Hil war mit dem Zuſtand ſeiner Patienten ſehr zufrieden. Mit großem Intereſſe betrachtete er ihre Effekten. Sichtliches Erſtaunen aber malte ſich auf ſeinen Zügen, als ihm Grunthe den kleinen deutſch-martiſchen Sprachführer überreichte. Er blätterte eifrig darin, und indem er auf einzelne Zeichen der martiſchen Schrift zeigte und ſich das danebenſtehende deutſche Wort nennen ließ, gelang es ihm bald, einige Fragen zu ſtellen, die Grunthe durch das umgekehrte Verfahren beantwortete. Da es ihm ſelbſt an Zeit gebrach, den gegenſeitigem Sprachunterricht ſofort eingehend aufzunehmen, fragte er Grunthe mit Hilfe des Grönländiſchen, ob er nicht mit La, die ſich gern mit Sprachſtudien beſchäftigte, martiſch ſprechen wolle, um recht bald zu einem gegenſeitigen Verſtändnis zu kommen. Grunthe war dies ſehr unangenehm. Er war recht froh, daß ſich keine von ſeinen Pflegerinnen hier bei ihm ſehen ließ, und er wandte ſich daher an Saltner mit dem Vorſchlag, ihn in dieſer Hinſicht zu vertreten. Obgleich dieſer die Sprache der Eskimos nicht als verbindendes Hilfsmittel benutzen konnte, glaubte er doch, mit Hilfe des Ellſchen Sprachführers auszukommen und erklärte ſich gern zu allen Dienſten bereit.
Hil nahm den Sprachführer mit ſich und geleitete Saltner in den anſtoßenden großen Salon der Martier. Hier ſtellte er ihn einer Anzahl der dort verſammelten Martier vor, unter denen ſich der Leiter der Station Ra mit ſeiner Frau ſowie neben einigen andern Martierinnen auch Se und La befanden.
Saltner wußte nicht, wo er ſeine Augen zuerſt hinwenden ſollte. Faſt alles, was er ſah, war ihm fremd, am meiſten aber überraſchten ihn die Geſtalten der Martier ſelbſt. Es war ihm nur lieb, daß er ſich aus Mangel an Sprachkenntniſſen in Schweigen hüllen und ſich mit dem Sehen begnügen konnte. Hil nannte ihm die Namen der einzelnen, die ihn mit ihren martiſchen Handbewegungen begrüßten, was Saltner mit europäiſchen Verbeugungen erwiderte. Nur fielen dieſelben leider etwas ſteif aus, da er infolge der verminderten Schwere ſehr vorſichtig ſein mußte. Er ſah wohl an den Geſichtern derjenigen Martier, welche in ihm zum erſten Mal einen Europäer erblickten, wie ſie ſich Mühe gaben, ihre Beluſtigung über ſeine Ungeſchicklichkeit zu verbergen. Es war ihm daher ſehr angenehm, als ſich die Mehrzahl der Anweſenden zurückzog.
Gleich bei ſeinem Eintritt war ihm neben der reizenden Se die Geſtalt Las aufgefallen, und als er bei der Nennung der Namen erkannte, daß dieſes wunderbare Weſen ſeine Sprachlehrerin ſein ſollte, heftete er ſeine Blicke erwartungsvoll auf ihre Züge. Aber in ihren großen Augen war keine Spur von Spott zu bemerken, ſie begrüßte ihn mit ruhiger Liebenswürdigkeit, und ein Lächeln, das ſie mit Se tauſchte, ſagte dieſer, daß ihr dieſer Bat beſſer gefiel als der andere. Saltner war überzeugt, daß er rieſenſchnelle Fortſchritte im Martiſchen machen würde, wenn ihm die Anerkennung aus ſolchen Augen als Lohn winke. Er wußte nur nicht recht, wie die Sache zu beginnen ſei, da keines der beiden die Sprache des andern kannte. La holte einige Bücher aus der Bibliothek, darunter den ihm ſchon bekannten Atlas, der ihm zur erſten Verſtändigung mit Se gedient hatte. Sie ſtreckte ſich dann in ihrer Lieblingsſtellung auf den Diwan und winkte Saltner, ſich dicht an ihrer Seite niederzulaſſen. Sie begann zunächſt einige Gegenſtände zu bezeichnen, die ſich unmittelbar der Anſchauung darboten, und ſich die Benennung martiſch und deutſch wiederholen zu laſſen; dann verfuhr ſie ebenſo mit verſchiedenen Abbildungen in den Büchern. Aber ſo ging die Sache zu langſam. Sie griff zu dem Sprachführer, den Se in der Hand hielt. Se hatte bis jetzt in dem Büchlein geblättert und eine Anzahl von deutſchen Worten auf einem Streifen durchſichtigen Papiers einfach dadurch nachgebildet, daß ſie das Papier einen Augenblick auf das betreffende gedruckte Wort legte und andrückte. Das Papier war lichtempfindlich und gehörte zu einem kleinen Taſchenſchnellphotograph, den man als Notizbuch bei ſich zu führen pflegte. Saltner las: „Schüler fleißig. Lehrer ſtreng. Fernhörer. Alles hören.“
Als er wieder aufblickte, ſah er, daß Se ſchelmiſch lachte. Sie machte ſich dann noch an dem Apparatentiſch zu ſchaffen und entfernte ſich mit freundlichen Winken: „Das iſt recht“, ſagte La, „ſie hat den Phonograph aufgezogen. Danach können wir dann unſer Penſum gut repetieren.“
Darauf nahm La den Sprachführer vor und ging mit Saltner die Redensarten und kleinen Geſpräche durch, welche dort in beiden Sprachen angegeben waren. Er las ſie deutſch, ſie martiſch, und beide lachten dazwiſchen herzlich, wenn ſie ihre Ausſprache zu verbeſſern ſuchten oder komiſche Mißverſtändniſſe zutage kamen. Saltner mußte La dicht über die Schulter blicken, um im Buch zu leſen. Es ließ ſich nicht vermeiden, daß ſein Blick nach der wunderbaren Farbe ihres Haares und den weichen Formen des Nackens abirrte und die Worte manchmal zerſtreut herauskamen. Ein ſeltſamer Wärmeſtrom ging von ihrem Körper aus, und dies war nicht bloß ein Spiel ſeiner Phantaſie; er erfuhr ſpäter, daß die Martier in der Tat eine höhere Blutwärme beſitzen als die Menſchen. Er merkte, daß ſich ſeine Sinne verwirrten. Und auch dies hatte ſeinen Grund nicht nur in ſeinen Gefühlen, ſondern war eine Wirkung der geringen Schwere, an die ſeine Konſtitution noch nicht gewöhnt war. Das Blut wurde ihm ſtärker zu Kopfe getrieben.
La erkannte dies bald. Sie gab ihm das Buch zu halten, lehnte ſich zurück und ſtellte das abariſche Feld ab. Alsbald fühlte ſich Saltner wieder wohler, und die Studien nahmen mit erneuter Kraft ihren Fortgang. So vergingen ſchnell einige Stunden. Und auf einmal ſtellte ſich heraus, daß die Lehrerin viel mehr deutſch gelernt hatte als der Schüler martiſch. Nicht weniger als Saltner hatte Grunthe dabei gelernt, der den Sprechübungen durch den Fernhörer zugehört hatte. Er fragte an, ob er jetzt vielleicht das Buch auf einige Zeit erhalten könnte.
La ſtellte die Schwere ab, um ſich wieder frei bewegen zu können.
„Oh, wie zerſtreut bin ich doch!“ rief ſie aus. „Wir brauchten uns doch nicht mit dem einen Exemplare zu quälen! Wenn Sie mir das Buch noch eine halbe Stunde erlauben“ — wandte ſie ſich durch den Fernſprecher an Grunthe —, „ſo werde ich es ſofort vervielfältigen laſſen.“
Sie ſchrieb einige Worte auf ein Stückchen Papier, legte dies in das Buch und packte das Ganze in einen Umſchlag. Dann warf ſie das kleine Paket in einen an der Wand befindlichen Kaſten.
Saltner ſah ihr verwundert zu.
„Das iſt die pneumatiſche Poſt nach der Werkſtatt“, ſagte La erklärend. „Es wird nicht lange dauern, ſo bekommen wir die Kopien des Buches, aber nicht in Ihrem ungeſchickten Format, ſondern in unſerer hübſchen Tafelform.“ Sie erläuterte das Geſagte durch verſchiedene Handbewegungen.
„Und wer beſorgt denn dies?“ fragte Saltner.
„Wer von den Technikern gerade an der Reihe für den Tag iſt. Die Arbeitszeit wechſelt in geregelter Ablöſung. Jeder hat ſeinen beſonderen Tätigkeitskreis. Ich zum Beiſpiel muß mich mit der Erlernung der ſchrecklichen Menſchenſprachen quälen. Haben Sie mich verſtanden?“
Da Saltner noch ein ziemlich fragendes Geſicht machte, wiederholte ſie die Antwort noch einmal, zu ſeiner Verwunderung in zwar etwas ſeltſamem, aber doch verſtehbarem Deutſch.
„Sie ſprechen ja deutſch, La La!“ rief er aus.
„Sie haben nicht aufgepaßt“, ſagte ſie lachend. „Die Worte ſind ja alle heute in unſerm Penſum vorgekommen. Wir wollen es repetieren.“ Sie ging an den Tiſch und drückte auf den Knopf des Grammophons.
Man hörte ſogleich die Worte wieder, die La zu Se bei ihrer Verabſchiedung geſprochen hatte. La zog ſich nun auf ihren Diwan zurück, ſtellte die Abarie ab und winkte Saltner, ſich zu ſetzen.
Es war ihm ganz ſeltſam zumute, als er ſo ſeine eigene Stimme, jedes Wort mit der eigenen Betonung, jeden Sprachfehler — dazwiſchen das tiefe, halblaute Organ Las und ihr leiſes Lachen — wieder vernahm. Die ſchräg einfallenden Sonnenſtrahlen rückten bis an Las Ruheſtätte und entzündeten ein ſeltſames Farbenſpiel zwiſchen den loſen Wellen ihres Haares, ſie ſpielten als ein Meer von Funken auf den glitzernden Fäden ihres Schleiers, die ſich bei ihren Atemzügen leiſe hoben und ſenkten. War er noch er ſelbſt, oder war er in ein fernes Geiſterreich entrückt und mußte er nun ſein eigenes Leben an ſich vorüberziehen laſſen?
„Nicht träumen“, ſagte La halblaut, „aufpaſſen.“
Nun hörte er wieder auf die Worte ihrem Sprachſinn nach, er repetierte.
Da klapperte es an dem Poſtkaſten.
„Da ſind unſere Bücher“, ſagte La. „Stellen Sie, bitte, das Grammophon ab, und öffnen Sie den Kaſten.“
Saltner vollzog den Auftrag. Er enthob dem Kaſten ein Paket, das die Kopien des Sprachführers enthielt. La nahm das Original heraus und gab es Saltner.
„Hier“, ſagte ſie, „bringen Sie dies Ihrem Freund zurück, mit beſtem Dank. Und wenn es Ihnen recht iſt, arbeiten wir am Nachmittag noch einmal.“
„Verfügen Sie vollſtändig über mich“, ſagte Saltner mit einem bewundernden Blick. Eine vornehme Handbewegung verabſchiedete ihn.
Die Sprachſtudien fanden am Nachmittag eine unerwartete Unterbrechung.
Eben wollte Saltner, der mit Grunthe zuſammen geſpeiſt hatte, ſich wieder in den Salon begeben, als Ra bei ihnen eintrat, um ihnen eine Mitteilung zu machen, die beide Forſcher aufs Lebhafteſte erregte.
Die Martier hatten auf ihren Jagdbooten das Binnenmeer und ſeine Ufer noch weiter nach Spuren der Expedition abgeſucht. In einem der Fjorde, welche ſich ungefähr in der Richtung des 70. Meridians weſtlicher Länge von Greenwich verzweigten, am Fuß eines unmittelbar in das Waſſer abfallenden Gletſchers, hatte man den bisher vermißten Fallſchirm der Expedition gefunden, zwiſchen losgebrochenen Eisſchollen treibend. Derſelbe mußte ſo nahe am Ufer niedergefallen ſein, daß es wohl denkbar war, ein an demſelben hängender Menſch hätte ſich auf den Gletſcher retten können. Die Martier hatten das Land ſelbſt nicht betreten können; ohne beſondere maſchinelle Vorrichtungen war ihnen dies überhaupt nicht möglich.
Saltner ſprang auf und bat dringend, ihn ſofort an Ort und Stelle zu bringen. Hier war eine Möglichkeit gegeben, daß Torm doch noch am Leben und zu retten ſei. Daß der Fallſchirm in ſo weiter Entfernung vom Ballon gefunden war, und zwar an einer Stelle, über die der Ballon nicht geflogen ſein konnte, ließ ſich nur dadurch erklären, daß Torm den Schirm vom Ballon getrennt hatte. Dann konnte die in den unteren Luftſchichten herrſchende Windſtrömung den langſam fallenden Schirm ſehr wohl bis dorthin getrieben haben. Aber ob ſich Torm an dem Schirm befunden hatte? Vermutlich hatte er ſich mit demſelben niedergelaſſen; aus welchen Gründen ließ ſich nur unſicher vermuten. Vielleicht hatte er den Ballon dadurch zu retten gedacht, daß er ihn um ſich ſelbſt erleichterte; vielleicht auch hatte er die Gefährten für erſtickt gehalten und für ſich ſelbſt ein letztes Rettungsmittel verſucht, ehe der Ballon wieder über das Meer hinaustrieb. Jedenfalls mußte man alles daranſetzen, etwaige Spuren von Torm aufzufinden.
Ra ſtellte Saltner bereitwillig ein Boot und Mannſchaft zur Verfügung, ſagte aber ſogleich, daß die Martier zu einer Unterſuchung des Gletſchers ſelbſt ſehr wenig geeignet ſeien. Sie würden jedoch für einige Apparate ſorgen, die zum Transport etwaiger Laſten oder auch von Perſonen mit Vorteil benutzt werden könnten. Insbeſondere aber ſchlüge er ihm vor, die beiden Eskimos, welche ſich auf der Station aufhielten, Vater und Sohn, mitzunehmen. Sie leiſteten den Martiern gute Dienſte bei Arbeiten und Transporten im Freien, bei denen es menſchlicher Muskelkraft bedürfe, und könnten ihn gewiß bei einer etwaigen Beſteigung des Gletſchers unterſtützen.
Nach einer halben Stunde war das Boot bereit. Da Saltner ſich nicht auf die ihm unbekannten Apparate der Martier verlaſſen wollte, hatte er ſich mit ſeinem eigenen Seil und ſeinem getreuen, glücklich geretteten Eispickel verſehen, die ihn ſchon bei ſo mancher ſchwierigen Klettertour in den Gebirgen ſeiner Heimat begleitet hatten.
Saltner war nicht wenig erſtaunt, als er in dem langen, elegant gebauten Boot neun rieſige Kugeln von etwa einem Meter Durchmeſſer erblickte, die Kopfhüllen der Martier, die ihnen direkt auf den Schultern ſaßen. Sie ſahen dadurch wie ſeltſame Karikaturen aus. Der Führer des Bootes ſtand am Land und begrüßte Saltner, worauf er ſich mühſam an Bord begab und nun ebenfalls ſeinen Kugelhelm aufſetzte. Die beiden Eskimos befanden ſich ſchon im Boot und löſten das Seil, ſobald der Führer eingeſtiegen war. Sie verſtanden nicht recht ſeine Handbewegung, und das Boot begann von der Landeſtelle abzutreiben, gerade als Saltner ſeinen Fuß auf den Rand desſelben ſetzte. Die Martier, welche glaubten, er müſſe unfehlbar ins Waſſer ſtürzen, winkten lebhaft mit ihren Armen, während er ſelbſt ſich mit einem leichten Schwunge vom Ufer abſtieß und gewandt in das Boot ſprang. Für einen geſchickten Turner war dies eine Kleinigkeit, erregte aber bei den Martiern offenbare Anerkennung. Unter dem Einfluß der Erdſchwere wäre dieſe Leiſtung keinem von ihnen möglich geweſen.
Kaum hatte Saltner einige Schritte getan, indem er ſich nach einem paſſenden Platz umſah, als einer der Martier ſeine große Kugel von der Schulter nahm und an ihrer Stelle der anmutige Kopf Las zum Vorſchein kam. Sie ſah ihn mit ihren großen Augen heiter an und nickte ihm freundlich zu.
„Wie kommt es, daß Sie hier ſind, La La?“ ſagte Saltner, in ſeiner Überraſchung deutſch ſprechend. „Sie ſcheuen doch die Schwere draußen. Dieſe Fahrt iſt gewiß ſehr anſtrengend für Sie?“
„Ganz richtig“, antwortete La ebenfalls deutſch, „ich tue es nicht zum Vergnügen. Ich bin im Dienſt. Wie wollen Sie verſtehen dieſe Nume? Wie wollen Sie verſtehen dieſe Kalalek? Ich bin als Dolmetſcher hier“, fügte ſie auf martiſch hinzu.
„Das iſt wahr, an dieſe Schwierigkeit habe ich gar nicht gedacht. Aber wie leid tut es mir, daß Sie ſich ſo bemühen müſſen. Freilich, was könnte ich mir Beſſeres wünſchen — doch wollen Sie nicht Ihren Helm wieder aufſetzen?“ La ſchüttelte den Kopf. Aber ſie ſchlug hinter ihrem Platz eine Lehne mit weichem Polſter in die Höhe und ſtützte dort ihr Haupt auf. So lehnte ſie ſich zurück und ließ ihre Augen prüfend über das Boot und die ganze Umgebung wandern.
Mit großer Geſchwindigkeit durchſchnitt das Boot die leiſe bewegten Wellen der Bucht und hatte in etwa zehn Minuten die Stelle erreicht, an welcher ſich mehrere Kanäle von verſchiedener Breite verzweigten. Jetzt mußte langſam und vorſichtig gefahren werden, denn ein Gewirr von Felsblöcken und Eisbergen oder Schollen erſtreckte ſich am Stirnende des Gletſchers entlang und verengte das Fahrwaſſer. Die Martier hatten den Platz bezeichnet, an welchem ſie den Fallſchirm gefunden hatten, und Saltner ſpähte nach einer geeigneten Stelle aus, wo man den Gletſcher erklimmen könnte. Er ſchlug ſeinen Eispickel in eine Scholle und ſprang auf dieſelbe hinüber, kam wieder zurück und ließ das Boot weiterfahren. Es ſchien ſich von ſelbſt zu verſtehen, daß er hier kommandierte.
La ließ ihre Augen mit Wohlgefallen auf ſeinen entſchiedenen Bewegungen ruhen. Dieſer Bat, über den ſie als Martierin ſich ſo weit erhaben fühlte, war ihr bisher nur ſeltſam vorgekommen. Aber hier, in ſeinem Element als gewandter Kletterer, machte er ihr doch einen viel vorteilhafteren Eindruck. Gegenüber den unbeweglichen Kugeln, die ihre Landsleute auf den Schultern trugen, gegenüber den grauen, ſtumpfen Geſichtern der Eskimos mit ihren vorſtehenden Backenknochen bot ſein ausdrucksvoller Kopf, ſeine freie Haltung und kräftige Kühnheit ein Bild, das ſie gern betrachtete.
Der Gletſcher fiel an den meiſten Stellen mit einem ſenkrechten Abbruch von zehn bis fünfzehn Metern Höhe in die See ab. Endlich hatte Saltner eine Stelle gefunden, an welcher ihm der Aufſtieg möglich ſchien. Gewandt ſchlug er Stufe auf Stufe in das ziemlich weiche Eis und kletterte, von den Augen der Martier unter Spannung verfolgt, die Eiswand hinauf. Dann warf er das Seil hinab, und die beiden Eskimos folgten ihm an demſelben. Bald waren die drei für die Inſaſſen des Bootes hinter dem Rand des Eiſes verſchwunden.
Längere Zeit war nichts von den Kletterern zu vernehmen, und La begann ſchon ungeduldig nach der Höhe zu blicken. Da erſchien Saltner etwa hundert Meter weiter am Rand des Abſturzes und winkte dem Boot, ſich dorthin zu begeben. Als dies geſchehen war, rief er hinunter:
„Ich habe Spuren gefunden. Wird es möglich ſein, einige Leute hier heraufzubringen?“
La überſetzte, und der Führer des Bootes ließ antworten, daß dies ſehr leicht ſei, wenn es Saltner gelänge, mit ſeinem Seil die Rolle des Aufzuges, den die Martier mit ſich führten, hinaufzuziehen und oben zu befeſtigen.
Dies geſchah nach Wunſch. Alsbald hatten die Martier einen bequemen Aufzug eingerichtet, den ſie mit den Akkumulatoren ihres Bootes betrieben.
Nicht weit von der Stelle, an welcher die Martier ihren Aufzug angebracht hatten, ſtieß eine Seitenſchlucht in das Haupttal, und hier zog ſich ein Streifen von Felstrümmern und Moränenſchutt, von Flechten überkleidet, auf dem ganz allmählich anſteigenden Gletſcher in die Höhe. Auf dieſem Streifen konnte man, ohne ſich der unſicheren Oberfläche des Gletſchers anzuvertrauen, gut ins Innere des feſten Landes gelangen. Saltner hatte nun in dieſer Richtung einen Gegenſtand zwiſchen dem Geröll bemerkt, der zwar der weiten Entfernung wegen nicht deutlich erkennbar war, aber jedenfalls unterſucht werden mußte, da er von Menſchen herzurühren ſchien, wenn es nicht gar der nur zum Teil ſichtbare Körper eines Menſchen war. Um jedoch das Geſtein zu erreichen, mußte man zunächſt eine tiefe und breite Spalte paſſieren; dieſe Spalte war an einer Stelle durch eine Schneebrücke überſpannt geweſen, die offenbar erſt vor kurzem zuſammengebrochen war. Gegenwärtig war es unmöglich, dieſelbe ohne künſtliche Hilfsmittel zu überſchreiten, und deshalb hatte Saltner die Martier heraufgerufen. Er ſagte ſich, es ſei ſehr wohl denkbar, daß Torm mit Hilfe des vom Fallſchirm abgelöſten Seiles auf den Gletſcher und von dort auf den Moränenſtreifen gelangt ſei. Mit großer Aufregung hatte er daher jenen dunklen Gegenſtand in der Ferne betrachtet.
Die Martier wanden nun aus ihrem Boot genügend lange Stangen empor, um die Spalten überbrücken zu können, und Saltner verrichtete mit den Eskimos die übrige Arbeit. Alsdann wanderte er über die Felstrümmer weiter, eine Kletterpartie, die übrigens ſchwieriger war und langſamer vor ſich ging, als er urſprünglich erwartet hatte.
La hatte ſich ebenfalls emporziehen laſſen. Auf ausgebreiteten Fellen ruhend ſah ſie den Arbeiten der Menſchen zu. Sie hatte noch niemals einen Gletſcher in der Nähe geſehen, geſchweige denn betreten. Auf dem Mars gab es ſolche Gebilde nicht; die Atmoſphäre war viel zu trocken, um dieſelben zu unterhalten. Mit Bewunderung blickte ſie in das Gewirr von Spalten, Trümmern und Zacken, die mit ihren grünlichen Schatten ſich von den rötlich im Sonnenſchein ſchimmernden Schneeflächen abhoben. Gar zu gern hätte ſie einen Blick in die unergründliche Eisſchlucht hineingetan, welche die Menſchen überbrückten, aber ſie ſcheute ſich, den mühſamen Gang zu zeigen, mit dem ſie ſich hätte hinſchleppen müſſen.
Jetzt waren die Menſchen fortgegangen; ſie konnten die ſeltſame Figur nicht mehr beobachten, die ſich langſam von den Fellen erhob, ihren Kugelhelm aufſetzte und auf zwei Stöcke geſtützt der Spalte zuſchlich. Der Weg war gar nicht ſo anſtrengend, wie La glaubte; ſie hatte ſich doch ſchon einigermaßen geübt, ihre Glieder unter dem Einfluß der Erdſchwere zu bewegen. So gelangte ſie an den angebrachten Steg und ließ ſich am Rand der Gletſcherſpalte nieder.
An die eine der hinübergelegten Stangen ſich haltend, beugte ſie vorſichtig den Kopf über den Abgrund. Dunkelgrün dämmerte die Tiefe, aus der das Rauſchen des Schmelzwaſſers dumpf herauftönte. Genau unter ihr ſtreckte ſich ein zackiger Grat ihr entgegen, der die Schlucht der Länge nach durchzog. Ein großer Felsblock war hinabgeſtürzt und auf dem Grat feſtgehalten worden. Er bildete eine Art Brücke da unten in der Tiefe. Daneben zeigte ein friſcher Spalt ſeine kriſtallklaren Eiswände. La konnte ſich an dem ungewohnten Schauſpiel nicht ſattſehen. Schwindel kannte ſie nicht. Sie war gewohnt, den Weltraum in ſeiner Unendlichkeit unter ihren Füßen zu erblicken, wenn das Raumſchiff die Leere des Sternenhimmels durcheilte. Aber ſie kannte auch nicht die Gefahren dieſes mürben, abbröckelnden Elements, auf deſſen überhängender Kante ſie ruhte. Um beſſer hinabzublicken, zog ſie ſich an der Stange weiter und ſtemmte ihre Füße gegen einen Vorſprung des Randes. Der Vorſprung brach. Zerſtiebend ſtürzte er in die Tiefe. Ihr Fuß verlor die Stütze. Sie wollte ſich wieder hinaufſchwingen, aber die Laſt war zu ſchwer für ihre Kräfte. Der unförmliche Helm hinderte ſie, ihren Oberkörper frei an dem Steg zu bewegen, an welchen ſie ſich geklammert hielt. Sie rief um Hilfe, doch die Stimme drang nur ſchwach unter dem Helm hervor. Eine erneute Anſtrengung brachte ihren Körper höher, aber nun glitt die Stange aus ihrer Lage, ihre Hände verloren den Halt — — La ſtürzte in den Abgrund.
Ihr Angſtſchrei verhallte zwiſchen den Eiswänden der Spalte. Aber der Helm, der ihren Abſturz verſchuldete, wurde vorläufig zu ihrem Retter. Sie fiel auf die Stelle, welche der auf dem Grat ruhende Felsblock verengte, und der elaſtiſche Helm hemmte den Sturz. Er war zertrümmert, aber ſie ſelbſt fühlte ſich unverletzt, ſie hatte das Bewußtſein nicht verloren. Mit den Armen ſich feſtklammernd, lag ſie auf dem Felſen, unter ſich die finſtere Tiefe, über ſich den ſchmalen Lichtſtreifen des Himmels, unfähig, ſich zu bewegen. Sie vermochte nichts zu ihrer Rettung zu tun, Minute auf Minute verrann. Wann würde man ſie bemerken? Konnte ſie gerettet werden? Sie war vollkommen ruhig. Das Bild der fernen Heimat ſtieg vor ihr auf. „Noch einmal möcht ich ihn ſehen, meinen ſchönen Nu“, ſo klang es in ihr, „aber wenn es nicht ſein ſoll, ſo füg ich mich Deinem Willen im Weltenplan.“
Da vernahm ſie Rufe über ſich. Ein Kugelhelm wurde ſichtbar. Die Martier hatten ihr Verſchwinden bemerkt, ſie ward geſehen. Man rief ihr zu, ſie möge Mut faſſen, man werde den Aufzug herbeiſchaffen. Sie wußte, daß darüber lange Zeit vergehen müſſe; die Martier konnten nur langſam arbeiten. Und ſie fühlte, wie die Kälte der Schlucht ihre Glieder erſtarren ließ.
Plötzlich hörte ſie oben erneute Rufe und ſchnelle Schritte. Eilende Geſtalten ſchwangen ſich über den Steg. La wußte, wer es war. Saltner war mit den beiden Eskimos zurückgekehrt. Kaum hatte er erkannt, was geſchehen war, als er ſich auch ſofort anſeilte und von ſeinen beiden Begleitern in den Spalt hinabſenken ließ. La ſah, wie ſeine Geſtalt näher und näher kam. Mit der einen Hand hielt er ſich von der Wand der Spalte ab. Und nun kniete er neben ihr auf dem Felsblock. Er löſte den Reſt ihres Helmes geſchickt von ihren Schultern; dumpf donnerte er in den Abgrund. Dann hob er ſie empor und ſagte beſorgte Worte, die ſie nur halb verſtand. Jetzt erſt erfaßte ſie der Schwindel, und das Bewußtſein drohte ſie zu verlaſſen. Aber ſie fühlte, daß Saltner ſie feſt umſchlang, und in dieſem Augenblick wußte ſie ſich geborgen. Jetzt rief er mit lauter Stimme in ſeiner Mutterſprache nach oben: „Ein zweites Seil!“
La lächelte, ihn dankbar anſehend, und ſagte leiſe: „Kalalek nicht verſtehen.“
„Doch, doch!“ erwiderte Saltner. Und wirklich, der jüngere der beiden Eskimos rief die deutſchen Worte hinab:
„Nicht hier. Warten. Nume kommen.“
La blickte ihn fragend an. Aber er antwortete nicht, er ſah, daß ſie fror.
„Werft die Decke herab!“ rief er.
Man ſchien ihn jetzt nicht zu verſtehen. „Was heißt auf grönländiſch Decke?“ fragte er.
„Kepik.“
„Kepik!“ rief er hinauf.
Eine wollene Decke wurde hinabgeworfen. Saltner ſchlug den Pickel feſt in die Wand und beugte ſich weit vor, um ſie aufzufangen. Es gelang. Er hüllte La hinein. Er zog ſeine Feldflaſche heraus, die er vorſorglich aus den geretteten Reiſevorräten mit Kognak gefüllt hatte. La wußte zwar damit nicht Beſcheid, aber er flößte ihr etwas von dem feurigen Getränk ein, das ihr ſehr wohltat.
Er berichtete kurz. Sein Ausflug war ohne entſcheidenden Erfolg geblieben. Der fragliche Gegenſtand war eine der im Ballon befindlichen Decken geweſen, dieſelbe, die La jetzt einhüllte. Aber ob ſie von Torm mitgenommen und dort zurückgelaſſen war oder ob ſie aus dem Ballon bei ſeinem Flug verloren und vom Wind hingetrieben worden war, ließ ſich nicht feſtſtellen; das letztere war ſogar das wahrſcheinlichere. Dabei hatte ſich überraſchenderweiſe herausgeſtellt, daß der Sohn des Eskimos einige Worte deutſch verſtand. Er war ein Jahr in Dienſten deutſcher Miſſionare auf Grönland geweſen und hatte einzelne Worte aufgefaßt, als Saltner mit La deutſch ſprach. Nur hatte er in Gegenwart der Martier nicht gewagt, dies zu erkennen zu geben.
Endlich erſchienen die Martier wieder am Rand der Spalte. Ein zweites Seil wurde herabgelaſſen. Saltner machte einen erträglichen Sitz zurecht, und indem er La ſtützte und mit dem Eispickel beide von der Wand fernhielt, wurden ſie glücklich an die Oberfläche befördert.
„Ich weiß, was ich Ihnen verdanke“, ſagte La.
Eine tiefe Erſchöpfung ergriff ſie, und ſie mußte bis an das Boot getragen werden.
Man trat ſofort die Heimfahrt an.