkes Glas, als wenn eine Reihe von Geſtalten mit weißen Tüchern winkende Bewegungen ausführte, die alle vom Innern der Inſel nach außen hin wieſen. „Man gibt uns Zeichen“, ſagte er. „Sehen Sie hier durch das ſtarke Glas!“ „Das kann nichts anderes bedeuten“, rief Torm, „als daß wir uns von der Achſe entfernen ſollen. Aber ſo klug ſind wir ſelbſt — wir wiſſen nur nicht wie.“ „Wir müſſen das Entleerungs-Ventil öffnen“, ſagte Saltner. „Dann ergeben wir uns auf Gnade und Ungnade“, rief Grunthe. „Und doch wird uns nichts übrig bleiben“, bemerkte Torm. „Und was ſchadet es?“ fragte Saltner. „Vielleicht wollen jene Weſen nur unſer Beſtes. Würden ſie uns ſonſt warnen?“ „Wie dem auch ſei — wir dürfen nicht höher ſteigen“, ſagte Torm. „Wir werden ja geradezu in die Höhe geriſſen.“ Schon hatten ſich alle dicht in ihre Pelze gewickelt. „Warten wir noch“, ſagte Grunthe, „wir ſind immer noch gegen hundert Meter von der Achſe der Inſel entfernt. Die Trübung hat ſich genähert, wir kommen in eine Wolkenſchicht. Vielleicht gelangt doch der Ballon endlich ins Gleichgewicht.“ „Unmöglich“, entgegnete Torm. „Wir haben bereits gegen 4.000 Meter erreicht. Der Ballon war im Gleichgewicht, als das Gewicht des Futterals mit den Champagnerflaſchen ſeine Bewegung zu ändern vermochte. Wenn er jetzt mit ſolcher Geſchwindigkeit ſteigt, ſo iſt das ein Zeichen, daß uns eine äußere Kraft in die Höhe führt, die um ſo ſtärker wird, je mehr wir uns dem Zentrum nähern.“ „Ich muß es zugeben“, ſagte Grunthe. „Es iſt gerade, als wenn wir uns in einem Kraftfeld befänden, das uns direkt von der Erde abſtößt. Sollen wir einen Verſuchsballon ablaſſen?“ „Kann uns nichts Neues mehr ſagen — es iſt zu ſpät. Da — wir ſind in den Wolken.“ „Alſo hinunter!“ rief Saltner. Torm riß das Landungsventil auf. Der Ballon mäßigte ſeine aufſteigende Bewegung, aber zu ſinken begann er nicht. Die Blicke der Luftſchiffer hingen an den Inſtrumenten. Wenige Minuten mußten ihr Schickſal entſcheiden. Das Gas ſtrömte in die verdünnte Luft mit großer Gewalt aus. Brachte dies den Ballon nicht bald zum Sinken, ſo war es klar, daß ſie die Herrſchaft über das Luftmeer verloren hatten. Sie befanden ſich dann einer Gewalt gegenüber, die ſie, unabhängig von dem Gleichgewicht ihres Ballons in der Atmoſphäre, von der Erde forttrieb. Und der Ballon ſank nicht. Eine Zeitlang ſchien es, als wollte er ſich auf gleicher Höhe halten, aber die wirbelnde Bewegung hörte nicht auf, die ihn der Achſe der Inſel entgegentrieb. Dieſe Achſe, daran war ja kein Zweifel, war nichts anderes als die Erdachſe ſelbſt, jene mathematiſche Linie, um welche die Rotation der Erde erfolgt. Immer ſtärker wurden ſie zu ihr hingezogen. Aber je näher ſie ihr kamen, um ſo heftiger wurde der Ballon noch oben gedrängt. Schon begannen ſich die körperlichen Beſchwerden einzuſtellen, welche die Erhebung in die verdünnten Luftſchichten begleiten. Alle klagten über Herzklopfen. Saltner mußte das Fernrohr hinlegen, vor ſeinen Augen verſchwammen die Gegenſtände. Atemnot ſtellte ſich ein. „Es bleibt nichts andres übrig“, rief Torm. „Die Reißleine!“ Grunthe ergriff die Reißleine. Die Zerreißvorrichtung dient dazu, einen Streifen der Ballonhülle in der Länge des ſechsten Teils des Ballonumfangs aufzureißen, um den Ballon im Notfall binnen wenigen Minuten des Gaſes zu entleeren. Aber — die Vorrichtung verſagte! Er zerrte an der Leine — ſie gab nicht nach. Sie mußte ſich am Netzwerk des Ballons verfangen haben. Es war jetzt unmöglich, den Schaden zu reparieren. Der Ballon ſtieg weiter. Von der Erde war nichts mehr zu ſehen, man blickte auf Wolken. „Die Sauerſtoffapparate!“ kommandierte Torm. Obwohl man die Abſicht hatte, ſich ſtets in geringer Höhe zu halten, konnte man doch nicht wiſſen, ob nicht die Umſtände ein Aufſteigen in die höchſten Regionen mit ſich bringen wurden. Für dieſen Fall hatte man ſich mit komprimiertem Sauerſtoff zur Atmung verſehen. Es war jetzt notwendig, die künſtliche Atmung anzuwenden. Die Forſcher fühlten ſich neu geſtärkt; aber immer furchtbarer wurde die Kälte. Sie merkten, wie ihre Gliedmaßen zu erſtarren drohten. Die Naſe, die Finger wurden gefühllos, ſie verſuchten ihnen durch Reiben den Blutzufluß wieder zuzuführen. Der Ballon ſtieg rettungslos weiter, und zwar immer ſchneller, je mehr er ſich dem Zentrum näherte. Siebentauſend — achttauſend — neuntauſend Meter zeigte das Barometer im Verlauf einer Viertelſtunde an. Die größte Höhe, welche je von Menſchen erreicht worden war, wurde nun überſchritten. Untätig ſaßen die Männer zuſammengedrängt — ſie hatten den künſtlichen Verſchluß der Gondel hergeſtellt, da ſie nichts mehr am Ballon ändern konnten. Sie vermochten nichts zu tun, als ſich gegen die Kälte zu ſchützen. Kein Mittel der Rettung zeigte ſich — ihre Tatkraft begann unter dem Einfluß der vernichtenden Kälte zu erlahmen. Der Flug in die Höhe war unhemmbar — nichts mehr konnte ſie retten vor dem Erfrieren — oder vor dem Erſticken. — Was würde geſchehen? Es war ja gleichgültig. Und doch, immer wieder raffte ſich der eine oder andere mit Anſtrengung aller Willenskräfte auf — noch ein Blick auf die Inſtrumente — die Thermometer waren längſt eingefroren — und — kaum glaublich — das Barometer zeigte einen Druck von nur noch 50 Millimeter, das heißt, ſie befanden ſich zwanzig Kilometer über der Erdoberfläche. Und jetzt — ſchien es nicht, als käme der Ballon zu ihnen herab? Die entleerte Seidenhülle ſenkte ſich über die Gondel — die Gondel flog ſchneller als der Ballon — wie aus einer Kanone geſchoſſen fuhr ſie in die Seide des Ballons hinein, die Inſaſſen der Gondel waren verſtrickt in das Gewirr von Stoff und Seilen — halb ſchon bewußtlos bemerkten ſie kaum noch den Stoß der ſie traf — ſie waren in die Achſe des von der Inſel ausgehenden Wirbels geraten. — — Sie befanden ſich ſenkrecht über dem Pol der Erde — das Ziel war erreicht, dem ſie ſo hoffnungsfroh entgegengeſtrebt hatten. Weit unter ihnen im hellen Sonnenſcheine lagen die glänzenden Wolkenſtreifen und fern im Süden das grünlich ſchimmernde Land ausgebreitet, die kühnen Forſcher aber ſahen nichts mehr davon. Ohnmächtig, erſtickt — erdrückt von der Laſt des Ballons, flogen ſie, eine formloſe Maſſe bildend, in der Richtung der Erdachſe den Grenzen der Atmoſphäre entgegen. 3. Die Bewohner des Mars