Der September hatte begonnen. Noch immer beſchrieb die Sonne ohne unterzugehen den vollen Kreis des Himmels, aber ſie ſtand nur noch wenige Grad über dem Horizont. Schon ſtreifte ſie nahe an die höchſten Gipfel der Berge, welche an einzelnen Stellen die Steilufer des Polarbaſſins überragten. Der lange Polartag neigte ſich ſeinem Ende zu. Wie in einem ewigen Untergang wanderte der rieſige Glutball der Sonne rings um die Inſel, meiſt drang ſie nur ſtrahlenlos wie eine rote Scheibe durch die Nebel, und ein breites, roſig glühendes Band zog ſich durch die leiſe wogenden Fluten ihr entgegen und folgte ihrem Lauf als ein natürlicher Stundenzeiger um den Pol.
Die beiden deutſchen Nordpolfahrer verbrachten ihre Tage wie in einem köſtlichen Märchen. Hätte nicht der Gedanke an den verlorenen Gefährten auf ihre Stimmung niederdrückend gewirkt und den Genuß der Gegenwart gedämpft, nichts Freudigeres und Erhebenderes wäre denkbar geweſen als der beglückende Verkehr mit den Bewohnern der Polinſel, die, wie ſie jetzt erfuhren, den Namen Ara führte, zu Ehren des erſten Weltraumſchiffers Ar.
Die Martier behandelten die beiden Erdbewohner als ihre Gäſte, denen jede Freiheit geſtattet war. Gegenüber den kleinen, unanſehnlichen, ſchmutzigen und tranduftenden Eskimos erſchienen ihnen die ſtattlichen Figuren der Europäer in ihrer reinlichen Tracht ſchon äußerlich als Weſen verwandter Art. Nicht wenig trug dazu die körperliche Überlegenheit bei, welche die Martier, ſobald ſie ſich nicht im Schutz des abariſchen Feldes befanden, an den Menſchen anerkennen mußten. Aufrecht und leicht ſchritten dieſe einher und verrichteten ſpielend Arbeiten, denen die unter dem Druck der Erdſchwere gebeugt einherſchleichenden Martier nicht gewachſen waren. Denn auch Grunthe war nach wenigen Tagen wieder in ſeiner Geſundheit völlig hergeſtellt und ſpürte keinerlei üble Folgen ſeiner Fußverletzung. Saltner aber hatte ſich durch die entſchloſſene und geſchickte Rettung Las die Achtung der Martier erworben.
Überraſchend ſchnell hatte ſich das gegenſeitige Verſtändnis durch die Sprache angebahnt. Dies war natürlich hauptſächlich durch die glückliche Auffindung der kleinen deutſch-martiſchen Sprachanweiſung gelungen. Es zeigte ſich, daß dieſe von ihrem Verfaſſer Ell ganz ſpeziell für diejenigen Bedürfniſſe ausgearbeitet war, die ſich bei einem erſten Zuſammentreffen der Menſchen mit den Martiern für beide Teile herausſtellen würden. Denn es waren darin weniger die alltäglichen Gebrauchsgegenſtände und Beobachtungen berückſichtigt, über welche man ſich ja leicht durch die Anſchauung direkt verſtändigen kann, wie Speiſe und Trank, Wohnung, Kleidung, Gerätſchaften, die ſichtbaren Naturerſcheinungen und ſo weiter; vielmehr fanden ſich gerade die Ausdrücke für abſtraktere Begriffe, für kulturgeſchichtliche und techniſche Dinge darin verzeichnet, ſo daß es Grunthe und Saltner möglich wurde, ſich über dieſe Gedankenkreiſe mit den Martiern zu beſprechen. Ell hatte offenbar vorausgeſehen, daß, wenn wiſſenſchaftlich gebildete Europäer mit den in der Kultur ihnen überlegenen Martiern zuſammenkämen, das Hauptintereſſe darin beſtehen müßte, ſich gegenſeitig über die allgemeinen Bedingungen ihres Lebens zu unterrichten.
Es erregte übrigens bei den Martiern keine geringere Verwunderung wie bei den beiden Forſchern, daß auf Erden ein Menſch exiſtiere, der ſowohl die Sprache und Schrift der Martier beherrſchte als auch eine ziemlich zutreffende Kenntnis der Verhältniſſe auf dem Mars beſaß. Aus gewiſſen Einzelheiten ſchloſſen ſie allerdings, daß dieſe Kenntnis ſich nur auf weiter zurückliegende Ereigniſſe bezog, daß insbeſondere die Tatſache der Marskolonie am Pol der Erde dem Verfaſſer des Sprachführers nicht bekannt war, wohl aber das Projekt der Martier, die Erde an einem ihrer Pole zu erreichen. Der Name Ell war in einigen Landſchaften des Mars nicht ſelten. Die gegenwärtigen Polbewohner erinnerten ſich der Berichte, daß bei den erſten Entdeckungsfahrten nach der Erde mehrfach Fahrzeuge verſchollen waren, ohne daß man jemals etwas über das Schickſal der kühnen Pioniere des Weltraums hatte erfahren können. Von einem berühmten Raumfahrer, dem Kapitän All, wußte man ſogar gewiß, daß er mit mehreren Gefährten infolge eines unglücklichen Zufalls auf der Erde zurückgelaſſen worden war, allerdings unter Umſtänden, welche allgemein an ſeinen baldigen Untergang glauben ließen. Immerhin war es wohl denkbar, daß einer oder der andere dieſer Martier zu Menſchen ſich gerettet und die Kunde vom Mars dahin gebracht hätte. Dieſe Ereigniſſe aber lagen dreißig bis vierzig Erdenjahre zurück, und jene Männer ſelbſt waren alle in vorgeſchrittenerem Alter geweſen, da eine Beteiligung jüngerer Leute an jenen erſten, unſicheren Fahrten nicht bekannt war. Ell ſelbſt, der etwa mit Grunthe gleichaltrig oder nur ein wenig älter war, konnte alſo nicht zu ihnen gehören. Und Grunthe wie Saltner konnten verſichern, daß von einem Auftauchen eines Marsbewohners, ja überhaupt von der Exiſtenz ſolcher Weſen, auf der Erde nichts bekannt ſei. Ell war der einzige, der ein ſolches Wiſſen beſaß, dies aber bis auf jene beiläufigen Redensarten, die Grunthe nicht ernſthaft genommen, durchaus verborgen gehalten hatte. Wie er ſelbſt dazu gekommen war, blieb ebenſo unaufgeklärt wie die Umſtände, durch welche jene Sprachanweiſung in das Flaſchenfutteral gelangt ſein konnte, das Frau Isma Torm der Expedition als eine ſcherzhafte Überraſchung am Nordpol mitgegeben hatte.
Den Bemühungen der Deutſchen, ſich die Sprache der Marsbewohner anzueignen, kamen dieſe bereitwillig entgegen, ſo daß Saltner und insbeſondere Grunthe ſehr bald ein Geſpräch auf martiſch führen konnten; gleichzeitig fand es ſich, daß auch die Martier, welche den täglichen Umgang der beiden bildeten, das Deutſche beherrſchten. Erſteres wurde dadurch möglich, daß die Verkehrsſprache der Martier außerordentlich leicht zu erlernen und glücklicherweiſe für eine deutſche Zunge auch leicht auszuſprechen war. Sie war urſprünglich die Sprache derjenigen Marsbewohner geweſen, die auf der Südhalbkugel des Planeten in der Gegend jener Niederungen wohnten, welche von den Aſtronomen der Erde als Lockyer-Land bezeichnet werden. Von hier war die Vereinigung der verſchiedenen Stämme und Raſſen der Martier zu einem großen Staatenbund ausgegangen, und die Sprache jener Ziviliſatoren des Mars war die allgemeine Weltverkehrsſprache geworden. Durch einen Hunderttauſende von Jahren dauernden Gebrauch hatte ſie ſich ſo abgeſchliffen und vereinfacht, daß ſie der denkbar glücklichſte und geeignetſte Ausdruck der Gedanken geworden war; alles Entbehrliche, alles, was Schwierigkeiten verurſachte, war abgeworfen worden. Deswegen konnte man ſie ſich ſehr ſchnell ſoweit aneignen, daß man ſich gegenſeitig zu verſtehen vermochte, wenn es auch außerordentlich ſchwierig war, in die Feinheiten einzudringen, die mit der äſthetiſchen Anwendung der Sprache verbunden waren.
Übrigens war dies nur die Sprache, die jeder Martier beherrſchte. Neben derſelben aber gab es zahlloſe, ſehr verſchiedene und in ſteter Umwandlung begriffene Dialekte, die bloß in verhältnismäßig kleinen Gebieten geſprochen wurden, endlich ſogar Idiome, die allein im Kreis einzelner Familiengruppen verſtanden wurden. Denn es zeigte ſich als eine Eigentümlichkeit der Kultur der Martier, daß der allgemeinen Gleichheit und Nivellierung in allem, was ihre ſoziale Zuſammengehörigkeit als Bewohner desſelben Planeten anbetraf, eine ebenſo große Mannigfaltigkeit und Freiheit des individuellen Lebens entſprach. Wenn ſo die ſchnelle Erfaßbarkeit des Martiſchen den Deutſchen zugute kam, ſo brachte die erſtaunliche Begabung der Martier andererſeits zuwege, daß ſie ſich wie ſpielend das Deutſche aneigneten. Gegenüber dem verwirrenden Formenreichtum des Grönländiſchen erſchien ihnen das Deutſche weſentlich leichter. Was aber die ſchnellere Erlernung desſelben hauptſächlich bewirkte, war der Umſtand, daß das Deutſche als Sprache eines hochentwickelten Kulturvolkes dem geiſtigen Niveau der Martier ſoviel näherſtand. Was der Grönländer in ſeiner Sprache auszudrücken wußte, die konkrete Art, wie er es nur ausdrücken konnte, der enge Intereſſenkreis, auf den ſich das Leben des Eskimo beſchränkte, das alles war dem Martier ſehr gleichgültig, und er beſchäftigte ſich damit nur, weil er bisher kein anderes Mittel beſaß, mit Bewohnern der Erde in Verkehr zu treten. Ganz anders aber wurde das Intereſſe der Martier erregt, als ſie mit Grunthe und Saltner Geſprächsthemata berühren konnten, die ihrem eigenen gewohnten Gedankenkreis näherlagen. Im Deutſchen fanden ſie eine Sprache, reich an Ausdrücken für abſtrakte Begriffe, und dadurch verwandt und angemeſſen ihrer eigenen Art zu denken. Die Überlegenheit, mit welcher die Martier die komplizierteſten Gedankengänge behandelten und in einem allgemeinen Begriff jede einzelne ſeiner Anwendungen mit einemmal überblickten, dieſe bewundernswerte Feinheit der Organiſation des Martiergehirns kam den Deutſchen zum erſtenmal zum vollen Bewußtſein, als ſie die Gewandtheit bemerkten, mit welcher die Martier das Deutſche nicht nur erfaßten und gebrauchten, ſondern gewiſſermaßen aus dem einmal begriffenen Grundcharakter die Sprache mit genialer Kraft nachſchufen.
Grunthe und Saltner wurde es ſehr bald klar, daß die Martier geiſtig in ganz unvergleichlicher Weiſe höher ſtanden als das ziviliſierteſte Volk der Erde, wenn ſie auch noch nicht zu überſehen vermochten, wie weit dieſe höhere Kultur reiche und was ſie bedeute. Ein Gefühl der Demütigung, das ja nur zu natürlich war, wenn der Stolz des deutſchen Gelehrten einer höheren Intelligenz ſich beugen mußte, wollte im Anfang die Gemüter verſtockt machen. Aber es konnte nicht lange vor der übermächtigen Natur der Martier beſtehen. Es wich widerſtandslos der ungeteilten Bewunderung dieſer höheren Weſen. Neid oder Ehrgeiz, es ihnen gleichzutun, konnten bei den Menſchen gar nicht aufkommen, weil ſie ſich nicht einfallen laſſen durften, ſich mit den Martiern auf dieſelbe Stufe der Einſicht ſtellen zu wollen.
Freilich wurden ſie von den Martiern wie Kinder behandelt, denen man ihre Torheit liebevoll nachſieht, während man ſie zu beſſerem Verſtändnis erzieht. Aber davon merkten Grunthe und Saltner nichts. Denn die Martier, wenigſtens diejenigen der Inſel, waren viel zu klug und taktvoll, als daß ſie je ihre Überlegenheit in direkter Weiſe geltend gemacht hätten. Sie wußten es ſo einzurichten, daß den Menſchen die Berichtigung ihrer Irrtümer als Reſultat der eigenen Arbeit erſchien, und ihre unvermeidlichen Mißgriffe korrigierten ſie mit entſchuldigender Liebenswürdigkeit.
Die Wunder der Technik, welche die Forſcher bei jedem Schritt auf der Inſel umgaben, verſetzten ſie in eine neue Welt. Sie fühlten ſich in der beneidenswerten Lage von Menſchen, die ein mächtiger Zauberer der Gegenwart entrückt und in eine ferne Zukunft geführt hat, in welcher die Menſchheit eine höhere Kulturſtufe erklommen hat. Die kühnſten Träume, die ihre Phantaſie von der Wiſſenſchaft und Technik der Zukunft ihnen je vorgeſpiegelt hatte, ſahen ſie übertroffen. Von den tauſend kleinen automatiſchen Bequemlichkeiten des täglichen Lebens, die den Martiern jede perſönliche Dienerſchaft erſetzten, bis zu den Rieſenmaſchinen, die, von der Sonnenenergie getrieben, den Marsbahnhof in ſechstauſend Kilometer Höhe ſchwebend erhielten, gab es eine unerſchöpfliche Fülle neuer Tatſachen, die zu immer neuen Fragen drängten. Bereitwillig gaben die Wirte ihren Gäſten Auskunft, aber in den meiſten Fällen war es gar nicht möglich, ihnen den Zuſammenhang zu erklären, weil ihnen die Vorkenntniſſe fehlten. Grunthe war in dieſer Hinſicht ſo vorſichtig, nicht viel zu fragen; er ſuchte ſich auf ſeine eigne Weiſe zurechtzufinden, ſobald er ſah, daß die Erklärung der Martier über ſeinen Horizont ging. Saltner machte ſich weniger Skrupel darüber. „Das hilft nun nichts“, pflegte er zu ſagen, „wir ſpielen einmal hier die wilden Indianer, und was wir nicht begreifen, iſt Medizin.“
Als ihnen Hil zum erſtenmal die Einrichtung erklärt hatte, wodurch ſich die Martier in ihren Zimmern den Druck der Erdſchwere erleichterten, und Grunthe mit zuſammengekniffenen Lippen in tiefes Nachdenken verfiel, ſagte Saltner einfach: „Medizin“ und hob Grunthe ſamt dem Stuhl, auf welchem er ſaß, mit ausgeſtreckten Armen über ſeinen Kopf. Dieſe Kraftleiſtung war zwar für ihn bei der auf ein Drittel verringerten Erdſchwere durchaus nichts Beſonderes, ließ ihn aber doch den Martiern als einen Rieſen an Stärke erſcheinen.
Das Zimmer, welches an die beiden Schlafzimmer von Grunthe und Saltner ſtieß, war für den bequemen Verkehr der Martier mit den Menſchen in eigentümlicher Weiſe eingerichtet worden. Da nämlich die Verringerung der Erdſchwere, deren die Martier für die Leichtigkeit ihrer Bewegungen bedurften, von Grunthe und Saltner nicht gut vertragen wurde, ſo hatte man es durch eine am Boden markierte Linie — Saltner nannte ſie den ‚Strich‘ — in zwei Teile zerlegt. Der abariſche Apparat konnte für die Hälfte des Zimmers, welche an die Wohnräume der Menſchen grenzte, ausgeſchaltet werden, während in dem übrigen Teil die Gegenſchwere auf das den Martiern gewohnte Maß eingeſtellt wurde. Hier hielten ſich die Martier auf, wenn ſie bei den Deutſchen ihre Beſuche machten, während dieſe ſich nach ihren Wünſchen eingerichtet hatten, ſoweit es mit den von den Martiern bereitwillig hergegebenen Möbeln und den wenigen von ihnen ſelbſt mitgebrachten Gegenſtänden geſchehen konnte. Freilich beſchränkte ſich dieſe Einrichtung nur auf die Aufſtellung eines Arbeitstiſches, einiger Bücher, Schreibmaterialien und Inſtrumente; denn in dieſer Hinſicht wußten die Forſcher nur in der ihnen gewohnten Weiſe auszukommen. Was im übrigen die Bequemlichkeiten des täglichen Lebens anbetraf, ſo waren ſie nicht nur auf die Apparate und Gewohnheiten der Martier angewieſen, ſondern fanden dieſelben auch bald um ſo viel vorteilhafter und angenehmer, daß ſie gern darüber nachdachten, wie ſie dergleichen in ihre Heimat verpflanzen könnten.
Saltner, der ſeinen photographiſchen Apparat unter den geretteten Gegenſtänden wiedergefunden hatte, konnte kaum Zeit genug gewinnen, alle die Ausſtattungsſtücke der Martier aufzunehmen und die gänzlich neuen Formen der Verzierungen, die Gemälde, Kunſtwerke und Zimmerpflanzen abzubilden. Ein beſonderes Studium machte er aus den Automaten, deren Mechanismus er zu ergründen ſuchte und ſich immer wieder aufs neue erklären ließ.
Seine Beraterin in dieſen Dingen war in der Regel die immer heitere Se, ſeine liebenswürdige Pflegerin beim erſten Erwachen. Sie hielt ſich täglich einen großen Teil ihrer Zeit über in dem gemeinſchaftlichen Geſellſchaftszimmer auf und machte den Gäſten gewiſſermaßen die Honneurs des Hauſes. Dagegen bekam Saltner La nur ſelten zu ſehen, gewöhnlich nur des Abends, wenn ſich die Martier in größerer Anzahl einzuſtellen pflegten. Und dann hielt ſie ſich gern zurück, obwohl er oft fühlte, daß ihre großen Augen mit einem ſinnenden Ausdruck auf ihm ruhten. Sein lebhaftes Geſpräch mit Se aber unterbrach ſie häufig durch eine Neckerei. Da man ſich meiſt bei geöffneten Fernhörklappen unterhielt, ſo konnte man, ſobald man wollte, einem Geſpräch in einem andern Zimmer zuhören und ſich hineinmiſchen; ſo war es nichts Ungewöhnliches, daß man von einem Zwiſchenruf eines ungeahnten Zuhörers unterbrochen wurde. Ebenſowenig aber nahm es jemand übel, wenn man einfach ſeine Klappe abſchloß.
Die Sprachſtudien waren ſpeziell zwiſchen La und Saltner nicht wieder aufgenommen worden. Denn La hatte noch mehrere Tage nach ihrem Unfall ſich vollkommener Ruhe hingeben müſſen, und als ſie wieder geſundet war, fand ſie das gegenſeitige Verſtändnis zwiſchen Menſchen und Martiern ſchon ziemlich weit vorgeſchritten. Aber auch ſie hatte ihre unfreiwillige Muße benutzt und nicht nur den Ellſchen Sprachführer, ſondern auch die wenigen Nachſchlagwerke, welche die Luftſchiffer mit ſich hatten, durchſtudiert.
Trotz des Eindrucks, den die reizende Se auf Saltners empfängliches Gemüt machte, flogen ſeine Gedanken immer zu der ſtilleren, milden La zurück, und es war ihm ſtets wie eine leichte Enttäuſchung, wenn er ſie im Zimmer nicht vorfand. Gerade daß er öfter ihre tiefe Stimme vernahm, ließ ihn ihren Anblick um ſo mehr vermiſſen.
Las Zurückhaltung war nicht abſichtslos. Daß ſowohl ſie wie Se eine unentrinnbare Gefahr für Saltners Herz waren, lag ja für beide auf der Hand, nachdem ſie ſich überhaupt erſt an den Gedanken gewöhnt hatten, daß ein Menſch ſich verlieben könne. Was aber Se höchſt komiſch vorkam und als äußerſt ſpaßhaft erſchien, das vermochte La ſo harmlos nicht anzuſehen. Der ‚arme Menſch‘, mit dem Se ſich ſo luſtig unterhielt, war ihr doch in einem andern Licht erſchienen, damals, als er, in ſeinem eignen Element tätig, Leiſtungen verrichtete, die über das Vermögen der Nume hinausgingen.
Sie konnte den Moment nicht vergeſſen, in welchem ſie ſich in ſeinen ſtarken Armen vom vernichtenden Abgrund zurückgeriſſen fühlte. Und ſo blieb es ihr immer gegenwärtig, daß dieſes Spielzeug der erhabenen Nume, wenn auch nur ein Menſch, doch ein freies Lebeweſen ſei, kein ebenbürtiger Geiſt, aber vielleicht ein ebenbürtiges Herz. Ein doppeltes Mitleid ſtritt mit ſich ſelbſt in ihrer Seele, ſie vermochte ihn nicht zu kränken durch Kälte und Zurückweiſung, und ſie wollte nicht Gefühle erwecken, die ihm doch nur zu größerem Leid werden konnten. Wer kann wiſſen, wie Menſchenherzen fühlen mögen? Vielleicht waren die Menſchen viel ſtärker in ihren Gefühlen als in ihrem Verſtand. Und ſie war Saltner zu dankbar, um nicht für ihn zu denken, was er wohl nicht verſtand. — Aber was tun?
Wäre Saltner ein Martier geweſen, ſo hätte es keiner Vorſicht für La bedurft. Er hätte dann gewußt, daß ihre Freundlichkeit und ſelbſt ihre Zärtlichkeit nichts bedeuteten als das äſthetiſche Spiel bewegter Gemüter, das die Freiheit der Perſon nicht beſchränken kann. Wie jedoch mochten Menſchen in dieſem Fall denken? Durfte ſie hierin ohne weiteres gleiche Sitten vorausſetzen? Und würde er wohl verſtehen, was von vornherein und immer den Menſchen, den wilden Erdbewohner, von der heiteren Freiheit des erhabenen Numen trennte? Und lief er nicht Gefahr, bei Se demſelben Schickſal zu verfallen, vor dem ſie ihn ſelbſt zu behüten ſuchte?
Wenn ſie Se ihre Bedenken andeutete, ſo lachte dieſe nur.
„Aber La“, ſagte ſie, „du biſt auch gar zu bedächtig! Ich bitte dich, er iſt ja bloß ein Menſch! Es iſt doch furchtbar komiſch, wenn der ſich Mühe gibt, ſo recht liebenswürdig zu ſein.“
„Du kannſt aber nicht wiſſen“, antwortete La, „ob ihm auch ſo furchtbar komiſch zumute iſt. Ein Tier, das wir necken, ſcheint uns oft äußerſt lächerlich, und ich muß dann doch immer denken, daß es vielleicht bitter dabei leidet. Und ein Menſch iſt doch nicht bloß komiſch —“
„Ich habe freilich noch keinen in einer Eisgrube geſehen“, ſagte Se, „doch ich glaube, du brauchſt dir um den keine Sorge zu machen. Wenn es dich aber beruhigt, ſo kann man ihn ja leicht merken laſſen, wie’s gemeint iſt —“
„Ich will ihn aber nicht kränken.“
„Im Gegenteil, wir machen gemeinſame Sache. Wir binden ihn beide.“
„Meinſt du, daß ein Menſch das Spiel verſteht?“
„Na, wenn er ſo dumm iſt —“
„Wir wiſſen doch gar nichts von den Anſchauungen —“
„So werden wir uns eben alle drei belehren. Schade, daß der ſteife Grunthe nicht mitſpielen kann. Willſt du?“
„Ich werde mir’s überlegen.“
La zog ſich zu ihren Studien zurück. Se begab ſich in das Geſellſchaftszimmer, wo ſie Saltner wieder mit Zeichnen beſchäftigt fand.
„Wenn ich mit meinen Muſtern glücklich nach Deutſchland zurückkomme“, rief er vergnügt, „ſo bin ich ein gemachter Mann. ‚Martiſch‘ muß Mode werden. Ich gründe einen Bazar für Marswaren. Schade nur, daß wir die Rohſtoffe nicht haben werden. Was iſt das zum Beiſpiel für ein wunderbares Gewebe, aus dem Ihr Schleier beſteht? Die Stickerei darin bildet lauter funkelnde Sterne, die ſich nirgends untereinander berühren; nirgends iſt ein Grund ſichtbar, der ſie zuſammenhält. Es ſcheint, als ſchwebe eine Wolke von Funken um Sie her.“
„Das tut ſie auch“, ſagte Se lachend, „aber ſie brennt nicht, fühlen Sie getroſt! Kommen Sie gefälligſt hierher, denn über den Strich gehe ich nicht.“
Se hatte ſich, mit einer chemiſchen Handarbeit beſchäftigt, auf einem der niedrigen Diwane, wie die Martier ſie lieben, niedergelaſſen, während Saltner an ſeinem eigenhändig hergerichteten Pult ſich befand. Er legte den Zeichenſtift fort und trat an Se heran, die ſich mit ihrem Diwan bis dicht an die Schwerkraftgrenze gerückt hatte.
„Geben Sie Ihre Hände her“, ſagte Se.
Sie nahm ein Ende des langen Schleiers und band damit Saltners Hände zuſammen. Man konnte keinerlei Stoff erkennen. Es ſah auch jetzt aus, als wenn ein Strom vom lichten Funken um ſeine Hände ſtöbe.
„Fühlen Sie etwas?“ fragte Se.
„Jetzt, nachdem Sie Ihre Finger fortgenommen haben, nichts. Kann man denn den Stoff überhaupt nicht fühlen?“
„Wenigſtens nicht mit der groben Haut von euch Menſchen.“
Saltner führte die zuſammengebundenen Hände mit dem Schleier an ſeine Lippen.
„Doch“, ſagte er, „mit den Lippen fühle ich, daß etwas zwiſchen meiner Hand und meinem Mund iſt.“
„Nun ſtrengen Sie einmal Ihre Rieſenkräfte an, und reißen Sie die Hände voneinander.“
„Oh, das wäre ſchade um den Funkenſchleier.“
„Verſuchen Sie es nur.“
Saltner zerrte ſeine Hände auseinander, aber je heftiger er zog, um ſo enger ſchloß ſich der Knoten, und er merkte jetzt, wie ſich die kleinen Sternchen in ſeine Haut eingruben.
„Ja“, ſagte Se, „der Stoff iſt unzerreißbar, wenigſtens kann er koloſſale Laſten halten. Dieſe unſichtbar feinen Fäden, von denen jeder wohl einen Zentner tragen kann, ſind für viele unſerer Apparate ein unentbehrlicher Beſtandteil. Jetzt ſind Sie alſo gefeſſelt und können ohne meine Erlaubnis nicht mehr fort.“
„Um die bitte ich auch gar nicht, ich finde es reizend hier“, ſagte Saltner und beugte ſich über die Lehne des Diwans, auf welche er die gebundenen Hände ſtützte.
Se faßte ſeinen Kopf zwiſchen ihre Hände und bog ihn zu ſich nieder, während ſie ihm in die Augen ſah, als wollte ſie ſeine Gedanken ergründen.
„Seid ihr eigentlich dumm, ihr Menſchen?“ fragte ſie plötzlich.
„Nicht ſo ganz“, ſagte Saltner, indem er ſich noch tiefer herabbeugte.
„Der Strich!“ rief Se lachend und ſchob ſeinen Kopf leicht zurück. „Geben Sie die Hände her.“
Sie löſte im Augenblick den Knoten und ergriff wieder die gläſernen Stäbchen, mit denen ſie in einem Gefäß auf beſondere Weiſe hantierte.
„Sie haben mir noch immer nicht geſagt“, ſprach Saltner, nach ſeinem Pult zurückgehend, „was für ein Stoff das iſt, auf dem die Stickerei ſitzt.“
„Eine Stickerei iſt es überhaupt nicht, ſondern es ſind Dela — wie heißt das? Aus Muſcheln, kleine Kriſtalle, die ſich darin bilden.“
„Alſo etwas Ähnliches wie unſere Perlen —“
„Aber ſie leuchten von ſelbſt. Und der Stoff iſt Lis.“
„Lis? Da bin ich ebenſo klug.“
„Lis iſt eine Spinne, ſie webt ein faſt unſichtbares Netz.“
„Und wie findet man das auf? Wie webt man die Fäden?“
„Im polariſierten Licht, ſehr einfach, und mit beſonderen Maſchinen. Und die Dela ſind nicht daraufgeſetzt, ſondern ſie liegen in Schlingen zwiſchen dünnen Schichten des Gewebes.“
„Sie nannten die Dela Kriſtalle — wie iſt es denn möglich, daß ſie dieſes Eigenlicht dauernd ausſenden, ähnlich wie unſre Glühwürmchen?“
„Sie müſſen natürlich von Zeit zu Zeit ins Strahlbad, dann leuchten ſie wieder ein paar Tage.“
„Ins Strahlbad?“
„Nun ja, ſie werden einer ſtarken, künſtlichen Beſtrahlung ausgeſetzt. Das Licht trennt einen Teil der chemiſchen Stoffe der Kriſtalle voneinander, und indem dieſe ſich nachher langſam wieder vereinigen, entſteht das Selbſtleuchten.“
„Alſo was wir Phosphoreszenz nennen. Und was haben Sie dort für eine Handarbeit?“
Se antwortete nicht ſogleich. Sie ſtellte gerade eine Kopfrechnung an, die ſich auf ihre Arbeit bezog, und betrachtete dabei den Sekundenzeiger der Zimmeruhr.
Da klang die Klappe des Fernſprechers, und gleich darauf vernahm man die Stimme von La. Sie fragte an, ob die ‚Menſchen‘ für einige Herren der Inſel zu ſprechen ſeien.
„Es wird mir ſehr angenehm ſein, die Herren zu ſehen“, ſagte Saltner. „Mein Freund iſt augenblicklich nicht anweſend, aber ich werde ihn ſogleich rufen.“ —